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Politische Kommunikation und digitale Medien in der Demokratie

Marianne Kneuer

/ 14 Minuten zu lesen

Medien sind ein wichtiger Bestandteil der kommunikativen Gestaltung des öffentlichen Raumes, insbesondere für die Verständigungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den politischen Eliten, gesellschaftlichen Akteuren und der Bevölkerung. Soziale Medien haben die politischen Kommunikationsstrukturen massiv verändert. Diese Veränderung wirkt sich einerseits in einer quantitativen Vervielfachung der Kanäle politischer Kommunikation aus, andererseits schlägt sie sich qualitativ nieder in der Art der Kommunikation sowie in den Interaktionsmöglichkeiten zwischen politischen Akteurinnen und Akteuren, gesellschaftlichen Gruppen und Bürgerinnen und Bürgern. Dieser Beitrag widmet sich vor allem zwei Fragen: Wie verändern sich politische Prozesse aufgrund der Nutzung digitaler Medien durch politische Akteurinnen und Akteure? Und wie sind diese Veränderungen im Hinblick auf die demokratischen Prozesse zu beurteilen?

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Einleitung

Seit der Entstehung der Mediengesellschaften im 20. Jahrhundert wird Politik als kommunikativer Prozess verstanden. Die Handlungen der Akteure im politischen Raum – seien es die Bürgerinnen und Bürger, die gesellschaftlichen Organisationen, die Parteien und Verbände und letztlich die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger – beruhen in großem Maße auf kommunikativen Mechanismen. Das gilt für die Artikulation politischer Interessen ebenso wie für deren Bündelung zu programmatischen Positionen im politischen Wettbewerb und schließlich auch für die politischen Entscheidungen, ihre Durchsetzung und Legitimierung. Insofern Politik kommunikativ vermittelt werden muss – der Begriff der Politikvermittlung geht auf Ulrich Sarcinelli (1987) zurück – rücken neben der Informierung und Orientierung der Bürgerinnen und Bürger die Zustimmungsabhängigkeit und die Begründungsbedürftigkeit von Politik in den Vordergrund. Für diese kommunikative Gestaltung des öffentlichen Raumes, insbesondere für die Verständigungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den politischen Eliten, gesellschaftlichen Akteuren und der Bevölkerung sind in demokratischen Gesellschaften Medien unverzichtbar.

Klassischerweise werden Medien verschiedene politische Funktionen zugeschrieben (Ronneberger 1974: 197 – 205, Schulz 2011: 309). Dies ist erstens die Informierung und Bildung der Bürger. Bildung ist hier zu verstehen als die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, sie zusammenhängend zu begreifen und sich auf dieser Grundlage eine Meinung zu bilden. Die Verbreitung von umfassenden Informationen über das politische Geschehen und seine Hintergründe ist hierzu, zweitens, eine wesentliche Grundlage. Drittens fungieren Medien selbst als Akteur im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und in dieser Rolle leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Kontrolle der politischen Akteure (Stichwort: "Vierte Gewalt").

Auf der Grundlage der klassischen Massenkommunikation ergibt sich, viertens, eine zentrale Funktion in der Herstellung von Öffentlichkeit. Dieser Funktion kommt deshalb eine gewichtige Bedeutung zu, weil Öffentlichkeit mit dem Raum gleichzusetzen ist, in dem die politischen Akteure ihre Ideen, Programme und Ziele zur Diskussion stellen und sich demzufolge die "öffentliche Meinung" bildet, die wiederum – potenziell entscheidungswirksam – Einfluss auf Regierungshandeln nimmt. Medien – in Zeiten der Massenkommunikation Rundfunk und Presse – stellen diesen Raum der Öffentlichkeit für die politische Debatte und Willensbildung her. Verbunden mit dieser Funktion ist die Strukturierung der politischen Kommunikation, nämlich im Sinne Luhmanns als Selektionshilfe und als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität (Luhmann 1974: 28, 34 f.). In diesem Zusammenhang liefern Medien, fünftens, eine Integrationsleistung, deren Bedeutung wächst, je stärker sich die moderne Gesellschaft ausdifferenziert und damit der Gefahr des Auseinanderfallens ausgeliefert ist. Demgegenüber wurde klassischen Medien zugeschrieben, Unübersichtlichkeit, die Entstehung von Subkulturen oder politischen Absentismen zu vermeiden, das Gesamtinteresse gegenüber den Einzelinteressen bewusst zu machen und so den Blick vom Persönlichen zum Allgemeinen zu lenken (Ronneberger 1974: 201).

