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Fremde, Fremdsein - von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes | Vorurteile | bpb.de

Inhalt Editorial Was sind Vorurteile? Fremde, Fremdsein - von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes "Fremde" in den Medien Türkische Minderheit in Deutschland Polenbilder in Deutschland seit 1945 Rassistische Vorurteile Antisemitismus Sinti und Roma als Feindbilder "Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945 Vorurteile gegen sozial Schwache und Behinderte Stereotype des Ost-West-Gegensatzes Literaturhinweise und Internetadressen Autorinnen und Autoren, Impressum

Fremde, Fremdsein - von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes

Johannes Heil

/ 15 Minuten zu lesen

Ein afrikanischer Flüchtling blickt in seine neue Umgebung in Los Abrigos auf den Kanarischen Inseln. (© picture-alliance/AP)

Einleitung

Der folgende Abschnitt handelt von einem Begriff mit vielen Facetten. Fremdes erscheint vielleicht als typisches Moment der Moderne, als beunruhigendes Kennzeichen einer Welt mit rasch überwindbaren Distanzen, die sich vernetzt und zusammenrückt. Diese Welt scheint stärker in Bewegung als je zuvor. Sie erleichtert angenehme Erfahrungen mit weit entfernten Kulturen, erfordert bei der Zusammenfügung unterschiedlicher Geschäftskulturen zu einem global agierenden Konzern ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen und Logistik. Diese Welt produziert Flüchtlingsströme und schafft auch am vertrauten Ort Unübersichtlichkeit und unbeabsichtigte Begegnungen.

Vielfältige Erlebnisformen

Um solche Wahrnehmungen in Frage zu stellen, lohnt es, den Blick geschichtlich zu öffnen und das Begriffsfeld "Fremdes" von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Denn hier kann beispielhaft gezeigt werden, dass Fremdwahrnehmung und Fremdheitserfahrung stets vorhandene Phänomene waren, die unterschiedliche Reaktionen, abwehrende wie aufnehmende, hervorriefen. Der geschichtliche Blick bietet Parallelen zu heutigen Erscheinungen, aber - weit wichtiger: Das Fremde erscheint im Rückblick in ganz unterschiedlicher Erscheinung, unter gänzlich wechselnden Bedingungen und keinesfalls als klar zu umreißende Kategorie. Ferner geht es um die verschiedenen Erlebnisformen von Fremdheit: Einwanderer, Auswanderer, Wanderer und auch Ansässige; Fremdheit fällt nicht einfach mit Wanderung (Migration) zusammen, sondern auch mit seinem Gegenteil - mit Bleiben.

Fremd ist nur, was als solches erlebt wird. Nichts ist aus sich heraus und notwendig fremd. Das fremde Terrain erscheint im Erleben einfach vorhanden, tatsächlich ist es subjektiv gesetzt und Ergebnis willkürlicher Ordnungskriterien im Gefolge persönlicher Motive und gesellschaftlicher Konventionen.

Schon die gängigen Begriffsanbindungen zeigen, wie verschiedenartig, positiv wie negativ, das Fremde sich leben und erleben lässt: "Fremdenangst" ist verbreitet, "Fremdbestimmung" verweist auf Abhängigkeit, der "Fremdkörper" erscheint fehl am Platz, kann aber auch eine Herausforderung sein. Der "fremde Klang" ist zunächst ungewohnt, kann aber Neugierde wecken; "befremdliche" Gedanken überraschen, können abwegig sein, aber auch neue Horizonte öffnen. Der Weg in - heute klingt es pathetisch - "die Fremde" hatte stets unterschiedliche Gründe: Er konnte aus Neugier (Entdeckung, Expansion), aber ebenso auch notgedrungen (Vertreibung, Flucht, Armut) unternommen werden.

