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Stereotype des Ost-West-Gegensatzes | Vorurteile | bpb.de

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Stereotype des Ost-West-Gegensatzes

Wolfgang Benz

/ 9 Minuten zu lesen

Vor über 20 Jahren feierten die Berliner die Öffnung der Ost-West-Grenze. Bis heute hegen Ost- und Westdeutsche Vorurteile gegeneinander. (© AP)

Einleitung

"Typisch Ossi, typisch Wessi" - unter diesem Titel erschien im Februar 2005 ein Buch, in dem ein Westjournalist und eine Ostjournalistin zu einer "längst fälligen Abrechnung unter Brüdern und Schwestern" antraten. Das Buch stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste, die Autoren tourten durch mehrere Fernsehshows. Das öffentliche Interesse zeigt, dass auch 15 Jahre nach der deutschen Einheit Vorurteile zwischen Ost und West eine Rolle in der deutschen Gesellschaft spielen. Nach wie vor kommt es auch in der Politik in regelmäßigen Abständen zu Irritationen zwischen Ost und West, etwa im Wahlkampf 2005, als westdeutsche Politiker Ostdeutsche als "Frustrierte" bezeichneten bzw. Prägungen durch das SED-System für aktuelle Gewalttaten verantwortlich machten.

Karikatur: Ost- und Westdeutsche

Im Westen ist die Vorstellung verbreitet und deshalb leicht instrumentalisierbar, die Bevölkerung der ehemaligen DDR kranke an selbst verschuldeter Leistungsschwäche und mangelndem Leistungswillen, fehlender Initiative, Untertanenmentalität und Undankbarkeit gegenüber westlicher Aufbauhilfe. Im Osten sind viele überzeugt, dass die Bewohner des Westens materiellen Wohlstand höher zu schätzen wüssten als menschliche Wärme, dass Ellbogenkraft wichtiger genommen werde als Solidarität, dass der Vereinigung ein "Okkupationsregime" gefolgt sei, bei dem arrogante Westler den Osten ausgeplündert und regiert hätten.

Im Zuge der Umbrüche nach der Vereinigung verloren viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer ihre Arbeitsplätze und die gewohnte soziale Sicherheit. Ferner mussten sie ein niedrigeres Lohnniveau als im Westen hinnehmen. Manche sahen dies als Teil einer Strategie, die darauf abziele, den Osten niederzuhalten und seine Bewohner zu Bürgern zweiter Klasse zu machen. Zu hohe Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft, Enttäuschung darüber, dass der Rechtsstaat nicht Gerechtigkeit garantieren kann, trieb manche zur nostalgischen Verklärung der sozialen Verhältnisse in der DDR (was von Westdeutschen wiederum als Ausdruck von Rückständigkeit und Inflexibilität gewertet wurde). Die Stimmung, Opfer einer verhängnisvollen Entwicklung westlichen Ursprungs zu sein, erreichte 2004 einen Höhepunkt, als die "Hartz IV"-Reformen des Sozialsystems beschlossen wurden.

Der organisierte Rechtsextremismus nutzte die Stimmung im Osten, baute Bastionen in Sachsen und Brandenburg aus und errang bei Landtagswahlen Mandate. Ökonomische Krise und soziale Verunsicherung trieben der NPD in Sachsen und der DVU in Brandenburg Wähler in die Arme. Ursache dafür waren nicht Mentalität oder Veranlagung der Menschen oder grundsätzliche Unfähigkeit oder Abneigung gegenüber der parlamentarischen Demokratie in den neuen Bundesländern; alle, die mit solchen Erklärungsmustern argumentieren, nutzen statt rationaler Argumente die bequemeren Stereotype.

Die Euphorie der Wende, zusammengefasst in den Parolen "Wir sind ein Volk" und nun müsse "zusammenwachsen, was zusammengehört", wich nach einiger Zeit gegenseitiger Skepsis bis hin zum neuen Schlagwort vom "Supergau Deutsche Einheit". Beobachtungen, Missverständnisse sowie Erfahrungen begründeten Vorurteile und Stereotype. Sie seien "arrogant wie Besatzer", sie fühlten sich "als Sieger", seien "überheblich, gönnerhaft", sie "können sich nicht in unsere Lage versetzen, sondern reden überheblich über unsere Köpfe weg", klagten Ostdeutsche über Westdeutsche. Sie seien "oft überheblich und wollen uns für dumm verkaufen", listete das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" die am häufigsten genannten negativen Eindrücke auf, die eine Umfrage 1991 ergeben hatte. Die Westdeutschen "sehen in uns ehemaligen DDR-Bürgern die Deppen der Nation", und sie "denken, sie sind die Größten, lassen keine andere Meinung gelten", mit diesen Worten wurden Kränkungen zu Protokollgegeben, die im Vorwurf gipfelten: Sie "behandeln uns Ossis geringschätzig". Diese Vorurteile festigten sich in eineinhalb Jahrzehnten.

