Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Öffentlichkeit und Medien im digitalen Zeitalter: zwischen Differenzierung und Neu-Institutionalisierung | Medienkompetenz | bpb.de

Medienkompetenz Einführung Einleitung Literatur- und Linksammlung Zusammenfassungen der Beiträge Digitale Gesellschaft und politisches Handeln Öffentlichkeit und Medien im digitalen Zeitalter Politische Kommunikation und digitale Medien in der Demokratie Informationsinflation Online-Partizipation und Medienkompetenz Überwachung, Algorithmen und Selbstbestimmung WikiLeaks und die Rolle des Leaks-Journalismus Einsatz digitaler Technologie im Wahlkampf Herausforderungen für die Medienbildung Politisch orientierte Medienkompetenzförderung Informationsverhalten von Kindern und Jugendlichen Erfassung und Messbarkeit von Medienkompetenz Medienbildungspolitische Positionen, Forderungen und Strategien Schulische Medienkompetenzförderung Außerschulische Medienkompetenzförderung Medienkompetenzförderung in der Erwachsenenbildung Professionalisierung der Medienkompetenzförderung in der politischen Bildung Herausforderungen für die politische Bildung Medienkompetenz als Herausforderung für die politische Bildung Politische Sozialisation unter Mediatisierungsbedingungen Medienkompetenz als Schlüsselkompetenz Der Einsatz digitaler Medien im Politikunterricht Digitale Schulbücher Politik-Lernen mit digitalen Spielen Online-Planspiele in der politischen Bildung Autorinnen und Autoren Impressum

Öffentlichkeit und Medien im digitalen Zeitalter: zwischen Differenzierung und Neu-Institutionalisierung

Otfried Jarren Ulrike Klinger Otfried Jarren/ Ulrike Klinger

/ 12 Minuten zu lesen

Eine Grundlage für die Vermittlung von Medienkompetenz ist, zu verstehen, wie Öffentlichkeit strukturiert ist und welche Normen und Regeln in welcher öffentlichen Sphäre gelten. Die Digitalisierung von Kommunikationsmedien hat zu einer Transformation von Öffentlichkeit geführt, die mit Konvergenz oder Disruption nur unzureichend beschrieben ist. Aus einem stark hierarchisch, massenmedial und journalistisch geprägten nationalen Vermittlungssystem entwickelt sich ein stärker heterarchisches, von vielen organisiertes wie nutzbares globales Kommunikationssystem. Der Beitrag skizziert diese Ausdifferenzierung etablierter Massenmedien sowie die Neuinstitutionalisierung von Social Media und anderen Plattformen.

Interner Link: PDF zum Download

Eine entscheidende Grundlage für die Vermittlung von Medienkompetenz ist, zu verstehen, wie Öffentlichkeit strukturiert ist, wie sie funktioniert und welche Normen und Regeln in welcher öffentlichen Sphäre gelten bzw. gelten sollen. Welche Rolle Medien in einer Gesellschaft spielen und spielen können, hängt ganz maßgeblich davon ab, welche Vorbedingungen in der Öffentlichkeit bestehen: Wer hat welchen Zugang zur Öffentlichkeit? Wer wird wie repräsentiert oder kann sich mithilfe welcher Medien mit seinen Anliegen präsentieren? Wer kann gesellschaftlich relevante Themen setzen? Gibt es einen "Marktplatz der Ideen", auf dem sich durch Austausch und Diskussion die besseren Argumente durchsetzen können? Welche Kanäle stehen für die Kommunikation und die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zur Verfügung? Medienkompetenz setzt somit Kenntnisse über die Normen und Regeln von Öffentlichkeit und Medien voraus.