Kein Wunder, dass sich dann in gegenwärtiger wie auch in geschichtlicher Perspektive nur schwer eine verbindliche Theorie für das Fremde formulieren lässt.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Die Vergangenheit war genauso unübersichtlich wie jene entmythologisierte, vernetzte und doch widersprüchliche Welt der Gegenwart, die kaum mehr sichere Rückzugsräume bietet. Im Vergleich zu heute, wo über Fremdheit oder Zugehörigkeit letztlich noch immer nach den starren Kriterien des (eher jungen) Nationenschemas befunden wird, erscheinen die Verhältnisse in Mittelalter und Frühneuzeit allerdings dynamischer: "Innen" und "außen", "bekannt" und "fremd" lagen eng beisammen, und die Grenzen zwischen ihnen waren fließend. Das, der oder die Fremde waren selbstverständlich und unausweichlich vorhanden: Fremde, die an das Tor der Stadt gelangten, die Bäuerin aus der Umgebung, der weit gereiste Kaufmann, die Verwandtschaft, Kriegsflüchtlinge, Hausierer, ganze Familien von Pilgern, Musikanten, Knechte, Mägde, Handwerker auf Stellungssuche oder Bettler. Ein Begriff vom "Fremden", der all jene Gruppen zusammenfasst, hat sich überhaupt erst in der Neuzeit herausgebildet. Auf die relative Offenheit der vormodernen Gesellschaft folgten Abschließung und Misstrauen - und die Erfindung des Passes.

Aber noch im 18. Jahrhundert fand der Straßburger Jurist Jeremias E. Linck keine klaren Kriterien zur Bezeichnung von "Fremden": "Ankömmlinge, Reisende, Vagabunden sind [...] echte Fremde." Doch was machte den "Reisenden" aus, und was schied ihn vom "Ankömmling" und vom "Vagabunden"? Linck hätte wohl auf den äußeren Anschein verwiesen, eine gänzlich subjektive Kategorie. Auch waren "Reisende" keine irgendwie umrissene Gruppe: Allein schon der Reisezweck von Kaufleuten, Studenten oder Pilgern war verschieden. Kaufleute wiederum unterschieden sich nach Herkunft, Status, Sprache und Warenangebot; sie waren damit unterschiedlich fremd, aber auch unterschiedlich begehrt. Dass Fremde unbedingt nützlich seien, hatte König Stephan von Ungarn zu Beginn des elften Jahrhunderts seinem Sohn eingeschärft: "In Gästen und ankommenden Männern liegt so viel Nützliches. [...] Für uns ist ein Reich mit [nur] einer Sprache und einer Sitte schwach und gebrechlich. Daher befehle ich dir, mein Sohn, dass du mit gutem Willen diese versorgst und ehrenvoll behandelst, damit sie vergnügt bei dir leben" (zit. nach Christian Lübke, in: Demandt, Seite 108, siehe Literaturhinweise).

Natürlich war die damalige Welt "geordnet", kannte "oben" und "unten" und vor allem auch "innen" und "außen". Das war keine bessere Welt, die romantisch verklärt werden könnte. Aber sie kannte mehr Übergänge zwischen "innen" und "außen", als ein heutiger Blick erwarten mag. Die wiederholten Verordnungen zur Abwehr (unerwünschter) Gäste sind ein Beleg für den beschränkten Erfolg von Steuerungsversuchen und für die Selbstverständlichkeit der Anwesenheit von Fremden.

Als Außenstehender - und in diesem Sinn sollte der moderne Begriff des "Fremden" gelesen werden - galt in Städten und Territorien letztlich jeder, der nicht das Bürgerrecht besaß.

Weil seit dem 15. Jahrhundert die finanziellen und sozialen Hürden für den Eintritt ins Bürgerrecht immer höher wurden, waren die Bürger am Ende Mitglieder einer privilegierten Minderheit in der eigenen Stadt. Abseits davon lebten die Nichtbürger als Fremde in verschiedenen Abstufungen - als privilegierte, geduldete oder unerwünschte Fremde. Es versteht sich, dass die Zuordnungen zu den verschiedenen Gruppen je nach Wirtschaftslage und Kräftebedarf schwanken konnten. In rechtlicher Hinsicht lassen sich weitere Gruppen von Ortsansässigen unterscheiden, deren Status beschränkt war (mit Bezeichnungen wie Schutzverwandte, Beisassen, Permissionisten oder Tolerierte), die eigens verfassten Rechtskreisen zugehörten (beispielsweise Ordenszugehörige, Studenten) oder bei denen beides zutraf. Letzteres galt - zumal sie seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr in die allgemeinen Bürgerbücher der Städte eingeschrieben waren - für die Juden und ihre Gemeinden. Ihr sozialer und rechtlicher Status wies vielfache Beschränkungen auf, und sie waren Diskriminierungen ausgesetzt. Zugleich bildeten die Gemeinden Kreise autonomen Rechts, etwa hinsichtlich der Kultausübung und der Zivilgerichtsbarkeit. Ferner standen sie, wenigstens nominell, unter kaiserlichem Schutz.