Das Bild der Westdeutschen über die andere Seite war mindestens so unfreundlich und kam in stereotypen Wendungen zum Ausdruck wie "Es ist ein faules Volk", die Ostdeutschen wollten "nur bedient werden", sie hätten nicht arbeiten gelernt, seien charakterisiert durch "übergroße Faulheit und Aggressivität" und, das war die deutlichste Ausgrenzung der Ostdeutschen, "sie sind nicht so fleißig wie wir Deutschen". Später kam der Vorwurf der Undankbarkeit hinzu, mit dem die westdeutsche Seite dem Osten die finanziellen Leistungen der Aufbauhilfe vorrechnete.

Unterschiedliche Sozialisation

Arroganz wurde zum Feindbild der einen Seite, das "Jammern" diente zur Festlegung der anderen. Beide Bilder gründen auf Erfahrungen, Missverständnissen und nicht richtig einzuordnenden Realitäten der Gegenseite. Die Vorurteile wurzeln in unterschiedlicher Sozialisation, basieren auf Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die von der Gegenseite nicht wahrgenommen oder nicht richtig eingeordnet werden können. Durch die Verbreitung der Vorurteile über Witze, ausgrenzende Verständigung im Alltagsgespräch und schließlich mit Hilfe öffentlicher Medien entsteht eine scheinbare Repräsentativität. Dadurch verdichtet sich die angebliche Gewissheit, alle "Wessis" seien so und alle "Ossis" verhielten sich so, auch wenn die ursprünglich zu Grunde liegenden individuellen Erfahrungen nicht verallgemeinert werden dürfen.

Verständigungsprobleme

Freilich genügten vor dem Hintergrund enttäuschter Hoffnungen (die von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" als Wiederholung des vor allem auf Wirtschaftsminister Ludwig Erhard zurückgeführten "Wirtschaftswunders" innerhalb kurzer Frist), zunichte gemachter Lebensentwürfe und Karrieren ("Abwicklung" von Institutionen und damit verbundener Existenzgrundlagen) oder verlorener Arbeitsplätze schon wenige Erfahrungen mit unsensiblen Vertretern westlicher Bürokratie, um tiefes Misstrauen entstehen zu lassen. Denn viele westliche Abgesandte aus Behörden, Industrie, Handel und der Wissenschaft verstanden die Verhaltensweisen im Osten nicht, die aus der geschlossenen Gesellschaft der DDR herrührten, auf den Normen des sozial gesicherten, aber auf Anpassung beruhenden Systems des sozialistischen Staates basierten und die erlernt, selbstverständlich und notwendig waren. Westlicher Leistungsdruck war, weil die DDR-Gesellschaft Chancen und Aufstieg anders regelte als in der Bundesrepublik üblich, nicht bekannt. Vielmehr wurde er begriffen und abgelehnt als Ausdruck einer "Ellenbogengesellschaft", in der jeder des anderen Konkurrent ist.

Mit solcher Kritik, die von Westdeutschen nicht verstanden wurde, verständigten sich die vom Westen vermeintlich Diskriminierten und ungerecht Behandelten und schlossen damit die Westdeutschen aus. Der Selbstvergewisserung dient eine Literatur, deren Muster in folgender Erzählung enthalten ist. Sie trägt den beziehungsreichen Titel "Symbole". Helden der Geschichte sind ein aufgegebener Trabant am Straßenrand und ein verlassener Hund. Ihr Besitzer, "noch keine 30 Jahre jung", hat nach der Wende sein Leben vollkommen geändert. Der Opportunist - ehedem übereifriger Genosse, jetzt überangepasster Anhänger der kapitalistischen Wirtschaftsordnung - macht Karriere, wechselt die Frau, das Auto, die Identität. Er steigt hoch auf und stürzt ins Bodenlose, als die privatisierte Firma pleite geht, er arbeitslos wird, die neue Frau davonläuft. Auf dem Weg zum Sozialamt fällt ihm der Trabant ein und der einsame Hund, den die Frau nicht mochte, den er deshalb davon gejagt hat. Zum erstenMal in seinem Leben empfindet er "einen Moment lang so etwas wie Mitgefühl oder Gewissen".

Die Botschaft und die Moral der Geschichte sind unübersehbar. Es geht vor dem Hintergrund von Mentalitätsunterschieden und Verständigungsproblemen um Verletzungen, die seit der "Wende" 1989/90 entstanden sind. Hastiger und unsensibler Umgang des Westens mit der politischen Kultur der DDR, ihren Institutionen und Gewohnheiten haben nach der Vereinigung beträchtlichen Schaden angerichtet. Die in Siegerpose abgeräumten historischen Museen und Traditionskabinette, die umbenannten Straßen, die geschleiften Denkmale lösten Reaktionen pauschaler Abwehr aus. Die westliche Sichtweise, welche die gesamte DDR-Gedenkkultur auf die Formel vom "verordneten Antifaschismus" reduzierte, mobilisierte Abwehrkräfte und bewirkte, dass sich einige Ostdeutsche sogar mit Propagandaparolen der einstigen SED aus den Zeiten des Kalten Krieges verteidigten.