Öffentlichkeit ist dabei kein statisches Konstrukt, sondern ein dynamischer Prozess – sie verändert sich nicht außerhalb, sondern immer mit der Gesellschaft. Das bedeutet, dass nicht Technologie oder Software (z. B. Algorithmen) allein Treiber öffentlicher Dynamik sind, also deterministisch beeinflussen, wie Öffentlichkeit funktioniert. Vielmehr ist es immer das Zusammenspiel von Technologien, die mediale Kommunikation ermöglichen und vorstrukturieren, mit dem Handeln gesellschaftlicher Akteure, ihren Interessen und Werten, das die laufende Transformation von Öffentlichkeit gestaltet. In diesem Sinne verändern z. B. nicht Social Media, wie Facebook, Instagram oder Snapchat, die Öffentlichkeit, sondern, wie wir sie nutzen – zur Selbstdarstellung wie zur Vernetzung – und wie diese Nutzung gesellschaftliche Entwicklungen reflektiert.

Was ist Öffentlichkeit?

Öffentlichkeit ist als Sphäre, als Arena oder als System (Intermediäres System) definiert und analysiert worden. "Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben" (Habermas 1992: 436). Sie findet zwischen der Privatsphäre und der Sphäre staatlicher Autorität statt – als kommunikativer Raum für Debatten über kulturelle, politische und soziale Themen. Diese Auseinandersetzungen, ob diskursiv oder nicht, finden nicht um ihrer selbst willen statt, sondern um Interessen zu repräsentieren und durchzusetzen – weil Öffentlichkeit "in der Topographie der Gesellschaft an zentraler Stelle im Vorhof zur Macht platziert ist" (Gerhards/Neidhardt 1990: 11).

Öffentlichkeit ist in nahezu allen Definitionen grundsätzlich offen und unabgeschlossen, sodass jedes Mitglied einer Gesellschaft daran teilhaben oder -nehmen kann. Durch das Internet und seine zahlreichen Anwendungen ist es nun möglich, dass Menschen sich an öffentlicher Kommunikation nicht mehr nur als Publikum beteiligen können, sondern selbst aktiv werden, Einzelne oder Gruppen sowie ein Publikum adressieren können. Gleichzeitig führen Algorithmen in personalisierten Suchmaschinen und sozialen Netzwerken verstärkt dazu, dass sowohl Inhalte nur zielgruppengerecht verbreitet werden ("Filterblasen") als auch Nutzerinnen und Nutzer durch selektive Zuwendung ihre Medienmenüs eng auf ihre bestehenden Interessen abstimmen können ("Echokammern"). Wenngleich die problematischen Aspekte von Filterblasen und Echokammern tendenziell überschätzt werden, ergibt sich daraus die Frage, wie Gesellschaft oder Öffentlichkeit möglich ist, wenn es weniger gemeinsam geteilte Realität gibt, in der denselben Akteuren und Ereignissen Relevanz zugeschrieben wird.

Öffentlichkeit unter digitalen Bedingungen

Die Digitalisierung von Kommunikationsmedien hat zu einer Transformation von Öffentlichkeit geführt. Es gibt nicht nur eine, gar eine uniforme, Öffentlichkeit, in der Themen oder Interessen sichtbar sind oder nicht, sondern eine Vielzahl von parallelen, fluiden (veränderlichen) Teilöffentlichkeiten, die Öffentlichkeit konstituieren. Genauso, wie Mediensysteme nicht mehr dichotom als "online" oder "offline" diskutiert werden können, sondern als hybride Mediensysteme sowohl Offline- als auch Online-Elemente enthalten (Chadwick 2013), ist es nicht sinnvoll, Öffentlichkeiten mit Adjektiven wie "digital", "virtuell" oder "vernetzt" zu versehen. Eine "Netz-Öffentlichkeit" gibt es ebenso wenig wie eine "Radio-Öffentlichkeit" oder eine "Zeitungs-Öffentlichkeit" (Beck 2010: 32), schon gar nicht als Akteur. Öffentlichkeit wie Medien existieren nicht mehr im Singular – sie haben sich ausdifferenziert.

