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Musik im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück Ein Musik- und Geschichtsprojekt

Gabriele Knapp

/ 7 Minuten zu lesen

Was bedeutete Musik für das Überleben im KZ Ravensbrück? Mit dieser Frage beschäftigten sich Gymnasiasten aus Neustrelitz 2004/ 2005 fächerübergreifend. Sie spielten und arrangierten Lagerlieder neu, forschten eigenständig und luden Überlebende ein.

Mit der Bedeutung von Musik für das Überleben im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück beschäftigten sich Schülerinnen und Schüler aus Neustrelitz von Juni 2004 bis April 2005 in einem jahrgangs- und fächerübergreifendem außerschulischen Geschichtsprojekt.

Das Denkmal "Müttergruppe" von Fritz Cremer am Krematorium vor der Mauer der Nationen im ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück (© Norbert Radtke) Lizenz: GNU FDL

Das von der Verfasserin dieses Textes entwickelte und koordinierte Kooperationsprojekt zwischen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück sowie dem Gymnasium Carolinum in Neustrelitz/ Mecklenburg Vorpommern bestand aus drei Phasen. Es begann im Juni 2004 mit vier Projekttagen des Musikkurses in der Gedenkstätte und wurde mit Anfang des Schuljahres 2004/05 mit den Schülerinnen und Schülern des Geschichtskurses fortgeführt. Die letzte Phase bestand aus der Planung, Vorbereitung und Durchführung einer Veranstaltung am Gymnasium.

Insgesamt waren 25 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums (9. bis 13. Klasse) in den ersten beiden Arbeitsphasen beteiligt, wovon dreizehn Jugendliche Mitglied des Musikkurses waren und zwölf Schülerinnen und Schüler im Geschichtskurs zusammenarbeiteten. Letztere recherchierten auch im Archiv der Gedenkstätte.

Den Abschluss des Projektes gestalteten schließlich alle Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums mit: Am 16. April 2005 fand eine feierliche Gedenkveranstaltung in der Aula des Gymnasiums statt. Die Veranstaltung unter dem Motto "Schülerinnen und Schüler laden Zeitzeuginnen in ihre Schule ein" besuchten über siebzig Ravensbrück-Überlebende mit ihren Angehörigen.

Das Musik-Geschichts-Projekt gewann im Juni 2005 als Teilprojekt den 1. Preis beim Wettbewerb um den "Goldenen Floh 2005", einem Förderpreis für praktisches Lernen in Mecklenburg-Vorpommern. Das Projekt "Schüler laden ein" wurde mit dem "Daniel-Sanders-Kulturpreis 2005" des Landkreises Mecklenburg-Strelitz ausgezeichnet.

Ziele des Projekts

Das Projekt ermöglichte Jugendlichen, sich der Musik-Geschichte des Konzentrationslagers Ravensbrück zu nähern - ausgehend von und aufbauend auf ihren spezifischen Interessen und Kenntnissen. Im ersten Teil erschlossen sich die Schülerinnen und Schüler das ehemalige Lagergelände und seine Geschichte. Sie lernten die Biografien ehemaliger Häftlingsfrauen kennen, die im Lager heimlich Musik ausgeübt hatten. Die Quellen hatte die Projektkoordinatorin von 1999 bis 2001 in ihrem Forschungsprojekt "Musik in Ravensbrück" gesammelt.

InfoMethodensteckbrief

  • Teilnehmerzahl: 25 Jugendliche

  • Altersstufe: 9.-13. Klasse, jahrgangsübergreifend

  • Zeitbedarf: 6 Monate (1 Schulhalbjahr)

  • Preis: 5000 Euro (Projektgebundene Spende von Siemens an Gedenkstätte) plus Eigenbeteiligung der Schule, Kosten u.a. für Sachmittel (z.B. Kopien, Filmausleihe), Reisekosten, Honorarmittel, Projektkoordination, Gestaltung und Druck der Broschüre, Durchführung der Veranstaltung

  • Benötigte Ausstattung: Eigene Musikinstrumente, Digitalkamera (Bilddokumentation), Videokamera oder Aufnahmegerät (Tondokumentation), Übungsräume, Kopierer, Internetzugang, eventuell PC, Beamer und Leinwand

Der Geschichtskurs legte seinen Schwerpunkt auf die Biografieforschung beziehungsweise die Rekonstruktion von Biografien. Er recherchierte nach Musikerinnen, die aus Frankreich, Belgien, Polen und deutschsprachigen Ländern ins Lager deportiert worden waren.

Die Schülerinnen und Schüler setzten sich mit der Rassenideologie und -politik der Nationalsozialisten am Beispiel jüdischer und der "slawischen Rasse" angehörender Musikerinnen auseinander. Sie erfuhren am Schicksal einzelner Frauen von der Vernichtungspolitik des Dritten Reiches, dem System der Konzentrationslager – insbesondere der Geschichte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. Und sie hörten von der Überlebenskraft der Gefangenen, die versuchten, sich mit Hilfe von Musik selbst zu behaupten und dem System zu widersetzen.

