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Anfänge des modernen Fußballs

Franz-Josef Brüggemeier

/ 14 Minuten zu lesen

Einleitung

Aussagen zu den Anfängen des Fußballs bewegen sich auf schwierigem Terrain. Varianten finden sich in vielen Kulturen, sei es bei den Azteken, in Japan und Südostasien, in China und gleich mehrfach in Europa. Vor allem in Italien und England sind vergleichbare Ballspiele bereits im Mittelalter nachweisbar. Im Unterschied zu ihnen kennt der moderne Fußball klare Vorschriften. Die Größe des Spielfeldes, die Spieldauer und die Zahl der Spieler sind festgelegt; alle müssen sich an verbindliche Regeln halten und die Entscheidungen des Schiedsrichters akzeptieren. Auf den ersten Blick erscheinen diese Vorschriften wie ein Korsett, das unnötige Zwänge schafft und dem freien Spiel keinen Raum lässt. Tatsächlich jedoch haben erst diese vermeintlichen Zwänge eine Mischung von Individualität, Mannschaftsgeist und freier Entfaltung der Beteiligten ermöglicht, die den modernen Fußball kennzeichnet. Bei seinen europäischen Vorläufern dagegen handelte es sich um raue Varianten, an denen nahezu beliebig viele Personen teilnehmen konnten, die auf nicht näher markierten Flächen - teilweise handelte es sich um ganze Stadtteile oder Dörfer - um einen Ball kämpften, sich allenfalls an elementare Regeln hielten und oft recht gewaltsam aufeinander losgingen. An einzelnen Orten, wie beispielsweise Florenz, leben diese Formen fort, mittlerweile aber weitgehend zur Unterhaltung von Touristen.

Vorreiter Großbritannien

In England wurde der traditionelle Fußball wegen seiner Exzesse mehrfach verboten, geriet zunehmend in Verruf und verlor an Bedeutung - um Anfang des 19. Jahrhunderts an einigen der bis heute berühmten Internatsschulen eine unerwartete Wiederauferstehung zu feiern. Dort mussten die Schulleiter mit Disziplinproblemen kämpfen und wollten zugleich den (männlichen) Kindern der aufstrebenden Mittelschichten, die an diesen Eliteschulen ihren Nachwuchs erziehen ließen, neue Werte vermitteln. Beide Ziele ließen sich durch den Fußball erreichen, denn er diente nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung und bot ein Ventil für Aggressionen, sondern ermöglichte es zudem, die Regeln des Fair Play einzuüben und Mannschaftsgeist zu entwickeln. Dabei blieben die Regeln anfangs vage und enthielten noch viele Elemente des heutigen Rugby.

Solange nur einzelne Internate, Kneipen oder Vereine Fußball (bzw. Rugby) spielten und die Mannschaften aus dem näheren Umkreis kamen, stellten die Beteiligten jeweils eigene Regeln auf. Als jedoch die Mannschaften zahlreicher wurden, mussten sie sich über einheitliche Regeln verständigen, um überhaupt Spiele austragen zu können. So fand im Oktober 1863 das erwähnte Treffen in London statt, bei dem verbindliche Regeln für den Fußball vereinbart und zugleich dessen Trennung vom Rugby festgeschrieben wurde - auch deshalb, weil immer mehr Spieler nicht länger Schüler oder Studenten waren, sondern einen Beruf ausübten und keine unnötigen Verletzungen riskieren wollten.