Wo aber schließlich auch der Bürger schon mit dem Verlassen der Stadt als Fremder erscheinen konnte (und sich durch "Geleit"-Briefe Schutz zu verschaffen suchte), wurde die Grenze zwischen innen und außen vollends unscharf.

Die vormoderne Welt war ganz selbstverständlich auf Austausch, Begegnung, Vermittlung, Zuzug und damit auf Fremde angewiesen. Das gemeinsame Interesse, die gemeinsame Stadt ("Kommune") oder auch herrschaftliche Pläne zum Landesausbau verbanden Menschen unterschiedlicher Herkunft und rechtlicher Stellung. Griechen und Syrer nahmen als Fremde im frühmittelalterlichen Rom (nicht Fremde im Rechtssinn, aber nach Herkunft, Sprache und Lebensgewohnheiten) den römischen Lebenswandel an. Die einstmals "anderen" unterschieden sich mit der Zeit nicht mehr von der einheimischen Bevölkerung. In moderner Diktion wird dieser Prozess als Assimilation (Angleichung) oder Akkulturation (kulturelles Zusammenwachsen) bezeichnet. Im mittelalterlichen Prag gruppierten sich Böhmen, Deutsche, Italiener, Juden und andere Bevölkerungsgruppen in eigenständigen Vierteln und vier Kommunen, die sich erst 1784 zu einem einzigen Stadtverband zusammenschlossen. Konstanzer Bürgerlisten des 13. Jahrhunderts bergen Namen, die auf eine Herkunft aus Venedig verweisen, umgekehrt arbeiteten Handwerker aus dem Rheinland im 15. Jahrhundert in italienischen Städten. Muslime in Venedig oder "Abendländer" im Orient waren Fremde und in ihrem Aktionsradius vor Ort beschränkt, aber sie waren nicht recht- und schutzlos.

König Alfons VI. von Kastilien ordnete 1095 an, "dass eine Stadt gegründet werden sollte, in der sich aus allen Teilen der Welt Bürger aus vielen verschiedenen Gewerben versammeln sollten, [...] Gascogner, Bretonen, Deutsche, Engländer, Burgunder, Normannen, Leute aus Toulouse, Provenzalen und Lombarden, und viele andere Kaufleute aus verschiedenen Nationen und mit fremden Sprachen. Und so gründete er und bevölkerte er eine Stadt von nicht geringer Größe", nämlich Logroño (zit. nach Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt, München 1996, S. 218).

Die vormoderne Zeit war deswegen noch lange nicht "tolerant", sie hatte nicht einmal einen Begriff dafür. Freilich gebot die Gottesfurcht Milde gegenüber dem Fremden, und dafür wurden Hospitäler (lat.: hospitalitas, Gastfreundschaft) errichtet. Pilger und andere Wanderer zogen weiter. Über das Ansinnen jener, die bleiben wollten, entschieden die Städte je nach dem Nutzen, den man sich von dem Aufenthalt versprach. Hamburg und Berlin verdankten ihre Blüte im 17. und 18. Jahrhundert nicht zuletzt einer freizügigen, zuweilen ausdrücklich auf Verbürgerlichung von Zuwanderern zielenden Politik. Das einst so florierende, gegenüber Fremden aber zunehmend abwehrend agierende Augsburg hingegen erlebte im 18. Jahrhundert einen steten Bevölkerungs- und damit auch Bedeutungsverlust.