Die technischen Merkmale und die damit verbundenen Funktionslogiken sozialer Medien haben die politischen Kommunikationsstrukturen massiv verändert. Diese Veränderung wirkt sich einerseits quantitativ in einer Vervielfachung der Kanäle politischer Kommunikation aus, andererseits schlägt sie sich qualitativ in der Art der Kommunikation sowie in den Interaktionsmöglichkeiten zwischen politischen Akteurinnen und Akteuren, gesellschaftlichen Gruppen und Bürgerinnen und Bürgern nieder. Zudem ergibt sich ein erweitertes politisches Potenzial sozialer oder digitaler Medien, dessen Bewertung noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Bereits mit den Anfängen des Internets in den 1990er Jahren haben sich vor allem die Möglichkeiten der Informationsverbreitung ebenso wie die der Informationsgewinnung deutlich erweitert. Websites stellten neue Orte der Selbstdarstellung von Akteuren dar und gaben deren Zielsetzungen einen neuen Rahmen. E-Mails vereinfachten insbesondere internen Informationsaustausch in Parteien, Organisationen und Gruppen, machten Vernetzung billiger, schneller und erhöhten die Reichweite der Kommunikation. Das Aufkommen neuer Anwendungen im Web 2.0 hat die Vernetzung noch sehr viel stärker vorangetrieben. Die Dynamik der technischen Entwicklung (drahtlose Netzwerke, Internet über mobile Endgeräte, Social Software, Social Media) hat die Formen der Online-Kommunikation und -Interaktion, aber vor allem auch der weitgehenden, nämlich unendlichen, und grenzüberschreitenden Vernetzung auf sozialen Plattformen erheblich erweitert. Über rein kommunikativen Austausch hinaus ermöglichen soziale Medien Interaktionen zwischen den Nutzerinnen und Nutzern etwa von Microblogs wie Twitter, content communities wie Tumblr oder sozialen Netzwerken wie Facebook.

Ähnlich wie bei vorhergehenden Innovationen stellt sich in Bezug auf die Emergenz des Internets und sozialer Medien die Frage, inwieweit sich die Rahmenbedingungen von Politikvermittlung verändert haben und welchen Einfluss die Funktionslogik dieser neuen Technologie auf politische Kommunikation und darüber hinaus auf politische Prozesse im Allgemeinen hat. Analog den Kontroversen im Zusammenhang mit früheren Innovationen, bei denen strittig war, inwieweit der jeweilige Innovationsschub und die damit verbundenen Nutzungspotenziale des "neuen" Mediums positive oder negative Wirkungen entfalten, verhält es sich bei den digitalen Medien. Dieser Beitrag widmet sich vor allem zwei Fragen: Wie verändern sich politische Prozesse aufgrund der Nutzung digitaler Medien durch politische Akteure? Und wie sind diese Veränderungen im Hinblick auf die demokratischen Prozesse zu beurteilen?

Die Veränderung demokratischer Prozesse durch digitale Medien

Das technische Potenzial digitaler Medien birgt neue Merkmale (Interaktivität, Echtzeit, Ortlosigkeit, Synchronizität, Multimodalität) und andersartige Handlungslogiken (Vernetzung, Transnationalität, Konnektivität). Die Ortlosigkeit und Entgrenzung ermöglicht Informationsverbreitung mit großer, nämlich potenziell globaler Reichweite. Die exorbitant zunehmende Nutzung mobiler Endgeräte hat diese Ortlosigkeit noch einmal verstärkt. Auch die zeitliche Dimension von Kommunikation hat sich verändert: Inhalte werden in Echtzeit verbreitet, womit nicht nur eine schnelle Übermittlung von Informationen, sondern auch der direkte Austausch quasi wie in der analogen Welt möglich ist. Die Interaktivität erweitert im Gegensatz zu den klassischen Massenmedien und ihrer eindimensionalen, indirekten Kommunikation nach dem Sender-Empfänger-Modell die Interaktionsmöglichkeiten und macht den einzelnen Nutzer zugleich zum Sender und Empfänger, der (a-)synchron mit einer oder mehreren Personen, in einer Gruppe mit mehreren oder als Teil einer Gruppe mit einer Person kommuniziert und sich austauscht. Diese nutzerbasierte Bereitstellung von Inhalten geschieht zudem multimodal, d. h., es können sowohl Texte verbreitet werden als auch Fotos, gleichermaßen aber auch audio-visuelle Elemente (Filme, Podcasts etc.), und all diese können bei ihrer Verbreitung miteinander kombiniert werden.