QuellentextGeburtsstunde des Fußballs

[...] Das moderne Fußballspiel entstand gar nicht auf dem grünen Rasen, sondern am grünen Tisch:
Am 23. Oktober 1863 fanden sich Vertreter von Fußballmannschaften der vornehmen Public Schools und der Universitäten Oxford und Cambridge im Freemasons' Tavern in London ein, um die höchst unterschiedlichen Spielregeln der einzelnen Bildungsinstitutionen zu vereinheitlichen. Sie wollten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ihre Mannschaften untereinander Matches austragen konnten[...]. Im Ergebnis dieses Gentlemen-Treffens erfolgte [...] nicht nur die Festlegung verbindlicher Spielregeln, sondern auch die Gründung einer Football Association (FA) [...]. Das war, so lässt sich argumentieren, die Geburtsstunde des modernen Fußballs, denn diese beiden Maßnahmen zusammen schufen die Voraussetzung für die erfolgreiche Institutionalisierung und zugleich Reproduzierung des Fußballspiels. Auch die konkrete Ausgestaltung der Spielregeln und des Spiels war zukunftweisend:
Erstens entschieden sich die Gründer bei ihren Beratungen gegen eine an der Rugby-Schule beliebte Spielweise mit einem eiförmigen Ball, bei der das Handspiel und das Treten des Gegners ("hacking") erlaubt waren, und verständigten sich auf eine andere Variante: jene mit einem kugelrunden Ball, den die Feldspieler nur mit den Füßen weitergeben durften. Diese Spielweise war weniger verletzungsträchtig und auch für Berufstätige geeignet. Sie ließ Raum für Kraft und Artistik, Kalkül und Spontaneität. Und da die Athleten bestimmte Rollen, etwa die des Stürmers, Verteidigers oder Tormanns, übernehmen mussten, konnten sich wie in einem Drama Individualität und Gemeinschaftsgeist, Egozentrik und Opfermut, Starallüren und Heldentum entfalten.
Zweitens beanspruchte die Football Association uneingeschränkte Autorität über ihr Spiel. Sie veranlasste nicht nur die Publikation der verabredeten Regeln, sondern traf durch die Lizenzierung von Schiedsrichtern und sonstigem Fachpersonal auch Vorkehrungen zu ihrer Durchsetzung. Diese Maßnahmen verhinderten Streitigkeiten unter den Athleten. Sie bewirkten zugleich, dass eine Grenze zwischen dem abstrakten Spiel und seiner konkreten Umwelt gezogen und Interventionen Außenstehender in das Wettkampfgeschehen abgewehrt wurden. So blieb das Fußballspiel auf sich selbst bezogen und konnte Eigenweltcharakter entfalten.
Drittens stimulierte die Football Association den Spielverkehr. Die entscheidenden Maßnahmen dazu waren die Organisierung eines Ligasystems bis hinunter auf die lokale Ebene und die Stiftung einer Trophäe, des seit 1871 ausgespielten "FA-Cup". Auf diese Weise konnten auch indirekte Leistungsvergleiche zwischen den Mannschaften gezogen werden. Zugleich wurden die Spiele, die für sich gesehen diskrete Ereignisse waren, in eine Kontinuität gebracht und bekamen eine "Geschichte" ("legendäre Matches", die "Ära" bestimmter Klubs, Spieler usw.). Fußball wurde so zu einem Element der "Kultur der Moderne", die sich nach einer gängigen Definition dadurch auszeichnet, dass sie das "Vorübergehende", "Zufällige" mit dem "Ewigen" zu verbinden vermag. Und: Aufgrund der Periodizität der Matches konnte das Fußballspiel die für seine weitere Entwicklung so wichtige Symbiose mit Presse und Kommerz eingehen.
Viertens verzichtete die Football Association auf die Festlegung sozialer Teilnahmekriterien. Im Unterschied zu den vergleichbaren Organisationen für Leichtathletik, Rudern und Schwimmen, die nur wenige Jahre später gegründet wurden, führte die für Fußball nicht einmal das Wort "Amateur" im Namen. Offenbar hatten die Gentlemen nicht vorhergesehen, dass das Spiel jemals etwas anderes als ein geselliges Vergnügen für ihresgleichen sein könnte. [...]

Christiane Eisenberg, Fußball als globales Phänomen. Historische Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte
B 26/2004 vom 21. Juni 2004, S. 7f.

Diese Sorge äußerten in Großbritannien gerade Arbeiter, unter denen sich der Fußball rasch verbreitete. Sie hatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen bedeutend höheren Lebensstandard als in jedem anderen europäischen Land erreicht, einen freien Samstagnachmittag durchgesetzt und verdienten genug, um sich die erforderliche Ausrüstung (Ball, Schuhe), Eintrittskarten und sogar die Anfahrt zu Spielen leisten zu können. So schnellten die Zahlen der Aktiven und besonders der Zuschauer in die Höhe und ließen einen eigenen Markt entstehen, der wiederum die Ausbreitung des Fußballs vorantrieb. Denn mit den Zuschauern wuchsen die Einnahmen, die Konkurrenz zwischen den Mannschaften nahm zu und damit das Interesse an guten Spielern, die zunehmend Geld erhielten. Einige konnten diesen Sport sogar als Beruf ausüben, dadurch besser trainieren und ihre Leistung steigern, was wiederum mehr Zuschauer anlockte und zu Bemühungen führte, die attraktiven Mannschaften häufiger gegeneinander antreten zu lassen. So entstanden Pokalwettbewerbe, darunter der bis heute bestehende FA-Cup, der 1871/72 erstmals ausgetragen wurde.