Umgang mit dem Fremden

Das bislang eher positive Fazit bezieht sich auf die Begegnungen mit Fremden im überschaubaren bzw. lokal begrenzten Rahmen. Seltener und problematischer war die Begegnung über weite Distanzen und über Kulturschranken hinweg, zumal wenn sie unfreundlich, Schrecken erregend und kriegerisch verlief. Immerhin lassen sich auch in Situationen extremer Verunsicherung und Bedrohung einzelne Versuche zur Überwindung von Distanz durch Verstehen ausmachen. Dies zeigt die abendländische Reaktion auf die militärische Expansion der Mongolen, die 1241 bis in die Mitte Europas vordrangen: 1245 sandte Papst Innozenz IV. Gesandte zu den Mongolen, um in Erfahrung zu bringen, was diese "zur Vernichtung anderer Völker treibe". Er wollte die Mongolen auf die Einhaltung verbindlicher, "natürlicher" Regeln - in modernem Sinne eines "Völkerrechts" - festlegen.

In seinem Sendschreiben heißt es: "Weil nicht nur die Menschen, sondern auch die unvernünftigen Wesen und sogar die Grundstoffe der Weltmaschine durch Gemeinschaft in einem Bund von Geburt an vereinigt sind [...] sind wir nicht zu Unrecht gezwungen, uns sehr zu wundern, dass ihr, wie wir vernommen haben, viele christliche und auch andere Länder überfallen habt [ ... ] losgelöst vom Bund der naturgegebenen Verwandtschaft" (zit. nach Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden, Sigmaringen 1994, S. 76).

Andere Fremde erschienen einfach nur exotisch. Der "Äthiopier", den der Basler Bischof um 1300 in seinem Gefolge hielt, war ein Kuriosum und sollte wohl auch zu nichts anderem dienen. Nur selten verlief das Geschick eines Fremden so viel versprechend wie Jahrhunderte später im Fall des Anton Wilhelm Amo, der 1707 aus Westafrika nach Deutschland verbracht und am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel erzogen wurde. Der Afrikaner erlangte einen Magister der Philosophie und wirkte als Dozent an den Universitäten in Wittenberg, Halle und Jena, bis er als Anhänger der Wolffschen Aufklärungsphilosophie (Christian Wolff, 1679-1754) ins Abseits geriet. Offenbar auch infolge einer gescheiterten Liebesbeziehung kehrte er enttäuscht nach Afrika zurück. Er war an die Grenzen einer dem einzelnen "Exoten" gewogenen, dem "Kuriosen" zugetanen, aber letztlich doch nicht aufnahmewilligen Gesellschaft gestoßen.

Auswanderung

Im Spätmittelalter und in der Neuzeit wurden so genannte Kolonisten für die Entwicklung von Land- und Herrschaften im Osten und Südosten Europas angeworben - etwa die "Siebenbürger Sachsen" oder die "Banater Schwaben". Mit ihnen waren positive Erwartungen verbunden, ohne dass Konkurrenzsituationen mit der ansässigen Bevölkerung ausgeschlossen gewesen wären. Unter teilweise ähnlichen Voraussetzungen verlief die Auswanderung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert nach Amerika.

Einen kindlich-ironischen Umgang mit Fremdheitserfahrung zeigt ein altes, aber noch vor wenigen Jahrzehnten aufgezeichnetes Lied der "Donauschwaben". Der Text thematisiert die Schwierigkeiten bei der Verständigung in einem fremden, hier ungarischen, Sprachumfeld. Die Mühen, die das Fremdsein bereitete, werden deutlich, doch das Lied zeugt auch vom Selbstbehauptungswillen der Schwaben. Es war selbst ein Mittel zur Bewältigung von Fremdheit: "Das wier zwa Schwowe Kinner sann,/das hert mann an unsrer Sproch./Das von uns kans ungrisch konn,/ das macht uns großen Spaß.//Was homr schon für Hetzen hatt,/weil wir verkehrt alles nenna./Das wier hon selber drüber gelacht,/weil wir nix ungrisch kenna//[...]" (Deutsches Volksliedarchiv Freiburg i. Br., DV A A 222981).

Selbst die relativ geschlossenen Siedlungen, in denen Auswanderer und ihre Nachkommen im Osten Europas oder dann in Amerika lebten, und wirtschaftliche Erfolge haben nicht alle Verluste ausgleichen und Gefühle von Isolation verhindern können. Typisch für die zahlreichen Berichte von Auswanderern ist das Nebeneinander von Optimismus, Trotz, Verlustgefühlen oder auch einfach Heimweh.