Das technische Potenzial sozialer Medien hat mehrere Effekte auf die politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse: Erstens haben sich die Kommunikationsströme erheblich beschleunigt, was permanente Reaktionen der Politikerinnen und Politiker nicht nur auf Nachrichten, sondern auch auf Posts, Blogs etc. erfordert. Zweitens ist auf der anderen Seite die Nutzerin bzw. der Nutzer zum Content Provider geworden bzw. zum "Produser" in einer Doppelrolle als User und Producer. Dies hat dazu geführt, dass die Bürgerin oder der Bürger die politischen Akteure (und umgekehrt) direkt adressieren und somit ein direkter Bürger-Politiker-Dialog stattfinden kann. Politikerinnen und Politiker haben diese direkte Ansprache der Bürgerinnen und Bürger längst als wirkungsvolle Kommunikationsform für sich entdeckt und sind daher in Netzwerken wie Facebook präsent oder bedienen sich Microblogs wie Twitter. Damit ist drittens ein Bedeutungsverlust institutionalisierter Kommunikationskanäle verbunden. Klassische Medien stellen nicht mehr für alle Bürgerinnen und Bürger die zentrale Instanz für die Informierung über politische Vorgänge dar (dies trifft vor allem auf Jüngere zu) und üben nicht mehr in gleichem Maße ihre Filter- und Bündelungsfunktion für Nachrichten aus. Infolgedessen ist der Großteil an Botschaften inzwischen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich ungefiltert im Kommunikationsraum bewegen. Eine wichtige Rolle für die Art der Kommunikation spielt, viertens, die Anonymität im Netz; einerseits senkt sie die Hürden zur Teilnahme an der Kommunikation, andererseits wird in ihr einer der Gründe für die zu beobachtende Senkung der Hemmschwelle (Stichwort: Hate Speech) gesehen.

Auf zwei weitere zentrale Charakteristika des Internets wies bereits früh der Netzwerktheoretiker Manuel Castells hin. Das Netz entwickelt und fördert nach ihm eher schwache denn starke Verbindungen zwischen den Nutzern und führt außerdem zu einer "Privatisierung der Soziabilität" (Castells 2000: 389) – Entwicklungen, die Wellman als "vernetzten Individualismus" (Wellman 1999) und Bennett als Personalisierung von politischer Kommunikation (Bennett 2003) beschreiben. Die Kommunikation in diesen Netzwerken ist "dünn", dafür reich an Identitäts- und Lifestyle-Narrativen (ebd: 145–151). Dabei zeigt sich, dass in der Kommunikation ideologische Standpunkte oder politische Ziele ihre Bedeutung verloren haben, während die Bedeutung individueller Identitäten und emotionaler Verbindungen gewachsen ist. Das Internet stellt ein besonders gut geeignetes Medium dar, die Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern zu befriedigen, die keine "dicken", also inhaltsorientierten, dauerhaften und tiefgehenden Kommunikationskontexte suchen, sondern bevorzugt gefühls-, betroffenheits- oder ereignisgelenkte, oberflächliche und kurzfristige Botschaften wahrnehmen und versenden. Weitergedacht lässt sich dies als neuen Typ von Öffentlichkeit konzipieren, nämlich die "persönliche" Öffentlichkeit im Sinne von Nutzerinnen und Nutzern, die sich "mit ihren eigenen Interessen, Erlebnissen, kulturellen Werten oder Meinungen für ein Publikum präsentieren, ohne notwendigerweise gesellschaftspolitische Relevanz zu beanspruchen" (Schmidt 2011: 107). Dazu weiter unten mehr.