Überlagert wurden diese Entwicklungen von zunehmenden Konflikten zwischen bürgerlichen Klubs und Arbeitermannschaften. Anfangs dominierten die Spieler der oberen Schichten, die keine harte körperliche Arbeit verrichten mussten, mehr Zeit für den Sport aufbringen konnten und die besseren Mannschaften stellten. Doch mit der zunehmenden Kommerzialisierung änderte sich die Situation: 1883 trafen die Blackbourn Olympics, eine Arbeitermannschaft aus Lancaster, im Pokalfinale auf die Old Etonians, die aus einer der bis heute bestehenden Eliteschulen stammten. Die Mannschaft aus Blackbourn gewann dank guter Vorbereitung und finanzieller Unterstützung durch einen lokalen Unternehmer das Endspiel, das in den Folgejahren keine der bürgerlichen Amateurmannschaften mehr für sich entscheiden sollte. Deren Vertreter erwiesen sich als schlechte Verlierer, beklagten den zunehmenden Einfluss des Geldes und wollten den Einsatz von Profifußballern verbieten. Doch mittlerweile hatten die Vereine aus denIndustriegebieten großen Einfluss erlangt und zogen so viele Zuschauer an, dass sie mit der Errichtung eines eigenen Verbandes drohten und sich durchsetzten. Der Berufsfußball wurde 1885 zugelassen und kurz darauf wurde eine Liga gegründet, die 1888 den Spielbetrieb aufnahm. Dies beflügelte zusätzlich das Interesse an diesem Sport, sodass schon um 1900 bei wichtigen Spielen mehr als hunderttausend Zuschauer in die Stadien strömten.

Damit sind Entwicklungen beschrieben, die nicht auf Großbritannien beschränkt blieben. Sie waren vielmehr bald auch in den anderen Ländern anzutreffen, in denen sich seit Ende des 19. Jahrhunderts der Fußball nach englischem Vorbild ausbreitete, darunter auch in Deutschland. Ihre Kennzeichen waren:

  • eine anfängliche Dominanz der besseren Schichten, die über mehr Zeit und finanzielle Möglichkeiten verfügten und engen Kontakt zu Briten besaßen;

  • die allmähliche Übernahme des Fußballs durch Arbeiter, sobald deren Lebensstandard ein ausreichendes Niveau erreicht hatte;

  • eine schnell wachsende Popularität dieses Sports, eine zunehmende Kommerzialisierung und damit verbundene Konflikte zwischen Vertretern des Amateur- und Berufssports.

Entwicklungen in Deutschland

In Deutschland war damals das Turnen populär, bei dem (teils sehr große) Gruppen gemeinsame Übungen durchführten, die durch eine gewisse Disziplin und vielfach auch Drill geprägt waren. Die besondere Leistung Einzelner und deren Herausragen aus der Gruppe galten als störend und waren ebenso verpönt wie der leistungsorientierte Wettkampf. Im Vordergrund standen vielmehr Harmonie und Gemeinsamkeit; Bewertungen erfolgten in gemäßigter Form, und ein expliziter Wettkampf wurde dadurch unterbunden, dass zum Beispiel mehrere Personen oder ganze Gruppen gleichzeitig siegen konnten, wenn sie bestimmte Anforderungen erfüllten. Reste dieser Vorstellungen finden sich bei den heutigen Bundesjugendspielen, bei denen alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die eine gewisse Punktzahl erreichen, eine Urkunde erhalten. Auf diese Weise war (und ist) es möglich, die Leistungen möglichst vieler anzuerkennen.

Dieses Vorgehen unterband ein zugespitztes Leistungsdenken, hatte aber auch problematische Seiten: Es verdammte den Wettbewerbsgedanken geradezu, betonte den Gemeinschaftsgedanken über Gebühr und führte zu einer Erstarrung in Ritualen, die schon Zeitgenossen beanstandeten. Das Turnen, so eine verbreitete Kritik um die Jahrhundertwende, "hat die Neigung, in die ödeste, abstrakteste Schulmeisterei zu erstarren". Bei den Übungen sehe man "in Reih und Glied hinter den Geräten aufmarschierte Riegen, im Gleichmaß nach Zeiten an den schnurgerade aufgereihten Barren schwingende Turner, [...] Reigen von Turnerinnen mit Kränzen und Schleifen, die mechanische Formveränderungen vollzogen. [...] (Man) dachte aber bei all dieser schweißtreibenden Abstraktionsarbeit nie daran, ob diese hunderterlei Stellungen [...] nicht ganz sinnlos seien."