Die Auszüge aus den Briefen, die ein gewisser August Müller um 1900 aus Colorado an seine Familie im Westerwald schrieb (siehe Kastentext), illustrieren auch den Prozess der Entfremdung zwischen den Auswanderern und ihrer zurückgebliebenen Familie. Die Sprache und die Beispiele, die das ausdrücken, erscheinen uns heute fremd; die dahinter stehenden Erfahrungen werden aber immer wieder gemacht, nämlich da, wo familiäre und kulturelle Zusammenhänge aufgegeben und für den Neubeginn an anderem Ort Veränderungen und Kompromisse in Kauf genommen werden.

Quellentext"Es ist hart von zuhause zu gehen"

August Müller schrieb am 3. April 1893 aus Monte Vista:

"Lieber Bruder Robert! [...] Du schreibst, ich solle dir einen 50-Mark-Schein beilegen, hier hat man aber nur Dollarscheine. Wenn es geht, werde ich dir bald einmal fünf oder zehn Dollar schicken. [...] Du schreibst, ich würde wohl nicht wieder nach Deutschland kommen, da brauchst du gar keine Angst vor zu haben, die können mich dort laufen lassen. Hier ist es doch viel besser. [...]
Monte Vista, 7. 8. 1898 (an Vater und Geschwister). [...] Wie ich euch schrieb, gefällt es mir hier nicht. Warum. Ich denke zu viel an meinen Vater und Geschwister in Deutschland und das macht mir Heimweh, weshalb es mir so schwer wird zu schreiben. [...]
Summitville Colo(rado), September 1th 1899 (an Vater und Geschwister). [...] Entschuldigt meine Fehler, da ich mehr Englisch schreibe und spreche wie Deutsch. Ich spreche so gut Englisch, dass die meisten Leute nicht glauben, dass ich in Deutschland geboren bin. [...]
Summitville, November 10th 1899 (an seine jüngere Schwester Bertha). [...] Ich war keiner der Dümmsten wie ich von Deutschland ging und wie ich hierher kam, da wusste ich doch nichts, weil hier alles anders geht wie in Deutschland, andere Wege und alles anders. Ich weiß jetzt 20 mal so viel, wie ich damals wusste. [...] (rechnet seiner Schwester vor, was es hieße, zu ihm nach Amerika zu kommen, dann:) Bedenke dich recht. Es ist hart von zuhause zu gehen auf nimmer Wiedersehen." [...]

"Wir hatten ein schlechtes Schiff...". Briefe eines Westerwälder Amerika-Auswanderers 1892-1914, bearbeitet von Thomas A. Bartolosch, Altenkirchen 1986.

Zu- und Einwanderungen

In zahlreichen Wellen in der Neuzeit, besonders im 19. Jahrhundert, verließen Menschen Deutschland, um in immer entfernteren Orten Existenzen und auch Gesellschaften aufzubauen. Die meisten Zu- und Einwanderer wählten diesen Weg aus der Not heraus, aber ansonsten hatten sie sehr unterschiedliche Perspektiven und Absichten. Dabei hatten selbst die "nützlichen Fremden", etwa die protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich (Hugenotten, 1685) oder dem Salzburgischen (1732), einen schweren Stand: Gegen die Anfeindungen durch die lutherische Geistlichkeit von Leipzig ("das heimliche und subtile, aber desto gefährlichere Gift der Calvinischen Lehre, das Narren-Theatrum") verteidigten sich die hugenottischen Ankömmlinge mit dem Hinweis, sie seien, wie es in bezeichnender Abgrenzung heißt, weder "Juden, Heiden oder Türcken".

In Brandenburg hatte der Landesherr sich von den Glaubensflüchtlingen und ihren Fähigkeiten einen Beitrag zur wirtschaftlichen Erschließung seines dünn besiedelten, vergleichsweise rückständigen Landes versprochen und dafür günstige Konditionen angeboten. Dennoch reagierten Teile von Beamtenschaft und Bevölkerung mit Ablehnung, sodass ein Teil der etwa 10.000 Neubürger schon bald von dänischen Agenten abgeworben werden konnte. Zweihundert Jahre später verlief auch die Binnenwanderung innerhalb Preußens, von den polnischen Grenzprovinzen im Osten in die aufsteigenden Industriereviere an Rhein und Ruhr, nicht ohne Reibungen. Die polnischen Arbeiter ("Ruhrpolen") galten um 1900 "als ökonomisch und kulturell sehr tief stehendes Element" und als "Lohndrücker und Einschlepper von Krankheiten". Wohl entstanden polnisch-katholische Pfarrgemeinden, polnische Zeitungen und Vereine, aber auch kommunale "Polenüberwachungsstellen". Die polnischen Arbeiter sind dabei nur einBeispiel für einen weiterreichenden Prozess: Der rapide wirtschaftliche Aufschwung im Kaiserreich (1871-1918) führte allenthalben zu Wanderungsbewegungen und damit zur zeitweiligen oder dauernden Aufgabe gewohnter Zusammenhänge.

