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Editorial | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial Vom Reich zur Republik: die "kemalistische Revolution" Ideologische Grundlagen und Verfassungsrahmen Die politische Praxis: Institutionen und Verfahren Wirtschaft und Gesellschaft Zwischen Tradition und Neuorientierung: die Außenpolitik Herausforderungen im 21. Jahrhundert Zeittafel: Republik Türkei (1918-2011) Karten Literaturhinweise und Internetadressen Autor, Impressum und Anforderungen

Editorial

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Jutta Klaeren

In den fast 90 Jahren seit ihrer Gründung im Jahre 1923 hat die Republik Türkei, die Türkiye Cumhuriyeti, einen Modernisierungsprozess durchlaufen, der ihre Gesellschaft, Wirtschaft und Politik grundlegend verändert hat. Angestoßen wurde der Prozess von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der nahezu vollständig mit den osmanischen Traditionen brach und die Republik nach dem Vorbild der "modernen" europäischen Staaten gestaltete. Seine Reformen wurden getragen von einer Elite aus Vertretern des Staatsapparates, des Militärs und Angehörigen der säkularen Bildungsschichten. Diese Elite dominierte lange den Staat und verteidigt die kemalistischen Prinzipien bis heute.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung blieb dagegen weiterhin den Traditionen verbunden, zu denen vor allem die Zugehörigkeit zum Islam zählt. Ihre Interessen sehen viele durch die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung", kurz AKP, vertreten. Diese im politischen Islam wurzelnde Partei sieht sich als wertkonservativ und wirtschaftsliberal im Sinne einer "konservativen Demokratie". Seit 2002 beherrscht die AKP die Parteienlandschaft und gewann im Juni 2011 zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahlen. Sie hat in ihrer bisherigen Regierungszeit die staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung vorangetrieben und die politische Integration neuer Eliten befördert. Gleichzeitig bewirkte sie eine Verstärkung, manche würden auch sagen Verschärfung, der innergesellschaftlichen Debatten.

Insbesondere die traditionelle kemalistische Auffassung von Nation und laizistischem Staat wird intensiv diskutiert. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung sieht sich als Teil einer einheitlichen, ethnisch geprägten türkisch-muslimischen Nation, in der Minderheiten wie die Kurden, die Griechisch-Orthodoxen oder die Aleviten um Anerkennung ringen. In den vergangenen Jahren hat es im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen vonseiten der AKP-Regierung Zugeständnisse gegeben, aber ein tragfähiger gesellschaftlicher Kompromiss steht noch aus. Auch in der Frage, welche Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben zukommen sollte, ist die Gesellschaft gespalten. Während die Kemalisten Religion als strikte Privatangelegenheit betrachten und ihr keinen Einfluss auf Politik und Gesellschaft einräumen wollen, sprechen sich andere dafür aus, der Religion im öffentlichen Raum mehr Platz zu geben.

Seit 1923 hat sich die Türkei von einer stark agrarisch geprägten Volkswirtschaft zu einem industriellen Schwellenland gewandelt. Im Jahr 2010 nahm sie Rang 17 auf der Liste der stärksten Volkswirtschaften weltweit ein. Sie ist zudem Mitglied der G-20, der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Verbunden war und ist diese wirtschaftliche Entwicklung mit einer Abwanderung der Bevölkerung in die Städte: Lebten bis in die 1950er-Jahre noch rund 70 Prozent der Menschen auf dem Land, so hat sich das Verhältnis heute umgekehrt. Die Türkei ist zu einem interessanten Wirtschaftsstandort geworden, der auch immer mehr Türkeistämmige Deutsche anzieht. Allerdings sind die regionalen Ungleichgewichte und die Unterschiede in der Einkommensverteilung weiterhin sehr groß.

Auch außenpolitisch orientiert sich die Türkei neu. Waren zu Atatürks Zeiten noch Europa und die USA bevorzugte Partner, so intensiviert die Regierung in Ankara inzwischen ihre Kontakte unter anderem mit dem Nahen Osten, mit Russland, mit den zentralasiatischen Staaten und mit Fernost. Für viele Menschen in den Ländern des "Arabischen Frühlings" ist sie zum Vorbild geworden.

Tatsächlich hat die fortschreitende Modernisierung zu einer "gesellschaftlichen und ideologischen Pluralisierung und Demokratisierung" (Heinz Kramer) geführt, in der zivilgesellschaftliche Bewegungen an Einfluss gewinnen, das Militär politisch an Bedeutung verliert und neue Eliten aus der Mitte der Gesellschaft entstehen. Doch vollzieht sich dies nicht gleichmäßig und nicht ohne Konflikte und Rückschläge. Vorerst bleiben Fragen offen: "Wie europäisch ist die Türkei?", "Welche Rolle spielt die Religion?", "Wie viel politischer Liberalismus und gesellschaftliche Pluralität sind mit den türkischen Traditionen vereinbar?", "Ist die Türkei noch im Westen verankert oder orientiert sie sich zur islamischen Welt hin?" Auf diese Fragen, die auch in der türkischen Öffentlichkeit häufig und kontrovers diskutiert werden, versucht der Autor dieses Heftes eine Antwort zu geben.

Jutta Klaeren