Der Fußball, der um 1870 nach Deutschland gelangte, verkörperte eine attraktive Alternative. An die Stelle einer diffusen Gruppe trat eine klar abgegrenzte Mannschaft, die gegen eine andere antrat und diese besiegen wollte, die also den Wettkampf suchte. Dies erforderte ein gemeinsames Vorgehen, doch zugleich konnten und mussten einzelne Spieler sich hervorheben. Fußballzentren waren Städte wie München, Karlsruhe oder Berlin, die enge Verbindungen zu England pflegten. Es ist deshalb nicht überraschend, dass der Fußball sich anfangs vor allem in den besseren Schichten ausbreitete, die an Universitäten, in Schulen oder durch ihren Beruf derartige Kontakte besaßen. Doch bald war er auch in der Arbeiterschaft verbreitet. Das bekannteste Beispiel dafür ist Schalke 04. Der Verein wurde 1904 von Arbeitern in Gelsenkirchen gegründet, also in einer Industrieregion, die sozial und regional denkbar weit von den damaligen deutschen Hochburgen des Fußballs in den Universitäts- und Handelsstädten entfernt lag.

QuellentextFußball-Anfänge in Berlin

[...] Fußball wurde in Deutschland zunächst fast ausschließlich von ansässigen Engländern (Schülern, Kaufleuten oder Ingenieuren) gespielt, die ihre heimatlichen Sport- und Spielgewohnheiten nicht aufgeben wollten. In Berlin war es Tom Dutton, den man als den Initiator des Fußballsports bezeichnen muss. Im Sommer spielte er auf dem Tempelhofer Feld mit einigen Landsleuten vor allem Cricket, im Herbst nebenbei auch Association, benannt nach der 1863 gegründeten Football-Association, die dem Spiel die ersten Regeln gab und das Tragen des Balles im Gegensatz zu Rugby verbot. Schüler des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums betrieben dort ihre Turnspiele wie Barlaufen und Schlagball. Dabei sahen sie oft den neuen englischen Spielen zu und begannen auch bald, an ihnen teilzunehmen. Bereits 1883 gründete diese Gruppe den Berliner Cricketclub (B.C.C.), dem Engländer und Deutsche angehörten. [...]
Wie in manchen anderen deutschen Städten, u.a. in Braunschweig, wurden auch in Berlin Schulen zu Zentren der neuen Sportbewegung. Seit 1895 hielt zum Beispiel der Turnlehrer und spätere Reichstagsabgeordnete Kopsch von der 101. Volksschule seine Turn- und Spielstunden auf dem Tempelhofer Feld ab. Oft erschien sein englischer Freund Knocker, der einen Fußball mitbrachte und sich mit Kopsch unter die Schüler mischte. Zahlreiche Gründer bekannter Berliner Fußballvereine hatten dieses Spiel an der 101. Volksschule kennen gelernt.
Die Kreuzbergstraße 75/76 war ein weiterer Ausgangspunkt des sportlichen Spiels; dort wohnte die Familie Jestram, deren vier Söhne Paul, Max, Fritz und Walter ebenfalls Kontakt zu sporttreibenden Engländern hatten. Ausschlaggebend war jedoch ihre Bekanntschaft mit dem Ingenieur Hartwig aus Petersburg, der, so oft er nach Berlin kam, mit ihnen auf der westlichen Seite des Tempelhofer Feldes Fußball spielte. Diese Gruppe vergrößerte sich ständig, zumal das Familienoberhaupt Jestram, ein alter Turner, die sportlichen Bestrebungen auch finanziell unterstützte.
Wie zufällig die neue Sportart verbreitet wurde, zeigt folgendes Beispiel. Der mit seinem Bruder und seinen Eltern auf Norderney weilende L. Aschoff schloß dort Bekanntschaft mit einem Pfarrer Loose aus Bremen, dem Mitbegründer des Bremer Fußballclubs, der ihn in die Geheimnisse des Fußballspiels einweihte. Die dort erworbenen Kenntnisse nahm er mit nach Berlin. In seinen Erinnerungen schreibt er: "Wir Schüler des askanischen Gymnasiums, vorwiegend Unterprimaner bis zur Obertertia hinunter, zogen am Nachmittag vom Belle Alliance-Platz aus mit Wimpeln geschmückten langen Speeren, die wir als Tore in die Ecke rammten, zum Tempelhofer Feld hinaus. Das Fußballspiel, das wir damals pflegten, wurde hauptsächlich durch die Lauffähigkeit des Einzelnen entschieden. Eine Bezeichnung wie sie jetzt allgemein eingeführt ist, etwa als Stürmer und so weiter, gab es damals noch nicht. Nur die Torwarte wurden als solche bezeichnet. Auch die Halbzeit war noch nicht eingeführt, wenigstensnicht für uns." [...]
Die bisher genannten Spielgruppen waren die Keimzellen der Berliner Fußballvereine. [...]

