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Einfach für Alle! Politische Bildung und Inklusion | bpb.de

Einfach für Alle! Politische Bildung und Inklusion Das Beispiel der multimedialen bpb-Reihe "einfach POLITIK": Zum Konzept der inklusiven Materialien der politischen Bildung.

Wolfram Hilpert

/ 17 Minuten zu lesen

Wie können mediale Angebote der politischen Bildung mit inklusivem Anspruch erfolgreich entwickelt und genutzt werden? Der Beitrag greift fachdidaktische und inklusionspädagogische Diskussionen auf und gibt Erfahrungen wieder, die bei der Konzeptentwicklung des bpb-Angebotes "einfach POLITIK:" gemacht wurden.

Politik für alle! (© bpb 2018)

Interner Link: Gesamttext als PDF zum Download

"einfach POLITIK:" ist ein Angebot der bpb, das sich an Menschen wendet, die klassische Angebote der politischen Bildung und der medialen politischen Berichterstattung nicht ansprechen. Die Produktwelt besteht aus Heften, CDs und Webseiten mit Dossiers, Hörbücher, einem Lexikon und Artikeln. Gemeinsam ist den Angeboten, dass sie in einfacher Sprache Politisches beschreiben und erklären.

Was sind die zentralen Fragen für die Gestaltung von Bildungsmaterialien?

Klassische Materialien zur politischen Bildung können für Menschen, denen es aus unterschiedlichen Gründen schwer fällt, Texte zu lesen, unverständlich sein. Andererseits können Materialien, die sprachlich einfach geschrieben sind, nur wenige Informationen enthalten, die oftmals komplexe, politische Prozesse verstehbar machen und Teilhabe erleichtern. Die Informationen können aber auch, da sie möglicherweise zu stark vereinfachen, missverständlich oder falsch sein. Es stellt sich also die Frage: Wie können Bildungsmaterialien sowohl gut als auch verständlich gestaltet werden?

Allerdings können auch Materialen, die verständlich und inhaltlich korrekt sind, Menschen ausschließen. Gründe dafür können sein: Bildungsmedien kosten zu viel Geld oder ihr Erwerb ist logistisch zu aufwendig. Ihre Texte sind für einige Menschen zu klein geschrieben, für andere sind ihre Seiten zu verschachtelt gestaltet. Die Bebilderung eines Textes kann von einigen als zu kindlich empfunden werden oder nicht dem persönlichen Geschmack entsprechen. Der Text einer Audio CD ist für manche Menschen schwer verständlich, wenn er zu schnell gesprochen wird. Bei einem Film wäre eine Audiotranskription für manche Menschen hilfreich. Wie also können Lernmaterialien gestaltet werden, damit sie möglichst vielen bisher exkludierten Menschen Zugang zur politischen Bildung eröffnen? Wie sind Medien zu gestalten, die zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten, Selbstbestimmung und Informationsbeschaffung zu erleichtern?

1. Politische Bildung und Inklusion

Im Mai 2019 ist das Grundgesetz 70 Jahre alt geworden: Ein guter Grund zum Feiern. Das Grundgesetz hat sich als ein tragfähiges gesetzliches Fundament der staatlichen Institutionen erwiesen. Und vor allem: Der durch das Grundgesetz konstituierte Staat ist als Demokratie in der Bevölkerung verankert. Diese Verankerung ist die wesentliche Grundlage und Bedingung seines Funktionierens. Denn der demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er als Staat allein nicht garantieren kann. Er ist darauf angewiesen, dass Bürgerinnen und Bürger aus eigener Überzeugung freiwillig im Sinne der Demokratie handeln.

Eine funktionierende Demokratie ist also keine Selbstverständlichkeit. Dies zeigen die letzten Jahre deutlich. Die Demokratie des Grundgesetzes ist nicht zu unterschätzenden Herausforderungen ausgesetzt: Rechtspopulismus, Fake News, Hass im Netz oder eine gleichgültige Haltung gegenüber den Errungenschaften der Demokratie sind nur einige Stichworte, die dies veranschaulichen. Demokratie muss daher immer wieder erkämpft, legitimiert und erklärt werden.
Politische Bildung initiiert und unterstützt dieses Lernen. Sie hat deshalb eine für unsere Demokratie unverzichtbare Aufgabe.