Schließlich folgt die Kommunikation größtenteils der Funktionslogik des Netzes, insofern sie dezentral abläuft. Zusammen mit dem Bedeutungsverlust institutionalisierter Kommunikationskanäle bedeutet dies für politische Akteure, dass einerseits die Setzung eigener Themen und deren "Karrieren" schwieriger berechenbar sind und nicht zuletzt auch die Adressierung einer strukturierten Öffentlichkeit immer schwieriger wird; andererseits werden Politikerinnen und Politiker von Themen, die das Netz hervorbringt, getrieben. Für die in demokratischen Gesellschaften so wesentliche Funktion von Öffentlichkeit als Raum, in dem die Interessen der Bürgerinnen und Bürger artikuliert, aggregiert und kanalisiert werden, bedeutet die Dezentralisierung ein erhebliches Problem. Die Pluralisierung kommunikativer Orte im Netz erweitert nicht nur die öffentlichen Räume, gleichzeitig zerstäubt sie auch die durch die klassischen Massenmedien verhältnismäßig strukturierte Öffentlichkeit (Dahlgren 2005: 152). Elemente, die eine ähnlich strukturierende Funktion in Bezug auf die Öffentlichkeit ausüben könnten, nämlich "die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in synthetisierter Form wieder redigieren" (Habermas 2008: 161), fehlen (vorerst).

Durch die Pluralisierung durch Zigtausende von Websites, Chat Rooms, Blogs etc. entsteht eine Myriade von selbstbezüglichen Teilöffentlichkeiten, die "Informationskokons" bilden und die gemeinsame, für das politische Gemeinwesen essenzielle öffentliche Sphäre unterminieren können (Kneuer/Richter 2015: 98). Eine weniger kritische Interpretation betrachtet dies als Entwicklung zu einer "persönlichen Öffentlichkeit", verstanden als eine Erweiterung professionell hergestellter Öffentlichkeit. Diese Sonderform onlinebasierter Öffentlichkeit ist nicht flüchtig, da die Botschaften dauerhaft gespeichert und duplizierbar sind, d.h., Informationen können neu zusammengesetzt und weiterverwendet werden (remixing, mashup) und sind in ihrer Reichweite skalierbar sowie durchsuch- und auffindbar durch Suchmaschinen (Fraas u.a. 2012: 43). "Persönliche" Öffentlichkeiten ersetzen nicht die "klassische" Öffentlichkeit, sondern sind eher als Ergänzung zu sehen, nichtsdestotrotz beeinflussen sie die Netzkommunikation erheblich. So ist es sehr wahrscheinlich, dass die subjektiv geprägte Online-Kommunikation – Orientierung an eigenen Interessen, Erlebnissen, Meinungen etc. – sich gleichermaßen in der Offline-Kommunikation widerspiegelt.

Die Online-Öffentlichkeit unterliegt zudem einer anderen Strukturierung, nämlich quasi einer technischen, durch die Relevanzsetzung der Suchmaschinen. Algorithmen steuern die Selektionsprozesse des Informationsangebotes (ebd.: 35). Des Weiteren dürfen erhebliche Zweifel angemeldet werden, ob dem Netz die von Netztheoretikern zugeschriebene Hierarchiefreiheit und damit größere Gleichheit der Stimmen im Netz tatsächlich zugeschrieben werden kann. Denn zugleich können Diskurse durch die lauteste bzw. schrillste Stimme, einen gelenkten Algorithmus oder gar massenhaft eingesetzte Bots gesteuert oder sogar dominiert werden.