Uwe Jahn, Gertrud Pfister, Als Fußball noch "Association" hieß. Die Anfänge des Fußballsports in Berlin, in: Gerd Steins (Hg.), Spielbewegung - Bewegungsspiel. Ausstellungskatalog, Berlin 1982, S. 67ff.

Wie in England bestanden auch in Deutschland neben Fußball anfangs Formen des Spiels, die dem Rugby glichen, also rauer waren und es erlaubten, den Ball auch mit der Hand zu spielen. Ebenfalls analog zu England kam es bald zu Bemühungen, einheitliche Regeln festzulegen, um diese nicht bei jeder Begegnung erst umständlich anpassen zu müssen. Diese Vereinheitlichung gelang mit der Gründung des DFB im Jahre 1900, dessen Regelwerk sich eng an die in England bestehenden Vorschriften anlehnte.

Zwischen Faszination und Ablehnung

Fußball ist ein körperliches Spiel - eine Feststellung, die uns heute so selbstverständlich ist, dass wir sie kaum noch beachten. Das war bei der Einführung dieses Sports in Deutschland ganz anders: Der Fußball bot die Möglichkeit, den eigenen Körper freier, unkontrollierter und auch exzessiver einzusetzen, als es damals nicht nur im Turnen, sondern generell üblich war. Als die ersten Lehrer den Fußball im Unterricht einführten, waren die unteren Klassen begeistert, doch ab der Mittelstufe genierten sich die Schüler, in aller Öffentlichkeit in kurzer Hose und zudem noch bei einem Spiel gesehen zu werden. In einem Rückblick auf die 1890er Jahre heißt es: "Sexta und Quinta erschienen von Anfang an in großer Zahl auf dem Spielplatze; [...]. Die Quartaner schämten sich bereits, so öffentlich zu spielen [...]. Die Schüler der oberen Klassen waren vollends von dieser Scham noch mehr eingenommen" und legten diese erst ab, wenn kein neugieriger Zuschauer zugegen war. Doch auch jetzt waren sie noch "angekleidet mit Kragen, Schlipsen, Manschetten, Mützen, einer sogar mit einem Hute, nur zwei von der ganzen Schar haben wenigstens ihre Jacke ausgezogen". Aus den folgenden Jahren gibt es mehrfach Berichte, dass Spieler öffentliches Ärgernis erregten, wenn sie in kurzen Hosen über die Straße zum Spielfeld gingen - feste Plätze, Umkleidekabinen oder Vereinshäuser gab es anfangs noch nicht.

Nicht nur mit der Bekleidung verließen Fußballer und andere Sportler vertraute Bahnen. Der vorherrschenden Auffassung zufolge gehörte zu einer gesunden Lebensweise - so eine viel zitierte Aussage des Philosophen Arthur Schopenhauer - "die Vermeidung aller Exzesse und Ausschweifungen, aller heftigen und unangenehmen Gemütsbewegungen". Schopenhauer empfahl deshalb 1851 einen täglichen Spaziergang von zwei Stunden, viel kaltes Baden und entsprechende diätetische Maßregeln. Meyers Konversationslexikon von 1907 sah den "Sportsmann oft in Gefahr, durch übermäßige Anstrengungen [...] seine Gesundheit ernstlich zu schädigen". Einzelne Organe könnten auf Kosten der anderen übermäßig ausgebildet werden und "infolgedessen Herz- und Lungenkrankheiten und organische Fehler sich herausbilden". Pierre de Coubertin hingegen, Begründer der modernen Olympischen Spiele 1896 und Anhänger des Sports, lobte dessen Tendenz zum "Exzess". Der Sport strebe nach "größerer Geschwindigkeit, größerer Höhe und stärkerer Kraft - immer nach mehr. Das ist sein Nachteil, meinetwegen - im Hinblick auf das menschliche Gleichgewicht. Doch das ist auch sein Adel - seine Poesie". "Verhaltenheit" in den Bewegungen lehnte Coubertin ab. Der Sport verlange vielmehr von dem Auszuübenden "in jedem Augenblick ohne Zögern und ohne Reserve seine volle Kraft".