QuellentextOstalgie

[...] Niemand will die DDR zurück. Aber jeder, der sie durchlebte, verteidigt in ihr sich selbst: sein wahres Leben im falschen. Die SED-Ideologie unterschied sich von der Alltagswelt wie das "Neue Deutschland" von der "Neuen Fußballwoche". Diese Differenz ist mittlerweile gesamtdeutsch anerkannt, zumal sie die politische, mediale und kulturelle Dominanz des Westens in keiner Weise berührt.
Also darf sie boomen, die Ost-Erinnerei. Ein Land seufzt: Weißt du noch? Niemand hat's befohlen, keiner kann es hindern, denn da ist ein Markt. Die Welle begann mit "Good bye, Lenin!" - kein großer, aber ein charmanter Film mit allseitigen Versöhnungsangeboten. Was die Ostalgie-Shows betrifft, so gilt unverändert das Epochenwort unseres hochverehrten Genossen Erich Honecker, dass man die Westmedien ein- und wieder ausschalten könne. Der wirkliche Osten war mündlich; man sucht ihn vergebens im Star- und Klamottenfundus eines staatshörigen Fernsehfunks.
Der Buchmarkt schreit bereits in zweiter Saison nach Ostmemoiren, mit unterschiedlichem Erfolg. Den Leser vergnügt es mäßig, wenn das Gedächtnis von Jungautoren schwächer wirkt als ihr Sinn für Konjunktur. Jana Hensels dünne "Zonenkinder" scheinen lediglich dem Wunsch entsprungen, der Generation Golf im Trabi hinterherzutuckern. Allzu oft dient derlei Gedenken sich Westerwartungen an, memoriert Pittiplatschs Abenteuer und spielt Klein-Doofi aus der Zone. Seit Thomas Brussigs "Helden wie wir" erscheint DDR-Leben als kindlich-vormoderne Existenz.
Ja, natürlich gab es Kindsköppe, dämliches Volk, SED-Vernagelung, die Stasi und Millionen Biedermeier-Ärsche an der Wand. Ebenso bevölkern mein Ostgedächtnis aber Scharen selbstbestimmter Menschen: Moralisten und Stromaufwärtskrauler, Christen, Literaten, Rocker, Tramps, deren Geist, wenn schon der Körper hierbleiben musste, die Grenzen der DDR überflog. Obschon wir die Gegenwelt nicht erfahren durften - wir wussten, dass es sie gab und suchten ihre Spiegelungen in der Kunst. Dümmer sind wir damals nicht gewesen, nur dümmer regiert. [...]

Christoph Dieckmann, Rückwärts immer. Deutsches Erinnern, Berlin 2005 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Band 500), S. 202f.

Gegenseitige Wahrnehmung vor 1989

Die (alte) Bundesrepublik ist in dieser Perspektive nur Fortdauer oder Wiedergeburt des "monopolkapitalistischen", "imperialistischen", "ausbeuterischen" Systems davor. Solche pauschale Abwertung des Weststaats als Fortsetzung des Hitlerregimes stärkt das Selbstbewusstsein, als DDR-Bürger im einzig antifaschistischen und deshalb historisch und ethisch besser legitimierten Teil Deutschlands gelebt zu haben. Sie ersetzt aber die Wahrnehmung der Realität der pluralistischen demokratischen Gesellschaft im Westen durch ein Zerrbild, das auf Stereotypen beruht. Die Realität der Wendezeit und die spätere Vereinigungskrise werden deshalb als Leben wie unter einem einer "Besatzung" ähnlichen Regime verstanden, als Verlust gewohnter Strukturen, Wertorientierungen und gesicherter Verhältnisse.