Durch eine neue Vielfalt an Kanälen, über die von einzelnen oder vielen an viele kommuniziert werden kann ("mass self-communication", Castells 2007), entstehen neue und vielfältige Kommunikationsbeziehungen und Interaktionsmodi. Kommunikationsbeziehungen sind nicht mehr überwiegend dyadisch (Sender-Empfänger), sondern triadisch (Sender-Empfänger-Dritte). Dies hat zum einen ökonomische und technische Gründe: So basieren die Geschäftsmodelle nahezu aller Plattformen, Suchmaschinen oder Apps auf der Auswertung und Monetarisierung von Nutzerdaten. Jegliche Kommunikation von einem Sender an einen oder viele Empfänger wird also von Dritten, in diesem Falle den Anbieterfirmen und einer ganzen neuen Industrie an Datenfirmen, mitgelesen, beobachtet und auf individueller Ebene ausgewertet ("Data-Mining"). Zum anderen wird Kommunikation zunehmend triadisch, weil auch bei persönlicher Kommunikation zwischen zwei Akteuren stets ein reales und imaginiertes Publikum beteiligt ist, das mitliest oder über Shares an der Kommunikation beteiligt wird (z. B. die "Freunde von Freunden" bei Facebook).

Auch die Interaktionsmodi sind zunehmend triadisch: Während traditionelle Massenmedien vor allem durch Konkurrenz als "einseitige Beobachtungs- und Beeinflussungsbeziehungen" gekennzeichnet sind, ermöglichen internetbasierte Anwendungen auch "wechselseitige, mehrstufige und sequenzielle Kommunikation, wie sie für Konflikte und Kooperationen charakteristisch ist" (Neuberger 2014: 567). Informationen und Interaktionen zirkulieren dadurch nicht mehr nur redundant im engeren Kreis von Freunden und Familie, gespeist aus journalistischen Massenmedien, sondern jede und jeder kann auch sehen, kommentieren, bewerten und weiterleiten, was entfernte Bekannte und deren Kontakte im eigenen Netzwerk veröffentlichen oder kommentieren. Daher greift die Annahme zu kurz, wir lebten in Filterblasen, in die aufgrund personalisierter Algorithmen nur das durchdringt, was bestehende Meinungen bestätigt. Tatsächlich zeigen Studien immer wieder, dass die selektive Medienzuwendung zwar zu einer meinungskonformen Auswahl führt, aber nicht in dem Maße, dass andere Ansichten ausgeblendet würden (Garrett 2009, Bakshy u. a. 2015).

Was sind Medien?

Mit der Digitalisierung haben sich neue Medien institutionalisiert (Jarren 2016a). Damit bedürfen die hergebrachten Definitionen von "Medien" der Modifikation. Das zeigt sich auch an rechtlichen Debatten – etwa wenn das Management von Facebook im Kontext kritischer gesellschaftlicher Anfragen zum Löschen von Hasskommunikation oder Fehlinformationen betont, dass man kein Medium bzw. kein Medienunternehmen sei.

In einem traditionellen Verständnis sind Medien spezifische Organisationen, die auf Dauer gestellt sind und in denen nach einem selbstdefinierten publizistischen Programm, auf der Basis einer publizistisch-politischen Ausrichtung (redaktionelle Linie), professionell (Journalistinnen und Journalisten) und arbeitsteilig agiert wird. Publizistische Betriebe gehören zu den weltanschaulichen Tendenzbetrieben, mit denen normative Zielvorstellungen verbunden sein sollen bzw. dürfen. Im Kern dieser Organisation arbeiten Personen journalistisch oder publizistisch, indem sie Informationen auswählen, aufbereiten und bereitstellen. Dies tun sie professionell, zugleich aber auch verbunden mit dem Ziel, gewissen gesellschaftlichen Kräften oder Ideen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Massenmedien der Gesellschaft sind zwar ökonomischen Zielen verpflichtet, sie positionieren sich aber zugleich auch politisch.