Ein weiteres Spannungsmoment liegt darin, dass soziale Medien einerseits aufgrund ihres Potenzials der Vernetzung, Konnektivität und Interaktivität als neue Möglichkeitsräume für Diskurs gesehen werden, die in ihnen vorherrschende Interaktion, die auf losen Bindungen, individuellen Identitäten und fluiden politischen Ideen beruht, es jedoch andererseits schwierig macht, von Deliberation und Öffentlichkeit in ihrer ursprünglichen Bedeutung auszugehen. Deliberation wird demokratietheoretisch als ein Konzept verstanden, bei dem die öffentliche Beratschlagung in Sinne einer Debatte, die auf Argumenten gestützt nach Politiklösungen sucht, zu besseren Entscheidungen führen kann. Ein ähnliches Spannungsmoment ergibt sich für die angenommene Transnationalisierung von Kommunikation. Technisch ermöglichte transnationale Netzverknüpfungen müssen nicht zwangsläufig auch eine transnationale Öffentlichkeit oder transnationale zivilgesellschaftliche Strukturen herausbilden (Kneuer/Richter 2015: 100). Das Netz, so Baringhorst, wird nicht automatisch zur Netzöffentlichkeit (Baringhorst 2009: 629) – dies gilt national wie transnational.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Funktionslogik des Netzes hat eine stärker individualisierte und personalisierte Kommunikationsmacht bewirkt, die einhergeht mit einem Kontrollverlust über die Kommunikationsströme auf Seiten von Politik, Wirtschaft und klassischen Medien, mit dem Ergebnis, dass sich der öffentliche Kommunikationsraum um ein Vielfaches fragmentiert hat.

Was bedeutet die veränderte Kommunikation für die Demokratie?

Die Antwort auf diese Frage ist sehr stark durch normative Annahmen geprägt. Netzoptimisten greifen demokratietheoretische Forderungen an die Medien auf, die längst als Utopien abgetan wurden und plötzlich realisierbar scheinen. Dies betrifft zum einen die Hoffnung auf bessere Zugangschancen zur öffentlichen Meinungsbildung für gesellschaftliche Akteure, die sich außerhalb der politischen Bühne befinden (Inklusion). Zudem wird als positiv beurteilt, dass die Filterfunktion der klassischen Medien umgangen wird und ein direkter Zugang zu Informationen, Institutionen oder Akteuren entstanden ist. Die Erwartungen richten sich insbesondere auf ein demokratiebelebendes Potenzial durch erweiterte Möglichkeiten von Partizipation, Deliberation, Transparenz und Responsivität (Wilhelm 2000).

Netzpessimisten dagegen vermuten entweder lediglich eine Spiegelung der bereits vorhandenen Muster von Partizipation und Deliberation oder gar einen Qualitätsverlust demokratischer Prozesse. Sie befürchten, dass sich das Rationalitätsniveau der politischen Debatten absenken und im Netz nur noch die schrillen und vereinfachten Stimmen zu hören sein werden. Der Annahme, dass das Netz tatsächlich mehr Inklusivität und auch Gleichheit der Stimmen produzieren könne, steht das Argument gegenüber, dass die Exklusionsmechanismen zwar anders, deswegen aber nicht weniger effektiv seien (Hindman 2009: 12 f.), denn die Schwelle der Exklusivität verschiebe sich von der Informationsproduktion hin zum Filtern der Information. Diese Liste sowohl netzpessimistischer als auch netzoptimistischer Argumente ließe sich verlängern. Als Maßstab der Bewertung kristallisiert sich heraus, inwiefern die Wirkungen digitaler Kommunikation und Interaktion die demokratischen Prinzipien und Prozesse eher bereichern oder nicht (Kneuer 2013).

Die Erwartungen an das demokratiestärkende Potenzial von Online-Interaktion wurden deswegen besonders genährt, weil angesichts der Ermüdung, in der sich das repräsentative Demokratiemodell befindet – Stichwort: Politikverdrossenheit, Partizipationslücken, Vertrauensverlust in die politischen Institutionen und Repräsentanten –, Internet und soziale Medien als Heilmittel zur Revitalisierung, vielleicht sogar zur Erneuerung und damit zur Stärkung der Legitimität betrachtet wurden. Inzwischen hat sich ein realistischer Ansatz, der davon ausgeht, dass das Internet an sich weder demokratieförderlich noch demokratiefeindlich ist, als der geeignetere herausgestellt (vgl. hierzu Barber 1998, Kneuer 2013, Kneuer/Salzborn 2016). Ob die Nutzung sozialer Netzwerke demokratieförderlich oder -hinderlich ist, hängt von mehreren Faktoren ab: den Akteuren, der Art der Nutzung (Was wird wie kommuniziert?), den Nutzungsmotiven und -zielen (Warum wird mit welchem Ziel kommuniziert?) sowie dem politisch-institutionellen und dem sozialen Kontext, in dem sie agieren. Das Gleiche gilt für die Handlungslogiken politischer Akteure.

Ob soziale Medien also eine demokratisierende Kraft entfalten oder eher zur repressiven Kontrolle demokratischer Kräfte im Land eingesetzt werden; ob das Netz zur Bildung von neuartigen Foren der Deliberation oder zur Initiierung von Kampagnen oder Shitstorms genutzt wird; ob sich alternative Möglichkeiten der Partizipation ergeben (elektronische Petitionen und Unterschriftenlisten), mit denen mehr Menschen und vor allem auch solche eingebunden werden können, die sonst eher von politischer Teilhabe ausgeschlossen sind, oder ob eher mehr Ungleichheiten entstehen, da letzteren entweder die Hardware oder die Netzkompetenz fehlt; ob Politikerinnen und Politiker sich durch neue Wege der Bürgeransprache responsiver zeigen oder ob sie das Netz allein zur Selbstdarstellung nutzen – all diese hier etwas plakativ als Gegensätze konstruierten Möglichkeiten hängen von den genannten Faktoren ab.

Conclusio

Ebenso wie andere mediale Innovationen zuvor haben digitale Medien die politische Kommunikation massiv beeinflusst; die Veränderungen sind gleichwohl präzedenzlos und die Wirkungen nur teilweise absehbar, zumal sie ohnehin aufgrund der Dynamik des technologischen Prozesses lediglich eine begrenzte Halbwertzeit besitzen. Nicht anders als bei den früheren Innovationen gilt zugleich, dass digitale Medien nicht im sozialen Vakuum operieren. Das Netz ist ein Medium, dessen Wirkung von den Akteurinnen und Akteuren und ihren Nutzungsmotiven sowie von den von ihnen verbreiteten Botschaften abhängt. Die Vorstellung, allein die Existenz neuer technischer Wege sei dazu in der Lage, Defizite oder Fehlentwicklungen repräsentativer Demokratie zu beheben, ist deswegen naiv. Das Internet kann keine einfachen Lösungen für die Probleme der Demokratie liefern. Gleichwohl können e-democracy-tools eine gelungene Ergänzung von Offline-Prozessen bieten, wenn sie in einen entsprechenden Rahmen eingebettet sind – etwa wenn Debatten oder Entscheidungen durch einen festgelegten Katalog an Verfahrenselementen gesteuert werden, damit alle Nutzerinnen und Nutzer klare Orientierungslinien haben und ihr Verhalten danach ausrichten bzw. auszurichten haben.

Ob demokratische Prozesse durch Online-Interaktion letztlich erleichtert oder unterminiert werden, hängt nicht von der Technologie ab, "sondern von der Qualität unserer politischen Institutionen und dem Charakter unserer Bürger" (Barber 1998: 13 f.). Damit ist, erstens, gesagt, dass onlinebasierte Reformideen kompatibel mit der institutionellen Architektur eines Landes sein und an diese angepasst werden müssen. Zweitens aber rückt die Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger in den Fokus, die nicht nur technisch mit diesen Medien umgehen müssen (was insbesondere bei den Digital Natives kein Problem sein dürfte), sondern auch die notwendigen Kompetenzen besitzen müssen, um die Fülle der Informationen verarbeiten und sinnvoll nutzen sowie die fehlenden inhaltlichen Filter durch erhöhtes kritisches Hinterfragen kompensieren zu können. Es sind letztlich die Nutzerinnen und Nutzer, die über die Art und die Intensität der Nutzung, den Kreis ihrer Kommunikationspartnerinnen und -partner und die verbreiteten Botschaften entscheiden und für ihre Form der Kommunikation verantwortlich sind. Insofern bedeutet der Zuwachs an Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten durch digitale Medien zugleich erhöhte Anforderungen an die Verantwortung der Nutzerinnen und Nutzer. Das betrifft die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten.

Literatur

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