Neben den Binnenwanderungen von ländlichen Regionen in die Industriezentren wurden seit der Fertigstellung der Eisenbahnverbindungen über den Brenner (1867) auch Arbeitskräfte aus dem südeuropäischen Ausland angeworben. Darunter waren etwa italienische Arbeiter, die im Berg- und Verkehrswegbau oder als Fachkräfte (etwa im Hausbau als Ziegler oder "Terrazzo"-Macher) Beschäftigung fanden. Textilarbeiterinnen wurden im Alter von 15 oder 16 Jahren angeworben, um für die Dauer von drei bis vier Jahren zu bleiben. 1907 wurden im Kaiserreich circa 120.000 italienische Arbeiter gezählt. Ihnen vorangegangen waren im 17. Jahrhundert italienische Kaminkehrer und -bauer, deren innovative Techniken zur Minderung der Brandgefahr in den wachsenden Städten beitrugen, oder im 19. Jahrhundert Spielleute, Gipsfigurenhersteller, Mosaizisten (Künstler, die Mosaiken herstellten) und Zinngießer. Saisonarbeitskräfte aus Österreich und der Schweiz, die den Sommer über in Süddeutschlandbei der Ernte von Hopfen, Wein, Weizen oder Zuckerrüben arbeiteten, hatten zumindest keine sprachlichen Barrieren zu überwinden und ihre Heimat nur um eine vergleichsweise geringe Distanz hinter sich gelassen. Wo allerdings selbst Kinder als Arbeitskräfte gefragt waren, bedeuteten die Trennung von der Familie und der Weg "hinaus" eine heute kaum mehr vorstellbare Härte.

Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert belegt sind die ,,Schwabenkinder" ("Hütekinder"), die im Alter von oft nur acht Jahren im Frühjahr ihre Familien in Tirol und der Ostschweiz verließen, um bis zum Herbst in Bauernhöfen Süddeutschlands, aber auch in Ungarn oder Polen als Viehhüter und Erntehelfer zu arbeiten. Die in hohem Alter niedergeschriebenen Erinnerungen einer Vorarlberger Frau erzählen davon, und wenigstens in ihrer Erinnerung gemahnt die Stellenvermittlung in Ravensburg, wenngleich noch im Beisein ihres Vaters erlebt, an Szenen eines Sklavenmarktes: ,,[...] Auf dem Marktplatz (in Ravensburg) sahen wir eine Halle, da hing eine große Tafel, darauf geschrieben stand: ,Markthalle für Hirtenkinder und Dienstboten?. Da gingen wir hinein. [...] Das Lokal war ziemlich besetzt. Die großen Buben, die mit uns gereist sind und zwei Mädchen konnten schon selbst mit den Bauern und Bäuerinnen verhandeln; je nach der Größe und Stärke bekamen sie den Lohn für den ganzen Sommer. [...] Es ging keine Stunde, da waren alle schon verhandelt. Mein Bruder kam zu einem Lehrer in Ailingen. [...] Ich hatte schon Hoffnung, ich könnte wieder mit dem Vater heim. Da kam noch ein Bauer, fast zu schön gekleidet für einen Bauern. [...] Der Vater wurde einig mit dem Mann, bekam also auch zehn Gulden und alles doppelt und einen Gulden Haftung. So war es also abgemacht. Der Vater schaute mich immer an, während dem Verhandeln und konnte der Tränen kaum Herr werden. [...] Der Vater ging mit uns noch in die Stadt Ravensburg, kaufte dem Anton und mir je ein Messer und jedem ein Notizbüchle, das wir uns zum Abschied gewünscht haben." (zit. nach Regina Lampert, Die Schwabengängerin, hg. v. Bernhard Tschofen, Zürich 1996.)