Medien sind nicht nur Organisationen, sie sind auch Institutionen. Institutionen sind soziale Systeme der Gesellschaft, sie ermöglichen soziales Handeln und tragen zur sozialen Ordnung der Gesellschaft bei. Sie setzen Regeln, steuern damit Erwartungen und etablieren dadurch eine soziale Ordnung, die sie zugleich auch repräsentieren (Jarren 2014). So werden von den Massenmedien in unterschiedlicher Weise Nachrichten produziert und in medienspezifischer Weise bereitgestellt, z. B. als Textform in den Printmedien oder als gesprochene Information beim Radio. Die Institution "Massenmedien" verfügt über gemeinsame Normen und Regeln und innerhalb der organisationalen Felder, die die Mediengattungen bilden, finden sich spezifische regulative, normative wie kulturell-kognitive Regeln. So muss ein Interviewtext bei einer Printpublikation vor der Veröffentlichung zur Genehmigung vorgelegt werden, ein O-Ton für einen Fernsehbeitrag hingegen nicht. Diese Normen und Regeln sind den Gesellschaftsmitgliedern bekannt (oder sollten es sein), sie gelten als legitim.

Den Massenmedien ist etwas gemein: Sie sollen und wollen eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen, beziehen sich auf und richten sich an die ganze Gesellschaft und verpflichten sich zur Herstellung von Öffentlichkeit. Sie repräsentieren aber eine spezifische journalistisch-publizistische Kultur, die in der Gesellschaft bekannt ist (oder sein sollte). Als intermediäre Organisationen verfolgen die uns bekannten Massenmedien eigenständige, spezifische Vermittlungsinteressen ("links" – "rechts"; bestimmte Themen oder Gruppenziele) oder werden, wie der öffentliche Rundfunk, auf allgemeine Vermittlungsleistungen verpflichtet. Die Rezipierenden wissen um das jeweilige Medienprofil und richten ihr Nutzungsverhalten danach aus (Jarren 2016b).

Neben diesen publizistisch-journalistisch ausgerichteten Massenmedien sind mit den Social-Media-Anbietern Organisationen getreten, die nicht dem organisationalen Feld der Massenmedien zugerechnet werden können – und die sich in diesem auch nicht verankern wollen. Die Mehrzahl der neuen Anbieter wurde nicht von den traditionellen Massenmedien etabliert. Bei diesen neuen Anbietern handelt es sich somit um Formen der Neuinstitutionalisierung von Medien. Sie folgen einer grundsätzlich anderen Medienlogik als Massenmedien (Klinger/Svensson 2015, 2016). Um Medien handelt es sich, weil sie Informationen und Wissen anbieten, die von Einzelnen, Gruppen oder allen genutzt werden können. Sie stellen Plattformen bereit und ermöglichen damit auch die Verbreitung von Informationen, die für die persönliche und für die gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung Relevanz haben. Damit erweitern diese Plattformen die Möglichkeiten zur öffentlichen Meinungsäußerung und auch zur Vernetzung, was für demokratische Gesellschaften wichtig ist. An den Debatten darüber, was man auf den Plattformen bereitstellen oder nicht sagen sollte, zeigt sich, dass der Institutionalisierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Es gibt Regel- und Normenkonflikte. Es dürften sich im Ergebnis aber spezifische Regeln und Normen auch für diese Medien herausbilden. An der Debatte über die allgemeinen Geschäftsbedingungen und deren Änderungen oder über die Zulässigkeit von Äußerungen lässt sich dieser Prozess derzeit beobachten.

Social-Media-Anbieter, aber auch Suchmaschinen und andere Plattformen, beeinflussen das Informationssuch- und -auswahlverhalten und damit sowohl die private wie die öffentliche Meinungs- und Willensbildung als auch Entscheidungen. Insgesamt wirken damit die neuen medialen Formen, vor allem die Plattformen, auf die Konstitution der Öffentlichkeit wie auf die öffentlich geltenden Kommunikationsnormen und -regeln ein.