Wissenschaftlich begleitet und inhaltlich unterstützt wurden die Jugendlichen von der Projektkoordinatorin sowie Mitarbeiterinnen der Museologischen Dienste der Gedenkstätte. Sie arbeiteten eng mit dem Musiklehrer und den beiden Geschichtslehrerinnen vor Ort am Gymnasium zusammen (projektorientierter Unterricht). Bei Bedarf stellte die Projektkoordinatorin den Jugendlichen Hinweise für ihre selbstständige Recherche (forschendes Lernen) und Arbeitsmaterialien zur Verfügung (Quellen- und Literaturstudium).

Die Rechercheergebnisse stellten die Jugendlichen in einer Dokumentationsbroschüre zusammen, für die sie selbst die Texte verfassten. Außerdem gestalteten sie das Programm einer Gedenkveranstaltung an ihrer Schule und bewirteten die Gäste in den Klassenräumen, wodurch sie zwanglos mit Ravensbrück-Überlebenden in Kontakt kommen konnten.


1. Phase: Projekttage des Musikkurses in Ravensbrück

Die inhaltliche Vorbereitung der vier Projekttage in der Gedenkstätte zum Thema "Musik in Ravensbrück" lag bei der Projektkoordinatorin. Sie arbeitete während dieser Zeit mit dem Musiklehrer (Betreuung der Musikproben, Freizeitgestaltung der Jugendlichen, Videoaufnahmen) und den Mitarbeiterinnen der museologischen Dienste (Vorbereitung der Recherchen in Depot, Bibliothek und Fotothek) zusammen.

Die Schülerinnen und Schüler lernten in Kleingruppen und durch Selbst-Führung mit Hilfe einer Lagerskizze das Gelände kennen. Sie hatten die Aufgabe, die Orte zu dokumentieren (Fotos, Zeichnungen), die sich für sie mit Musik bzw. heimlichem Musizieren verbinden ließen.

Es folgte eine Führung durch eine Mitarbeiterin der pädagogischen Dienste unter Ergänzung von Musikbeispielen aus dem Alltag im Lager durch die Koordinatorin. Jeweils ein Jugendlicher las Zitate aus Erinnerungsberichten von Zeitzeuginnen an dem Ort vor, an dem Musik eine Rolle gespielt hatte.

Auf dem Appellplatz ging es zum Beispiel um das Zwangssingen beim Marschieren der Gefangenen; im Bunker um das Singen in den Einzelzellen usw. Dadurch verknüpfte sich ein Ort mit seiner musikspezifischen Geschichte und häufig auch mit dem Schicksal eines weiblichen Häftlings.

Den Lageralltag lernten die Jugendlichen anhand von Zeichnungen, Handarbeiten, kleinen Büchern und Kunstgegenständen (Gegenstände aus dem Depot der Gedenkstätte) kennen. Sie erfuhren, welche Bedeutung Kreativität für das Überleben der Gefangenen hatte, aber auch welche Gefahren mit diesen heimlichen künstlerisch-kreativen Aktivitäten verbunden waren. Sie lasen Erlebnisberichte von Zeitzeuginnen (Quellenstudium in der Bibliothek), wobei sie besonders nach Erinnerungen an Musik und das Singen im Lager suchten.

Das Literatur- und Quellenstudium diente der Kontextualisierung von Musik am historischen Ort und der Sensibilisierung für die Musikausübung damals im Lager, aber auch für die von den Schüler/innen selbst geplanten musikalischen Aktivitäten.

Einüben von Lagerliedern und Präsentation der Stücke

Zum aktiven Musizieren kam die Gruppe durch die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte der tschechischen Musiklehrerin Ludmila Pevkařová. Sie hatte in Ravensbrück Lieder komponiert und diese nach ihrer Befreiung notiert. Einige ihrer die Lagerwelt verarbeitenden Lieder wurden 2003 auf CD eingespielt, sodass die Jugendlichen sie hören und die deutsche Übersetzung der Liedtexte lesen konnten.

Aus einer vorbereiteten Mappe mit Liedern und Musikstücken aus Ravensbrück suchten sich die Jugendlichen ein Stück aus, das sie in ihrer Formation einstudieren sollten. Einen Tag hatte jede Gruppe Zeit, sich ausführlich mit dem ausgesuchten Stück auseinander zu setzen.

Teils spielten Gruppen ein Lied im Original, teils arrangierten sie die Stücke neu. Eine Gruppe entschloss sich, ein trauriges Lied nicht zu proben. Anstatt dessen komponierte sie ein eigenes Stück mit dem Titel "Die Hoffnung stirbt zuletzt". Die Gruppen präsentierten ihre Stücke am letzten Projekttag an von ihnen gewählten Orten auf dem Lagergelände. Dabei entstanden Videoaufzeichnungen.