Zuwanderung nach 1945

Die größte Zuwanderungswelle hat Deutschland nach dem 2. Weltkrieg und in den Gründungsjahren von Bundesrepublik und DDR erlebt. Eine große Zahl von Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager befand sich als Displaced Persons auf deutschem Territorium unter dem Schutz der Alliierten. In den Jahren nach 1945 erreichten etwa zwölf Millionen Flüchtlinge aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien sowie den Gebieten außerhalb des Deutschen Reichs (Grenzen von 1937) die Gebiete westlich von Oder und Neisse. Ein Drittel davon ging in die sowjetische Zone und spätere DDR, die anderen verteilten sich auf die Zonen der Westalliierten im Gebiet der späteren Bundesrepublik. Vor Ort, in der "Zufallsheimat" (so der Volkskundler Albrecht Lehmann), wurden sie zumeist als "Fremde" und als Last wahrgenommen; die "Heimatvertriebenen" hatten nicht nur ihre Heimat verloren, sondern auch Schwierigkeiten, eine neue Heimat zu finden. Auch in jüngster Zeit werden Aussiedler wegen ihrer Sprache und ihres Dialekts, der Lebensweise und ihres Selbstverständnisses vielfach ausgegrenzt. Den Zuwanderern erscheint das vermeintliche Heimatland ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatten, und sie werden ihrerseits als fremd empfunden.

Die Integration der Zuwanderer verlief nach 1945 parallel zum wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er Jahre, der bald weitere Arbeitskräfte erforderte und unter neuen Bedingungen zu einer Anknüpfung an die Tradition der Arbeitskräfteanwerbung aus dem Süden Europas führte. In Westdeutschland kamen die ausländischen Arbeitskräfte zunächst überwiegend aus Italien (seit 1955) sowie aus Spanien und Griechenland (1960), danach folgten bis zum Anwerbestopp 1973 nach und nach Arbeitskräfte aus der Türkei, Portugal, Marokko, Tunesien und Jugoslawien. In die DDR kamen auf der Basis entsprechender Anwerbeabkommen Arbeitsmigranten etwa aus Ungarn, Polen, Algerien und Mosambik.

Natürlich lässt sich einwenden, dass die Heimatvertriebenen der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre mit den so genannten Gastarbeitern nichts gemein hatten: Die einen Zuwanderer waren deutscher Staatszugehörigkeit, die anderen blieben Bürger ihrer Staaten und in Deutschland zunächst nur Ausländer mit begrenzter Aufenthaltsperspektive; die einen deutsch sprechend (wenn auch in oft schwer verständlichen Dialekten), die anderen meist ohne Möglichkeit oder auch Absicht zum vollständigen Spracherwerb allein als Arbeitskräfte geschätzt; die einen notgedrungen auf unabsehbare Zeit (in der Hoffnung auf Rückkehr) bleibend, aber Gegenstand besonderer administrativer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit, die anderen zum Zweck des Arbeitens gekommen, dafür angeworben und geduldet, ein Faktor auf dem Arbeitsmarkt, aber in der Erwartung absehbarer Rückkehr kein Thema für die Gesellschaft.

Ausländer bedrohen...

Im Ergebnis sind sich aber die beiden Migrationsbewegungen, die untrennbar mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden sind, nicht unähnlich: Die Heimatvertriebenen sind nicht zurückgekehrt, und auch viele der Arbeitsmigranten sind geblieben, haben ihre Familie "nachgezogen" und sind ein Teil der deutschen Gegenwart geworden. Im Einzelfall decken sich die dabei gemachten Erfahrungen, nämlich in der Abfolge von Ankunft, Erwartungen, Erfolgen und Desillusionierungen, Anfechtungen und Akzeptanz. In beiden Fällen veränderte sich der Lebensrahmen fast unmerklich: Die Herkunft und ihre anfangs so selbstverständliche Bedeutung trat immer mehr in den Hintergrund, und Perspektiven und Pläne orientierten sich immer mehr an den Gegebenheiten des Ortes und des Momentes.