Medienwandel: Differenzierung und (Neu-)Institutionalisierung

Der Medienwandel ist durch zwei zentrale, sich partiell überlappende, Prozesse geprägt: Differenzierung im Bereich der (Massen-)Medien sowie Institutionalisierung neuer Medien (Plattformen). Aus dem vormaligen Massenmediensystem entwickelt sich ein allgemeines Medien- und Kommunikationssystem für unterschiedliche Formen von Information wie Kommunikation. Insoweit entsteht aus dem dominant nationalstaatlich geprägten, professionell bestimmten und stark von professionellen Akteuren (Journalistinnen und Journalisten) und Eliten beeinflussten Massenmediensystem (Presse, Radio, Fernsehen) ein Medien- und Kommunikationssystem, dass sowohl für Individual-, Gruppen- als auch Massenkommunikation von Einzelnen genutzt werden kann. In diesem System sind zahllose Produktions-, Vermittlungs-, Beobachtungs- und Bewertungsmöglichkeiten vorhanden. Generell institutionalisiert sich aus dem stark hierarchisch, massenmedial und journalistisch geprägten nationalen Vermittlungssystem ein stärker heterarchisches, von vielen organisiertes wie nutzbares globales Kommunikationssystem. Damit differenziert sich auch Öffentlichkeit aus und es wandeln sich die Regeln und Formen für Öffentlichkeit und alle Formen der Kommunikation.

Wenn in diesem Zusammenhang von Konvergenz oder Disruption gesprochen wird, so verbleibt diese Sichtweise zu nahe an bestehenden Institutionen und Strukturen. Mit der Digitalisierung entstehen, wie dargelegt, neue mediale Vermittlungssysteme, die von neuen Organisationen etabliert werden. Und damit werden auch neue, weitere Informations- und Kommunikationsregeln und Normen institutionalisiert. Will man den Wandel charakterisieren, so ist von einem Prozess der Neuinstitutionalisierung zu sprechen mit weitreichenden, wohl aber noch nicht sicher abschätzbaren Folgen auch für die herkömmlichen Intermediäre der Gesellschaft, zu denen vor allem die Massenmedien gehören. Es sind aber eben nicht allein die Massenmedien und der professionelle Journalismus betroffen: Auch gesellschaftliche Organisationen wie Parteien, Verbände, Kirchen oder Vereine müssen sich neu organisieren, um ihre Informations- wie Kommunikationsleistungen erfolgreich zu erbringen. Insoweit sind der Differenzierungsprozess sowie die Institutionalisierung neuer Medien gesamtgesellschaftlich relevant und folgenreich.

Neben die traditionellen massenmedialen Organisationen tritt nun ein anderer Typ von Intermediären mit partiellen Vermittlungs-, Repräsentations- und auch Öffentlichkeitsansprüchen und -interessen. Zum Teil wollen die Anbieter lediglich Plattformen sein, die jederzeit allen zur Verfügung stehen – und eben nicht mehr. Sie wollen nicht, um es historisch zu formulieren, dem Klerus, der Obrigkeit oder den gesellschaftlich relevanten Gruppen dienen. Zudem verfolgen sie, zumindest explizit, kein eigenes, klar definiertes inhaltliches Vermittlungsinteresse.

Damit wandelt sich der Modus bezüglich der Medien: Massenmedien wurden bislang immer aufgrund und auf der Basis sozialer wie politischer Ansprüche durch benennbare politische Kräfte institutionalisiert: Die bürgerliche Gesellschaft setzte die Meinungs- und Medienfreiheit durch. Die Arbeiterbewegung schaffte sich eigene Medien, um den Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten und ihre Ziele und Interessen anzumelden und durchzusetzen. Ähnlich war der Institutionalisierungsmodus bei den neuen sozialen Bewegungen: Sie bedienten sich eigener Medien (Alternativpresse, Freie Radios, Offene Kanäle, Lokalradios etc.), um sich zu organisieren, Interessen anzumelden und durchzusetzen. Auch hinter den Social-Media-Anbietern stehen neben ökonomischen Interessen soziale Ideen, aber dies sind keine spezifischen Ideen und es stehen hinter ihnen keine politischen Akteure. Allerdings: Mit der Netzkommunikation sind in allgemeiner Hinsicht Partizipations- und Beteiligungsansprüche verbunden, mit Social Media gar gesellschaftliche Inklusionsansprüche bzw. Inklusionsversprechen.

