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Hase und Igel 2.0 – Digitale Kompetenz als Wettlauf? | Lehrende der Zukunft | bpb.de

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Hase und Igel 2.0 – Digitale Kompetenz als Wettlauf?

Vera Servaty & Reiner Gerrards

/ 4 Minuten zu lesen

Wer kennt sich besser mit der Technik aus – Lehrer oder Schüler? Reiner Gerrards und Vera Servaty, Beratungslehrer für Medien, erklären, warum am Übergang zum digitalen Zeitalter alle Lernende sind.

Erfahrungsbericht aus dem Schulalltag 2.0 (stux / bearbeitet / Externer Link: pixabay / Externer Link: Lizenz CC0)

Reiner Gerrards:

Politik an einem Mittwochnachmittag in der 9. Klasse: Wir besprechen das Thema Fake News am Beispiel eines modifizierten Wahlplakats des frisch gewählten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Ich bin vorbereitet, habe mein Tablet dabei, einen HDMI-Adapter mit dem richtigen Ausgang, am Fernseher befindet sich ein HDMI-Verlängerungskabel und das Wichtigste: Ich weiß, welche Knöpfe ich auf der Fernbedienung drücken muss, damit das Bild meines Tablets groß auf dem Fernsehbildschirm an der Wand erscheint. Alles klappt prima und der Medienmagier in mir ist stolz; bis zu dem Zeitpunkt, als ich unter den unbarmherzigen Augen der Schülerinnen und Schüler das Originalwahlplakat von Martin Schulz bei Google suche, um mit der Klasse die Manipulationen zu erarbeiten. Ich finde nur noch eine gif-Animation, die beide Plakate in einer Endlosschleife im Wechsel anzeigt, jede Sekunde wechselt das Bild. Zu kurz, um einen angemessenen Textvergleich durchzuführen.

Mir wird warm. Die Schnelligkeit meiner Fingerbewegungen auf dem Tablet nimmt deutlich zu. Aber weder die Erhöhung meiner Körpertemperatur, noch die Frequenzsteigerung meiner Klicks bringen eine spürbare Verbesserung. Meine letzte Zuflucht, der didaktische Königsweg: "Ignoriert das einfach!" Die Schülerinnen und Schüler geben sich sichtlich Mühe, meine unvorhergesehenen Suchmaschinenergebnisse zu ignorieren. Da ertönt aus der letzten Reihe mit lässiger Selbstverständlichkeit der Vorschlag einer Schülerin: "Machen Sie doch einen Screenshot!" – "Ja, Sensei!“, denke ich bei mir, verneige mich vage in ihre Richtung und tue, wie mir geheißen.

Dass Lernende mir im digitalen Bereich technisch häufig einiges voraushaben, hat mich nie gestört. Im Gegenteil: Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen entlaste ich meinen Unterrichtsbeginn selbstverständlich damit, dass ich Schülerinnen und Schüler den Beamer anschließen oder den Laptop hochfahren lasse. Wenn es um digitale Aktualität und Finesse geht, nutze ich die Lernenden außerdem als Experten. Denn wer könnte mit den Schülerinnen und Schülern glaubwürdiger die Handlungsoptionen des neuesten Smartphones Ferguson 1000 thematisieren, als ihre Peers, die sich frei von Berührungsängsten diese Fertigkeiten begeistert angeeignet haben – ohne Blick ins Handbuch, nur mit der Freude am Ausprobieren?

Aber trial and error, ein Screenshot to go und die Lernenden als digital professionals – ist es wirklich so einfach?

Vera Servaty:

Biologieunterricht an einem Dienstagnachmittag in der Oberstufe. Eine Schülerin fängt mich nach der Stunde ab. "Frau Servaty ...?" Sie druckst herum und will nicht so recht sagen, was los ist. Sie ist angespannt und ich sehe, wieviel Überwindung es sie kostet, mit dem Gespräch überhaupt anzufangen. Sehr zurückhaltend beginnt sie zu erzählen. Von Bildern, die in ihrem Jahrgang via SMS und WhatsApp herumgeschickt werden. Bilder, die sie zeigen und die eigentlich nur für ihren langjährigen Freund bestimmt waren. Bilder, die die beste Freundin durch Zufall entdeckt, heimlich per Screenshot abfotografiert und weiterversendet hat. Intime Fotos, die ohne jeden Zweifel und für jeden eindeutig zu erkennen, niemals für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Ich frage die Schülerin, wie lange die Bilder schon im Jahrgang kursieren. Sie antwortet mir, seit etwa sechs Monaten. Sie hatte auf die Sommerferien gehofft, darauf, dass die Fotos einfach in Vergessenheit geraten. Ihre Begründung: Es hatte sie ja eh schon jeder gesehen, irgendwann müsste doch einmal Schluss sein. Aber nach den Sommerferien sei es wieder losgegangen. Sie hielte das Ganze einfach nicht mehr aus.

Sofort und vehement treten mein Kollege Reiner Gerrards und ich als Beratungslehrer für Medien für die Schülerin ein. Wir suchen Gespräche mit denjenigen, die die Fotos online gestellt und verbreitet haben. Wir wollen deutlich machen, dass man einen Screenshot nicht einfach deswegen machen darf oder sollte, weil man dazu in der Lage ist. Wir wollen aufzeigen, dass man auch im digitalen Raum Verantwortung trägt, dass auch hier Rechtsgrundlagen zu beachten sind – etwas das Recht am eigenen Bild oder Verbreitung jugendpornographischer Aufnahmen – und dass soziale Werte und Normen ebenso gelten wie in jeder analogen sozialen Interaktion.

Schnell wird uns in den Gesprächen klar: Die Wenigsten haben sich Gedanken darüber gemacht, in welchem Kontext die Bilder eigentlich entstanden oder wie sie in Umlauf gekommen sind. Keiner hat sich die Frage gestellt, welche Rolle man einnimmt, wenn man intime Bilder einer Mitschülerin herumzeigt und/oder weiterversendet. Niemand hat sich gefragt, ob man sich mit dem Besitz und der Verbreitung strafbar macht. Geschweige denn, was es für einen Menschen bedeuten muss, ungewollt in der Öffentlichkeit derartig entblößt zu werden.

Fazit und Ausblick:

Mehr denn je empfinden wir es deshalb als eine unserer zentralen Aufgaben im Bereich digitaler Mediennutzung, bei Heranwachsenden die Einsicht zu fördern, dass man auch im virtuellen Raum soziale Verantwortung für sich und andere trägt. Mit Workshops, Aktionen und Gesprächen möchten wir Schülerinnen und Schüler befähigen, ein Rechts- und Unrechtsbewusstsein im Netz zu entwickeln, wir möchten sie für digitale Zivilcourage sensibilisieren und ihnen Orientierungshilfen an die Hand geben. Denn sich ohne Hemmungen in der digitalen Welt zu bewegen, sollte eben nicht heißen digital enthemmt zu sein.

Und ganz ehrlich: Was macht es schon, wenn unsere Schülerinnen und Schüler schneller die Eingangsquelle am neu angeschafften Fernseher finden? Wenn sie das Android Smartphone mit dem WLAN-Dongle problemlos verbinden, während wir selbst noch darüber grübeln, wie das Teil überhaupt funktioniert? Doch nicht wirklich viel, oder?

Während wir Lehrenden ab und an über technische Neuerungen stolpern und hier und da den Anschluss verlieren, brauchen Heranwachsende dafür mehr denn je Werte- und Normorientierung in einer sich immer schneller weiterentwickelnden Medienlandschaft. Und vielleicht geht es damit dann endlich nicht mehr um die Frage, wer die Nase vorn hat und wer mehr oder weniger digitale Kompetenz besitzt.

Vielleicht geht es schlicht und einfach dann darum, voneinander zu lernen.

Reiner Gerrards und Vera Servaty wurden im Rahmen des Pilotprojekts Medienscouts der Landesanstalt für Medien NRW 2011 zu Beratungslehrern für Medien ausgebildet. Seitdem leiten sie das Medienscoutsprojekt an ihrer Schule sowie die zugehörige Medienscouts-AG mit derzeit 30 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern. Sie arbeiten dabei mit ihren Medienscouts sowohl schulintern, als auch schulübergreifend.