Neben dieser Betonung des körperlichen Einsatzes und der Verausgabung trug zur Attraktion des Fußballs auch seine Herkunft aus England bei, die allerdings auch heftige Kritik hervorrief. Die weite Verbreitung englischer Begriffe galt als "Englischtümelei" und rief den Unmut derjenigen hervor, die in England einen Konkurrenten Deutschlands im Kampf um eine Großmachtstellung sahen. Andere jedoch sahen England als ein Vorbild, als Land aus dem neue Entwicklungen, Trends oder Moden kamen, vergleichbar mit den USA nach 1945. Fußball war ein neuer Trend: Das zeigten die modischen Trikots, Bälle und Schuhe, die im Kaiserreich weitgehend aus England importiert wurden; englische Mannschaften, die zu Gastspielen nach Deutschland kamen, lockten zahlreiche Zuschauer an; mit englischen Ausdrücken konnte man zeigen, wie "modern" man war.

Damit sind die globalen Dimensionen des Fußballs angesprochen, die von Beginn an zu erstaunlich regen internationalen Kontakten führten. Es kamen nicht nur englische Mannschaften nach Deutschland, auch deutsche Mannschaften fuhren zu Spielen ins Ausland, sei es nach England oder in andere europäische Länder. Der SC Freiburg etwa unternahm 1914 eine Reise nach Italien und trat in Genua an; in den Jahren zuvor hatte er in Basel und Olten in der Schweiz gespielt.

Diese Reisen waren ein großes Abenteuer. Das gilt um so mehr, als die am Fußball Interessierten überwiegend sehr jung waren. Die Arbeiter, die Schalke 04 gründeten, waren noch keine 16 Jahre alt, und die Spieler des FC Freiburg, die 1907 Deutscher Meister wurden, zählten im Durchschnitt gerade einmal 21 Jahre. Über die Motive dieser Jugendlichen lassen sich wenig exakte Aussagen treffen. Doch vieles spricht dafür, den Fußball als Teil einer neuen Jugendkultur zu sehen, die aufregende, aus dem Ausland kommende Trends aufnahm und so attraktiv war, dass auch die Turner sich öffneten, spielerische Elemente verstärkten und zunehmend selbst Fußball in ihren Vereinen anboten.

Die bisher genannten Aspekte haben um die Jahrhundertwende nahezu ausschließlich junge Männer angesprochen. Daran änderte sich in den folgenden Jahrzehnten wenig. Fußball blieb eine Männer-Domäne, die kaum Frauen anzog und an Orten gespielt, geschaut und gefeiert wurde, zu denen diese keinen bzw. nur beschränkten Zugang besaßen: in der Öffentlichkeit der Sportplätze und in den Männergemeinschaften nach den Spielen, am Arbeitsplatz, in Kneipen oder in den Vereinsheimen. Hier konnten Männer Emotionen erfahren und ausleben, die ansonsten nicht, zumindest nicht in dieser Intensität, gestattet waren. Damit sind nicht so sehr die Krawalle und der Alkoholkonsum rund um Fußballspiele gemeint, die von Anfang an dazu gehörten. Interessanter waren Emotionen wie das bereits erwähnte Austoben auf dem Platz, die Exzesse, von denen Coubertin sprach, die Gefühle von Sieg oder Niederlage, die Äußerungen tiefer Trauer und größter Begeisterung, bis hin zu Tränender Freude oder Enttäuschung.

In den letzten Jahren ist vielfach die These vertreten worden, derartige Gefühlsäußerungen seien Männern - im Gegensatz zu Frauen - öffentlich nicht erlaubt gewesen. Das Beispiel des Fußballs lässt Zweifel daran aufkommen, denn es zeigt, dass Männer, zumindest in bestimmten Schichten, sehr wohl Gelegenheiten besaßen, Gefühle öffentlich auszudrücken. Dies stellten übrigens bereits Zeitgenossen fest: "Auf dem Felde des Sports ist es nicht lächerlich, leidenschaftlich zu sein und das Leben zu wagen, hier kann der Mensch sich austoben, seinen primitiven Gefühlen und Instinkten sich überlassen." Dies war ansonsten kaum gestattet, und deshalb bezeichnete der Autor dieser Zeilen aus dem Jahre 1909 den Sport als den größten "Luxus unserer Zeit". Seine Anhänger, so fuhr er fort, seien nur "selten noch zu etwas anderem zu gebrauchen, namentlich in gesellschaftlicher Beziehung". Sie verfolgten - mit anderen Worten - keine höheren Ziele und entzogen sich gesellschaftlichen Vorstellungen. Damit ist ein weiteres Element des Fußballs (und des modernen Sportes generell) angesprochen, nämlich die Möglichkeit, seine Emotionen auszuleben und sich zu engagieren, ohne dabei bestimmte Ziele zu verfolgen.

Elemente des Fußballs

Nation und Militär

Der Fußball war gerade in Deutschland von Beginn an durch politische Kontroversen bestimmt. Im Kaiserreich erfassten die Spannungen zwischen den Großmächten, insbesondere zwischen Deutschland und Großbritannien, auch den Fußball. Diejenigen, die sich um einen Ausgleich bemühten, wurden als "gehorsame Affen des Auslandes" bezeichnet, und der "Allgemeine Deutsche Sprachverein" forderte die Fußballspieler auf, keine englischen Ausdrücke zu benutzen. Entsprechende Forderungen wurden auch auf der Gründungsversammlung des DFB gestellt, bei dem sich zunehmend nationale Positionen durchsetzten. Dazu trugen auch die Bemühungen bei, die Wehrfähigkeit der männlichen Jugendlichen zu erhöhen, wofür Mannschaftssportarten wie der Fußball sich besonders zu eignen schienen. Dieser stelle, so eine Verbandsgeschichte 1908, "hohe Anforderungen an gewecktes und schlagfertiges Wesen: Umsicht und Mut, Geistesgegenwart und schnelle Auffassungsgabe werden stetig geübt und gesteigert. Wie zwei gerüstete Heere ziehen die Spielparteien auf dem Spielfeld gegeneinander zu Angriff und Verteidigung. Ein jeder hat den Platz, auf welchen er gestellt ist, mit dem Aufgebot aller körperlichen und geistigen Mittel und Kräfte zum Vorteil seiner Partei auszufüllen und alles zu tun, um seinen Leuten, seiner Farbe, den Sieg zu sichern.

Angesichts solcher Auffassungen überrascht es nicht, dass der DFB 1911 dem Jungdeutschlandbund beitrat, der die "Entartung der Jugend im allgemeinen, den Rückgang der Tauglichkeit unserer jungen Männer zum Heeresdienste" bekämpfen wollte und die Zukunft in einer "wehrhaft heranwachsenden Jugend" sah. Entsprechend hieß es 1914 in einem Buch über den Fußball: "Ein Fußballwettkampf hat Ähnlichkeit mit dem Krieg." Auch im Militär setzte sich die Auffassung durch, dieser Sport eigne sich besonders gut für Soldaten, da er sowohl Mannschaftsgeist wie auch Individualität fördere, Disziplin einübe und zusätzlich die Fähigkeit verlange, rasch auf neue Situationen zu reagieren - Fähigkeiten, die der moderne Krieg erfordere.

Solche Aussagen waren zu dieser Zeit nicht nur im deutschen Kaiserreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern zu hören und belegen einen allgemeinen Trend zu Imperialismus und Militarismus. In Großbritannien etwa hat sich Robert Baden-Powell in diesem Sinne geäußert und entsprechend die Ziele der von ihm 1907 gegründeten Pfadfinderbewegung beschrieben.

Doch diese Entwicklungen blieben nicht ohne Widerspruch. So stieß der Beitritt des DFB zum Jungdeutschlandbund auf Kritik, insbesondere bei denjenigen, die im Sport weiterhin den "erfolgreichsten Förderer der Friedensidee" sahen. Ohnehin lässt sich kaum beurteilen, welche Auswirkungen die zitierten kriegerischen Aussagen hatten. Auch beim Fußball waren Zuschauer und Spieler wohl weniger an den flammenden Reden und patriotischen Verlautbarungen interessiert als an Spiel, sportlicher Anstrengung und Wettkampf. Die Jugendjahre von Sepp Herberger, dem späteren Trainer der Nationalmannschaft, sind dafür ein gutes Beispiel.