Medienwandel: Folgen für Öffentlichkeit

Die skizzierten Prozesse der Mediendifferenzierung und Neuinstitutionalisierung von Medien haben Auswirkungen auf die Regeln und Normen für Information und Kommunikation. Vielfach ergeben sich deshalb Konflikte, so zwischen den Selektionsnormen von professionell tätigen Journalistinnen und Journalisten und den Entscheidungen von Laien, einer Information durch Bewerten ("like") oder durch Weiterleiten Relevanz zu verleihen. Der Journalismus verliert seine Bedeutung als "Gatekeeper", sein Monopol über Themenauswahl und Relevanzzuschreibung ist Vergangenheit.

Um mit der neuen Vielfalt an Inhalten und Interaktionsangeboten umgehen zu können, brauchen Mediennutzende Orientierung. Dazu dienen einerseits neue Institutionen in technischer Form, z. B. Algorithmen. Die Art und Weise, wie diese die Selektion von Themen, Informationen und Akteuren vornehmen, ist momentan gesellschaftlich unreguliert und nahezu vollständig intransparent. Hinter dieser Software stehen aber auch spezifische Weltvorstellungen und Geschäftsmodelle – also die regulativen, normativen und kulturell-kognitiven Elemente von Institutionen (Scott 1995). Andererseits orientieren Mediennutzende sich auch an den Selektionen, Transaktionen, Bewertungen und Interaktionen ihrer "Freunde" auf Plattformen, wie z. B. Social Media. Dabei scheint die Grundlage der Selektion und Themensetzung, anders als bei Algorithmen, transparenter – die Informationsquellen sind die eigenen Kontaktpersonen, mit denen man sich selbst vernetzt hat. Auf diese Art verliert der klassische Journalismus ebenfalls an Bedeutung und Legitimation, weil nicht mehr der Selektionsmechanismus Vertrauen in Informationen herstellt (z. B. journalistische Produktionsprozesse), sondern der letzte Akteur in der Distributionskette, bevor die Information beim Nutzenden ankommt (der meistens eine dem Nutzenden nahestehende Person ist).

Die Differenzierung von traditionellen Massenmedien und die Neuinstitutionalisierung von Plattformen und Suchmaschinen bedeutet, dass in absehbarer Zeit öffentliche Kommunikation in weiten Teilen gesellschaftlich unreguliert, auf der Basis intransparenter Regeln und Normen und ohne gesellschaftspolitisches Ziel oder Auftrag stattfinden wird. Gleichzeitig muss die Frage verhandelt werden, wer mit welcher Legitimation Regeln für Plattformen setzen und durchsetzen kann und soll. Solange diese durchaus konflikthaltigen Institutionalisierungsprozesse andauern und demokratische Gesellschaften neu darüber befinden müssen, welchen Regeln öffentliche Kommunikation fortan folgen soll, ist die Vermittlung von Medienkompetenz ganz besonders relevant. Sie kann Nutzerinnen und Nutzern dabei helfen, in einem weitgehend unregulierten Kommunikationsbereich seriöse Informationsquellen zu identifizieren, die Nutzungsbedingungen von Plattformen zu verstehen und kritisch zu hinterfragen sowie die eigenen Nutzungsmuster (und den Umgang mit Daten) zu reflektieren.

Schlussbemerkungen

Differenzierung und Neuinstitutionalisierung sind sozial folgenreiche Prozesse. Es wird deutlich, dass wir nicht mehr von "den" Medien oder "der" Öffentlichkeit sprechen können. Es existieren zahlreiche Formen von Medien wie von Öffentlichkeiten nebeneinander. Für diese unterschiedlichen Institutionen gelten unterschiedliche Regeln, Normen und Konventionen. Zum Teil sind diese noch im Entstehen. Der Prozess der Institutionalisierung verläuft, das wissen wir aus historischen Erfahrungen, immer konflikthaft, weil sich die letztlich allgemein akzeptierten Regeln und Normen erst durchsetzen müssen. Dazu können politische wie rechtliche Entscheidungen einen Beitrag leisten. Wichtig ist dafür aber der gesellschaftliche Diskurs, denn es ist die Gesellschaft, die durch den sozialen Gebrauch von Medien, welcher Art auch immer, über die geltenden Regeln und Normen entscheiden muss.