Auswertung

Die Projekttage endeten mit einer Diskussion zu Fragen nach der Funktion und Wirkungsweise von Musik in Ravensbrück – zum einen für die Gefangenen, zum anderen für den funktionalen Ablauf des Lageralltags. Am Ende der Projekttage stand ein "Reinigungsritual" anstelle einer klassischen "Feedback-Runde": Die Teilnehmenden schrieben Gedanken, die sie nicht mitnehmen wollten, auf Zettel. Diese steckten sie in einen Schuhkarton und verbrannten ihn.


2. Projektphase: Ein Forschungsprojekt des Geschichtskurses

Im ersten Schulhalbjahr 2004/05 recherchierte der Geschichtskurs des Gymnasiums – zwölf Schülerinnen und Schüler aus der 12. und 13. Klasse - zu Biografien ehemaliger Musikerinnen in Ravensbrück. Die Schülerinnen und Schüler forschten auch zu selbstgewählten Themen, wie beispielsweise der damaligen Freizeitgestaltung der Lageranwohner. Betreut und unterstützt wurden sie von ihren beiden Geschichtslehrerinnen und der Projektkoordinatorin.

Bei der ersten Sitzung hielt die Projektkoordinatorin einen einführenden Vortrag zum Thema "Musik in Ravensbrück" und stellte Kurzbiografien einzelner Frauen vor. Die Gruppe legte den Schwerpunkt auf deutschsprachige, französische, polnische und belgische Frauen.

Die Teilnehmer arbeiteten eigenständig und unter Zuarbeit der Projektkoordinatorin in Kleingruppen zu ihren Schwerpunktthemen. Alle Teilnehmer trafen sich in Abständen von mehreren Wochen zur Absprache des weiteren Vorgehens als gesamter Kurs in der Schule. Jede Kleingruppe erhielt Dokumente, in Einzelfällen auch Interviewaufnahmen zu den Frauen, über die sie mehr in Erfahrung bringen wollten. Zu den eigenständigen Aufgaben der Schüler gehörten:

  • Die schriftliche Kontaktaufnahme zu Häftlingsvereinigungen,

  • Die schriftliche Kontaktaufnahme zu den Vorsitzenden von Lagergemeinschaften,

  • Kontaktaufnahme zu Archiven und Zeitzeuginnen,

  • Transkription von Interviews mit Zeitzeuginnen,

  • Internet-Recherche,

  • Literaturstudium in der Gedenkstätte und,

  • Gespräche mit Mitarbeiterinnen,

  • Befragung von Bewohnern der Stadt Fürstenberg/Havel.

3. Projektphase: Gedenkveranstaltung und Projektdokumentation

Während der etwa sechsmonatigen Projektlaufzeit trugen die Schülerinnen und Schüler zahlreiche Ergebnisse zusammen, die sie in eigenen Texten in einer Dokumentationsbroschüre präsentierten. Die Arbeiten zur Erstellung der Broschüre begannen Anfang des Jahres 2005. Die Zusammenstellung und Redaktion der Texte lag bei den Geschichtslehrerinnen und der Projektkoordinatorin.

Zeitgleich begann die Planung und Vorbereitung des künstlerischen Programms der Gedenkveranstaltung im Gymnasium, das die Schülerinnen und Schüler – darunter der gesamte Musikprojektkurs - gemeinsam mit den Lehrkräften einübten. Die von der Schule ausgerichtete Feier zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück besuchten auch mehr als 70 Überlebende.

Die Schüler stellten ihr Musikprojekt in einer Multimediashow vor. Sie präsentierten unter anderem die während der Projekttage entstandenen Musikstücke. Alle Gäste der Veranstaltung erhielten die Broschüre des Geschichtskurses als Geschenk.

Literatur

Knapp, Gabriele: Frauenstimmen - Musikerinnen erinnern an Ravensbrück. Berlin 2003.

Musik für Ravensbrück. CD, Kulturfeste im Land Brandenburg e.V. (Hg.), Berlin/Potsdam 2003

"Schüler laden ein". Begleitheft zum 60. Jahrestag der Befreiung des Frauen- Konzentrationslagers Ravensbrück. Eine Veranstaltung des Gymnasium Carolinum und der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Neubrandenburg 2005.

Knapp, Gabriele: Musikprojekte in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. In: Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses: Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens; für Sigrid Jacobeit. Berlin 2005, S. 263-286.

Gabriele Knapp ist Musiktherapeutin und Erziehungswissenschafterin. 2005 wurde sie für ihre Studie über Frauenchöre in Ravensbrück mit dem Hosenfeld/Szpilman-Gedenkpreis für deutsch-polnische Versöhnung ausgezeichnet. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Partizipation leben" des Programms Externer Link: "Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie".