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Digitale Schatzkammern Selbstzeugnisse Holocaust-Überlebender und ihre Bedeutung für die Zukunft

Bernd Körte-Braun

/ 6 Minuten zu lesen

Video-Interviews und 3D-Hologramme: Wie wir die Erinnerungen Holocaust-Überlebender bewahren und weitererzählen können, wie historisches Lernen ohne unmittelbare Zeugenschaft aussehen kann und welche Herausforderungen mit der Digitalisierung der Erinnerungsberichte verbunden sind, beschreibt Bernd Körte-Braun von der FU Berlin.

(Leo Hidalgo/ Flickr/ bearbeitet) Lizenz: cc by/2.0/de

Vom Ende der unmittelbaren Zeitzeugenschaft

Die seit Jahren andauernde Rede von einem "Abschied von den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen" wird lauter. Dabei ruft das Ende einer unmittelbaren Zeugenschaft von Holocaust und NS-Herrschaft infolge des generationellen Wandels unterschiedliche Reaktionen hervor: Sehen die einen mit Blick auf die Selbstzeugnisse Überlebender des Holocaust die Erinnerungen an "Auschwitz" in Gefahr, so meint der Sozialpsychologe Harald Welzer: "[…] mit dem Verschwinden der Zeitzeugen wird die Geschichte auch wieder frei, zu einer lebendigen Betrachtung nämlich, zum Gebrauch. Sie wird zukunftsfähig. Und: Die Geschichte des Nationalsozialismus und Holocaust wird kalt." Welzer bezieht hierbei explizit die Täterseite mit ein, er setzt fort: "Heiß war sie, solange der lebendige generationelle Zusammenhang in ihre Zeit zurückreichte, als es noch Opas gab, die Wehrmachtssoldaten, SS-Männer, Parteimitglieder oder aber Gegner, Verfolgte oder Opfer waren."

Die Bedeutung digitalisierter Erinnerungen

Mit der nun 70 Jahre dauernden Aufzeichnung audiovisueller Selbstzeugnisse von Überlebenden des Holocaust und ihrer nahezu abgeschlossenen Digitalisierung steht heute eine beeindruckende Zahl von Erzählungen zum Abruf im Internet bereit. Diese audiovisuellen Archive sind für das historische Lernen in der Zukunft digitale Schatzkammern, denn die Erinnerungsberichte erlauben eine multiperspektivische Betrachtung von Geschichte. Sie ermöglichen den Lernenden zu erkennen, wie zahlreich und unterschiedlich die Perspektiven in der Rückschau auf Verfolgung und Überleben sind.

Die Erzählungen von Überlebenden, Widerstehenden, Retterinnen und Rettern sowie Helferinnen und Helfern zeigen, dass Handlungsspielräume von den historischen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlich interpretiert und genutzt wurden. Vor allem aber gewähren sie Einblicke in die Erfahrungen und Verarbeitungsweisen des Geschehens aus der Perspektive der Verfolgten.

Die mit diesen Erinnerungsberichten einhergehende Personifizierung von Geschichte ermöglicht es Jugendlichen, Prozesse der Ausgrenzung und Verfolgung, des Über- und Weiterlebens auf eine Weise kennenzulernen, die ihnen andere Geschichtsquellen nicht bieten. Die Erzählungen handeln von Familien, von Geschwistern, von Freundinnen und Freunden. Viele der Überlebenden waren zur Zeit ihrer Verfolgung Kinder oder Jugendliche – also in einem ähnlichen Alter wie die Lernenden heute. Weitere Anknüpfungspunkte zu ihrer Lebenswelt finden Lernende in den Orten, über die in den Erzählungen berichtet wird, als Geburtsorte und Lebensmittelpunkte, als Orte der Verfolgung und manchmal auch als Orte der Hilfe oder eines rettenden Verstecks.

Historytelling und neue Herausforderungen für Lernende und Lehrende

(Hi-)Storytelling ist nicht nur wegen der mehrfachen Bedeutung von Storytelling ein sehr schillernder wie unscharfer Begriff: Denn er vereint "Geschichte" und "Erzählung", berührt damit den Zusammenhang von Faktizität und Fiktion und so eine der zentralen Fragen jeder historischen Darstellung überhaupt. Oral History und Zeitzeugenschaft wurden immer wieder kritisch hinterfragt. Die Erzählungen seien zu subjektiv, um als seriöse Quellen für Geschichtsschreibung gelten zu können, hieß es lange aus der Historikerzunft. Die Oral History hat darauf mit einer Verfeinerung ihrer Methodik reagiert.

Nun ist historisches Wissen, so Michele Barricelli, "narratives Wissen" und immer mehr Curricula betonen die Bedeutung von narrativer Kompetenz für das historische Lernen. Audiovisuelle Selbstzeugnisse von Überlebenden des Holocaust sind Geschichtserzählungen, an denen genau diese Kompetenz eingeübt werden kann. Die Lernenden steuern die Video-Interviews selbst, sie halten das Video an, sehen und hören Passagen der Selbstzeugnisse wiederholt. Sie formulieren Nacherzählungen oder wählen aus den Erinnerungsberichten die für sie wichtigen Zitate aus. Sie schneiden aus ungekürzten Video-Interviews eigene Interviewkurzfilme und stellen diese der Lerngruppe zur Diskussion.

Durch ihre inhaltliche wie mediale Komplexität stellen audiovisuelle Selbstzeugnisse die Lehrenden und Lernenden vor neue Herausforderungen. Seit mehreren Jahren erarbeitet ein interdisziplinäres Team am Center für digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin Angebote mit Erinnerungsberichten für die schulische und außerschulische Bildung. Die Selbstzeugnisse in den von CeDiS entwickelten Anwendungen stammen aus dem über 50.000 Video-Interviews umfassenden Visual History Archive der USC Shoah Foundation und dem nahezu 600 Video- und Audio-Interviews umfassenden Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte". Zur Arbeit mit den Selbstzeugnissen in den Schulen werden Fortbildungen für Lehrende angeboten.

Wer erzählt weiter? Überlebensgeschichten als 3D-Projektion

Wer erzählt die Lebensgeschichten in der Zukunft? Wie man einen "Dialog" mit Überlebenden des Holocaust auch dann noch führen kann, wenn sie nicht mehr leben, zeigt ein aktuelles Projekt der Shoah Foundation. Die entscheidenden Techniken sind hierbei 3D-Holografie und Spracherkennungssoftware. Die Shoah Foundation und das Institute for Creative Technologie "kreieren" seit 2012 in ihrem gemeinsamen Projekt "New Dimensions in Testimony" Überlebende des Holocaust als lebensgroße 3D-Hologramme. In den Raum projiziert sollen sie künftigen Schülerinnen- und Schülergenerationen in fernerer Zukunft eine Interaktion mit den 3D-Hologrammen ermöglichen. Hierfür wird eine Spracherkennungssoftware auf Fragen einer kommenden Generation "passende" Antworten aus einer Sammlung von bereits heute aufgezeichneten Textdaten auswählen bzw. zusammenstellen.

Diese Form der Tradierung und Aufbereitung von Erinnerungen birgt einen entscheidenden Unterschied zur Weitergabe der Erinnerungsberichte von "Talking Heads" in zweidimensionalen Video-Interviews: Die "situative Gestalt" der Interviews geht ebenso verloren wie ihr Charakter als Zeugnis. Denn während herkömmliche Interviews in einer einmaligen Situation entstanden sind, in der Ort, Zeit, technische Apparatur, Kameraleute und Interviewende die Erinnerungen und die Erzählungen der Interviewten mit beeinflussen, sind für die Antworten der 3D-Hologramme in der Zukunft nicht mehr die Befragten, sondern letztlich Algorithmen verantwortlich. Auch wenn die "Antworten" in den digitalisierten Stimmen der Überlebenden des Holocaust zu hören sein werden. Letzteres gilt auch für die bereits heute aufgezeichnete Default-Antwort, die dann eingespielt werden wird, wenn die Spracherkennungssoftware aus den Daten keine Antworten finden bzw. kreieren kann: "I am sorry, I don’t know the answer to that question."

Solche technische Entwicklungen werden die Tradierung von Auschwitz in der Zukunft stark beeinflussen. Dabei wäre etwa ein lebensgeschichtliches Interview in Form eines 3D-Hologramms nicht entscheidend artifizieller als ein Video-Interview. Die Reflexion der medialen Form der Erinnerungsberichte wird ein wichtiger Bestandteil historischen Lernens mit Selbstzeugnissen Überlebender des Holocaust bleiben, ob im Setting der Video-Interviews oder eines lebensgroßen 3D-Hologramms. Vor allem aber brauchen Jugendliche beim historischen Lernen auch in der Zukunft Zeit: Ihr großes Potenzial entfalten die Selbstzeugnisse erst beim Hören und Sehen von längeren Ausschnitten oder am besten von ganzen ungeschnittenen Lebensgeschichten – als Zeugnisse des Holocaust und des Überlebens.

Bernd Körte-Braun ist Historiker und Judaist, seit 2008 am Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin betraut mit dem Management der Projekte Zeugen der Shoah, aktuell: Video-Interviews in der schulischen Bildung, der Durchführung von Projektschultagen und der Weiterentwicklung der Online-Plattform Zeugen der Shoah. Zuvor beschäftigte er sich mit der Entwicklung multi-medialer Anwendungen für den Geschichtsunterricht. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Jüdischen Museum Berlin bei der Vorbereitung der Dauerausstellung und im Rafael Roth Learning Center. Berufsausbildungen zum Bankkaufmann und zum Erzieher absolvierte er vor Aufnahme des Hochschulstudiums.