Anerkennung und Aufstieg

Josef, besser bekannt als Sepp, Herberger wurde am 28. März 1897 geboren und wuchs in einer Arbeiterkolonie in Mannheim auf. Als der Vater 1909 starb, verarmte die Familie über Nacht und wurde aus der Wohnung verwiesen. Der junge Herberger musste zum Familieneinkommen beitragen und deshalb 1911 die Schule verlassen, um zuerst als Maurer, dann als Fabrikarbeiter und später als Bürogehilfe Geld zu verdienen. Einen Teil seiner freien Zeit verbrachte er im Katholischen Jugendverein Mannheim, der - wie andere kirchliche Gruppen - Jugendliche durch die Möglichkeit ansprach, Fußball spielen zu können. Das galt auch für Herberger, dessen Begeisterung für diesen Sport mit einem außergewöhnlichen Talent verbunden war, auf das die umgebenden Vereine bald aufmerksam wurden. So wechselte Herberger 1913 zum SV Waldhof Mannheim, der ihn förderte und bereits mit 16 Jahren in der ersten Mannschaft aufstellte. 1916 wurde er zum Militärdienst eingezogen, aber wegen seines Talents als Fußballer erst im Jahr darauf zur Front versetzt und anschließend mehrfach für Spiele freigestellt, so dass er den Krieg unversehrt überstand.

Dieser Werdegang war etwas ungewöhnlich, doch er spiegelt exemplarisch die Gründe wider, die zur rasch wachsenden Beliebtheit des Fußballs geführt haben: Bei diesem Sport konnte jeder mitmachen, ohne festgefügte Rituale zu beachten oder aus bestimmten Schichten zu stammen. Wer zudem, wie Herberger, Talent bewies, konnte hohes Ansehen erlangen oder sogar sozial aufsteigen, sodass dieser Sport gerade innerhalb der damaligen Arbeiterschaft und bei anderen sozialen Gruppen, die neu entstanden und ihren Platz in der Gesellschaft noch finden mussten, zahlreiche Anhänger fand.

Die damalige Arbeiterbewegung hat den Beitritt von Arbeitern zu "bürgerlichen" Fußballvereinen als Verlust an Klassenbewusstsein beklagt. Empirische Belege für diese Behauptung gibt es jedoch nicht. Vielmehr spricht vieles dafür, dass die Arbeiter in den deutschen (und britischen) Industriegebieten, in denen der Fußball zahlreiche Anhänger besaß, politisch besonders aktiv waren. Zugleich jedoch hat die Klage der Arbeiterbewegung einen zutreffenden Kern. Denn Fußballvereine waren nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie Gemeinschaftserfahrungen und Identifikationsmöglichkeiten boten, die nicht politisch aufgeladen waren. Sie standen vielmehr (fast) allen offen und konnten Personen zusammenführen, die unterschiedlicher Herkunft waren und unterschiedliche Meinungen vertraten.

Spannung und Unterhaltung

Zusätzlich bot der Fußball noch etwas, was ebenfalls neuartig war und ein wichtiges Merkmal moderner Gesellschaften darstellt, über das wir bisher wenig wissen: Er bot Spannung. Heute wird diese Spannung im Alltag ganz selbstverständlich und in großer Vielfalt bereitgestellt: Kino und Fernsehen, Bücher, Sportereignisse oder die alltäglichen Nachrichten offerieren sie ebenso wie Hitparaden, Lotto- und Totospiele, Wahlergebnisse oder Bestsellerlisten. Diese Formen der Spannung und vor allem ihre große Verbreitung sind neuen Datums und erlebten in Deutschland erst um 1900 ihren Durchbruch. Zu dieser Zeit setzten sich Tageszeitungen durch, die in großer Auflage erschienen, aktuell berichteten und erschwinglich waren; sportliche Wettbewerbe wie Auto- und Fahrradrennen oder Boxwettkämpfe breiteten sich aus; die ersten Filme entstanden, und Fortsetzungs- sowie Kriminalromane erreichten ein breites Publikum. Hinzu kam der Fußball, der bis heute wesentlich von seiner Spannung lebt, über die Sepp Herberger einmal sagte: "Die Leute gehen in die Stadien, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht."

geb. 1951 in Bottrop, ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Freiburg. Er veröffentlicht zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zuletzt mit Schwerpunkten auf der Umweltgeschichte und der Geschichte des modernen Sports. Daneben ist er Mitglied der Lenkungsgruppe großer historischer Ausstellungen, darunter: Feuer und Flamme. 200 Jahre Ruhrgebiet (Gasometer Oberhausen 1994/1995); mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte (Kraftwerk Vockerode 1998); Der Ball ist rund. Die Fußballausstellung (Gasometer Oberhausen 2000).

Kontakt: f.j.brueggemeier@geschichte.uni-freiburg.de