Die im Kalten Krieg verinnerlichten Schuldzuweisungen an die Bundesrepublik dienen zur Aufrechterhaltung von Selbstwertgefühlen: Man habe im moralisch und politisch besseren Staat gelebt, der sich nur aus ökonomischen Gründen nicht behaupten konnte. Als Beweis gilt Staatssekretär Hans Globke, der als enger Mitarbeiter des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Bonn von 1953 bis 1963 das Kanzleramt leitete. Globke war ein angepasster Beamter im NS-Staat gewesen und hatte am Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen gegen die Juden mitgewirkt, allerdings hatte er auch zur katholischen Opposition Verbindung gehalten. Globke wurde in der DDR zum Feindbild, zur Inkarnation der bürgerlichen Gegenwelt im Westen stilisiert. Gegen ihn wurde ein Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR veranstaltet, in dem er im Juli 1963 wegen "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verurteilt wurde. Solche Propagandaaktionen der DDR gegen Politiker und Spitzenbeamte der Bundesrepublik wirkten indoppelter Hinsicht. Im Westen verlor die DDR an Glaubwürdigkeit, weil sie Material über belastete NS-Täter nur gezielt zur Propaganda gegen bestimmte Personen herausgab, der westdeutschen Justiz aber generell Akteneinsicht verweigerte. Das diskreditierte den Oststaat dauerhaft. Bei den Bürgerinnen und Bürgern der DDR hingegen verfestigte sich die Überzeugung, dass die Bundesrepublik ein "Hort des Faschismus" sei. Dass die DDR wie die Bundesrepublik aus dem NS-Staat hervorgegangen war und es auch dort personelle Kontinuitäten gab, blieb unbeachtet.

Die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite ist durch stereotype Behauptungen gekennzeichnet, die nur zum Teil auf Enttäuschungen und Wahrnehmungen nach der "Wende", wesentlich aber auf älteren Überzeugungen beruhen. Diese wiederum sind Früchte der Propaganda, die zur Festigung des eigenen Standpunkts im Kalten Krieg mit großem Aufwand betrieben wurde, insbesondere in den Gründerjahren der beiden deutschen Staaten nach 1945. Die Abwehr der "kommunistischen Gefahr" durch Broschüren, Seminare, Kundgebungen, durch Politikerreden und Zeitungsartikel war den Verantwortlichen in der Bundesrepublik bis Ende der sechziger Jahre ein wichtiges Anliegen, für das Mühen und Kosten nicht gescheut wurden. Umgekehrt diente Politikern und Medien der DDR der Weststaat als Verkörperung aller Übel wie Militarismus, Faschismus und Imperialismus; die Menschen in der Bundesrepublik wurden als Objekte unsozialer Ausbeutung dargestellt, und Bonn galt als reaktionär, aggressiv und militant im Gegensatz zur eigenen Friedensliebe und Fortschrittlichkeit.

Die jahrzehntelangen Fehlinformationen hatten Langzeitwirkung, sie verankerten stereotype und wirklichkeitsfremde Vorstellungen der anderen Seite, die bei Bedarf zur Erklärung der Situation, als Trost und als Stärkung des eigenen Bildes nutzbar gemacht wurden. Auf der westlichen Seite wurde vor allem der Antikommunismus als Grundhaltung gestärkt und instrumentalisiert, in der Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus war der DDR ebenso die demokratische Legitimation abgesprochen wie mit dem Faschismusvorwurf die Bundesrepublik in der DDR-Perspektive in die Nähe der Hitlerherrschaft gerückt wurde.

Prägende Erfahrungen

Die Erfahrungen, die die Bürgerinnen und Bürger der beiden deutschen Staaten in der Zeit des Kalten Krieges gemacht hatten, die Einflüsse, denen sie ausgesetzt gewesen waren, die Zeitungsnachrichten, Fernsehbilder und Radiokommentare, die sie gelesen, gesehen und gehört hatten, prägten das Bild vom Anderen nachhaltig. In der Bundesrepublik galten andere Wertvorstellungen als in der DDR, dort hatten die Menschen andere gesellschaftliche Orientierungspunkte, Lebensentwürfe und Zukunftserwartungen. Im Osten war man größere Nähe und familiärere Verhältnisse gewohnt, im menschlich kühleren Westen schien man weltoffener, war jedenfalls weiter gereist und hatte mehr Kontakte zu Ausländern.

Zwei sehr verschiedene Welten trafen, ohne jede Vorbereitung, im Herbst 1989 aufeinander. Die Menschen in Ost und West mussten sich aneinander gewöhnen, hatten dazu wenig Zeit, und bald sah es so aus, als gebe es eine neue Einteilung in Verlierer und Gewinner, in Sieger und Unterlegene. Es war ganz natürlich, dass Missverständnisse auftraten. Aktionen erzeugten Reaktionen, und als der Jubel des Neubeginns und der Vereinigung verflogen war, entdeckten die Menschen das Fremde im Anderen. Sie erinnerten sich in der Enttäuschung über das schwierige Verstehen der Gegenseite mit Schärfe daran, was sie jahrzehntelang über die Menschen und deren Lebensumstände im jeweils anderen deutschen Staat gehört hatten. Sie belebten manches Vorurteil wieder, erweckten Feindbilder aus der Zeit der Konfrontation zu neuem Leben. In abgrenzenden Sprüchen wie denen von den "Besserwessis" und "Jammerossis" finden die Vorbehalte des schwierigen Zueinanderfindens Ausdruck.