Die neuen Medien sind auch deshalb eine kulturelle wie politische Herausforderung, weil ihre Institutionalisierung nicht in einem Nationalstaat stattfindet bzw. allein von nationalstaatlichen Interessen beeinflusst werden kann. Potenziell sind Social-Media-Angebote weltgesellschaftlich angelegt und damit kommen höchst unterschiedliche Vorstellungen von Meinungsvielfalt und von Meinungsäußerungsmöglichkeiten ins Spiel. Mit der steigenden Pluralität wird man umzugehen lernen müssen. Zugleich macht dies aber auch die Besinnung auf eigene Ziele wie Normen nötig, verbunden mit dem Anspruch, sich selbst in die Debatten aktiv einzubringen (Ash 2016). Das ist höchst anspruchsvoll und voraussetzungsvoll und bedarf der gesellschaftlichen Reflexion. Dazu kann der Erwerb von Medienkompetenz beitragen.

Literatur

Ash, Timothy Garton (2016): Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt, München.

Bakshy, Eyton/Messing, Solomon/Adamic, Lada A. (2015): Exposure to ideologically diverse news and opinion on Facebook, in: Science, Heft 6239, S. 1130 – 1132.

Beck, Klaus (2010): Soziologie der Online-Kommunikation, in: Schweiger, Wolfgang/Beck, Klaus (Hrgs.): Handbuch Online-Kommunikation, Wiesbaden, S. 15 – 35.

Castells, Manuel (2007): Communication, power and counter-power in the network society, in: International Journal of Communication, Band 1, S. 29.

Chadwick, Andrew (2013): The hybrid media system: Politics and power, Oxford.

Garrett, R. Kelly (2009): Politically motivated reinforcement seeking. Reframing the selective exposure debate, in: Journal of Communication, Heft 4, S. 676 – 699.

Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm (1990): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, WZB Discussion Paper No. FS III 90 – 101, Berlin.

Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main.

Jarren, Otfried (2014): Erfüllen die Medien heute einen demokratischen Auftrag?, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 3, S. 317 – 327.

Jarren, Otfried (2016a): Nicht Daten, sondern Institutionen fordern die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft heraus, in: Publizistik, Heft 4, S. 373 – 384.

Jarren, Otfried (2016b): Medien als Institutionen: Medien oder Journalismus als Institution?, in: Jarren, Otfried/Steininger, Christian (Hrsg.): Journalismus jenseits von Markt und Staat. Institutionentheoretische Ansätze und Konzepte in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Baden-Baden, S. 35 – 62.

Klinger, Ulrike/Svensson, Jakob (2015): The emergence of network media logic in political communication: A theoretical approach, in: New Media & Society, Heft 8, S. 1241 – 1257.

Klinger, Ulrike/Svensson, Jakob (2016): Network Media Logic: Some Conceptual Considerations, in: Bruns, Axel u. a. (Hrgs.): Routledge Companion to Social Media and Politics, New York-London, S. 23 – 38.

Neuberger, Christoph (2014): Konflikt, Konkurrenz und Kooperation. Interaktionsmodi in einer Theorie der dynamischen Netzwerköffentlichkeit, in: Medien und Kommunikationswissenschaft, Heft 4, S. 567 – 587.

Scott, W. Richard (1995): Institutions and organizations. Thousand Oaks.

Jarren, Otfried, Dr., Professor für Publizistikwissenschaft am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich; Forschungsschwerpunkte: Medien- und Öffentlichkeitswandel, Media Governance, Politische Kommunikation.

Klinger, Ulrike, Dr., Oberassistentin am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich; Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Digitale Kommunikation, Öffentlichkeitswandel.