Kontinuierliche Veränderungen

Mobilität und Fremdheitserfahrungen sind in historischer Perspektive ein Charakteristikum der deutschen Geschichte. Insofern gehen Vorstellungen von einer kulturell-ethnisch homogenen Gesellschaft historisch wie gegenwärtig schlichtweg an den Fakten vorbei.

Der Blick zurück zeigt auch, dass sich Begegnungen mit dem Fremden kaum planen oder regulieren lassen. Es hat immer die Bestrebung zu planmäßigem Vorgehen gegeben, und immer wurde über Fremde nach Bedarf und Nützlichkeit geurteilt. Es hat aber ebenso immer auch die unerwarteten, unbequemen Fremden gegeben: Glaubens-, Hunger- und Kriegsflüchtlinge, Heimatvertriebene und Asylsuchende. Sie sind keineswegs erst ein Merkmal der vergangenen Jahrzehnte. Der historische Blick bietet gewiss keine Patentrezepte zum Umgang mit Migrationsbewegungen in der Gegenwart, aber er erleichtert es, sie mit ihren Problemen und Chancen als Momente von Normalität wahrzunehmen. Der Blick zurück zeigt auch, dass die nötigen Integrationsprozesse nicht immer spannungsfrei verliefen. Er zeigt aber auch, dass sie erfolgreich verlaufen können. Denn jene Gruppen, die in einer historischen Studie zu Migration und Umgang mit Fremden an erster Stelle zu nennen sind, spielen in einer gegenwartsbezogenen Studie zumselben Thema keine Rolle mehr: Immigrantenfamilien der 1960er Jahre oder "Ruhrpolen" oder gar Hugenotten und Flamen in rheinischen Städten zählen nicht mehr zu den "Fremden".

Wer heute das Bestehende einfach bewahren zu können glaubt, indem er sich gegen "Fremdes" wendet, übersieht, dass gerade jenes zu Bewahrende selbst das Produkt ständiger Begegnung und Veränderung ist und auch künftig nicht ohne entsprechende Impulse auskommen wird. Die vermeintlich homogene Nation erweist sich bei nüchterner Betrachtung als ein bemerkenswert vielfältiges ethnisch-kulturelles Mosaik - kaum eine Familiengeschichte verbleibt hier ohne entsprechende Beispiele.

Denn auch (oder vielleicht besonders) die deutsche Geschichte an den Schnittstellen der europä-ischen Kommunikationswege ist letztlich nichts anderes als ein Prozess kontinuierlicher Veränderung und eben auch der Akkulturation mit Fremdem. Diese war nie nur von einer Minderheit oder "fremden" Gruppe, sondern auch von der ansässigen Bevölkerung zu leisten.

QuellentextParteien nutzen Angst vor Überfremdung

Bis weit in das Spektrum der demokratischen Parteien, die in den Parlamenten der 46 Mitgliedstaaten des Europarates vertreten sind, reichen fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Argumentationen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Politologen Jean-Yves Camus im Auftrag der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri), die er [...]in Paris präsentierte. Die Ecri untersucht in Ländervergleichen und Einzelstudien, inwieweit derartige Argumentationen in den politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Gesellschaften eine Rolle spielen. Camus' Studie betrachtete die Kampagnen der Parteien vor den Wahlen zum Europaparlament im Sommer 2004, aber auch nationale Wahlen und Volksabstimmungen. Sie stellt zum einen fest, dass bis auf die Ausnahmen Belgien, Polen, Griechenland, Dänemark und Schweden "klassisch" rechtsextremistische Parteien mit fremdenfeindlichem und rassistischem Gedankengut "eher weniger Zulauf" bei Wahlen haben.
Zum anderen macht sie deutlich, dass die Parteien der "parlamentarischen Rechten" die Debatte über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei zum Anlass nahmen, die Angst vor Überfremdung zu instrumentalisieren. Insgesamt habe sich, so Camus, "seit dem 11. September 2001 der Ton verhärtet". Fremdenangst und Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie (die Gleichsetzung des Islam mit terroristischen Aktionen fundamentalistischer Gruppierungen) hätten deutlich zugenommen.

Hans-Helmut Kohl, "Parteien nutzen die Angst vor Überfremdung", in: Frankfurter Rundschau vom 24. März 2005.