Politische Bildung ist vor allem dort gefordert, wo Demokratie schwer zu verstehen ist. Aufgabe der Politischen Bildung ist es, politische Prozesse verständlich zu machen: durch Angebote, die gelesen, gehört, gesehen werden können, durch Gespräche und praktisches Tun. Das in politischen Bildungsprozessen Erlernte soll ermöglichen, sich in den demokratischen Diskurs oder in demokratisches Handeln einzumischen und auch Mut dazu machen. "Politische Bildung versteht sich nicht als Elitenprojekt. Sie ist nicht auf die Ausbildung zukünftiger politischer Leistungsträgerinnen und Leistungsträger gerichtet, sondern hat das Ziel, die Ausbildung politischer Urteils- und Handlungskompetenzen aller Bürgerinnen und Bürger – und mehr als das: aller Menschen – zu unterstützen" (Besand/Jugel [2]: 2015,100).

Manche Menschen bekommen in der Alltagspraxis keine Chance, Interesse an politischen Vorgängen zu entwickeln oder sich selbst als politisch handelnde Menschen zu erleben. Andere haben keinen Weg gefunden oder keine Angebote bekommen, die zentralen demokratischen Prozesse zu verstehen. Dieses Nicht-Verstehen dessen, was in der Politik geschieht, ist eine Barriere, die zu Exklusion aus dem politischen Prozess führen kann. Da Demokratie darauf angewiesen ist, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger aus eigener Überzeugung freiwillig im Sinne der Demokratie handeln, schadet diese Exklusion der Demokratie. Inklusion, als das Bemühen verstanden, Exklusion zu vermeiden oder zu überwinden, ist ein für eine funktionierende Demokratie konstitutives Anliegen.

Nach der Verankerung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in deutsches Recht ist Inklusion in der behindertenpädagogischen, aber auch der politischen Diskussion ein Leitbegriff für die gesellschaftliche Aufgabe der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung geworden (vgl. Ackermann: 2014 und 2015, S. 31). Mit dem Leitbegriff "Inklusion" wird der normative Anspruch formuliert, dass Menschen mit Behinderung als gleichwertig anerkannt werden (ebenda).
Kronauer [2015, S. 20] weist darauf hin, dass, Inklusion, wenn sie ein Menschenrecht darstellt, nicht auf Menschen mit Behinderungen begrenzt werden kann. "Denn das, was für die »Inklusion« von Menschen mit Behinderungen gelten sollte, nämlich dass sie bei Anerkennung ihrer besonderen Bedarfe ihre Lebensziele gleichberechtigt mit allen anderen Menschen verfolgen können, muss für eben jene anderen Menschen mit ihren besonderen Bedarfen gleichermaßen gelten". Die menschenrechtliche Idee der Gleichwertigkeit aller Menschen kann per definitionem nicht nur auf eine gesellschaftliche Gruppe bezogen werden.

Inklusion ist vielmehr – wie Besand und Jugel es formulieren – "ein in allen gesellschaftlichen Teilbereichen vernetzt verlaufender Wandlungsprozess, der darauf abzielt, jedem Menschen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen auf Grundlage seiner individuellen Bedarfe Zugang, Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen" (2015 [1], 53).

Besand und Jugel konkretisieren die Bedeutung des Begriffes "Inklusion" für die Politische Bildung: Ein Politischer Bildner, der seine Aufgabe unter einer inklusiven Perspektive betrachtet, beschäftigt "sich intensiv und aufrichtig mit den folgenden Fragen […]: Welche Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer können aus welchem Grund mit konkreten Bildungsangeboten erreicht oder nicht erreicht werden? Welche Exklusionsmechanismen werden – wenn auch häufig unbeabsichtigt – im Rahmen von Bildungsangeboten wirksam und wie könnten diese (schrittweise) überwunden werden?" (2015 [2], S. 102).

2. Bildungsmaterialien: Zielgruppe inklusiv definieren

Traditionelle Zielgruppenzuordnung in Frage stellen

Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt, dass inklusive Bildungsmaterialien einerseits das Ziel der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe im Blick behalten und zugleich auch mögliche Exklusionsprozesse durch diese Materialien vermeiden sollten.
In unserer Gesellschaft sind bestimmte vulnerable Gruppen besonders von Ausschluss bedroht, da die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe häufig mit negativen Zuschreibungen verbunden ist. Dies gilt zum Beispiel für Menschen mit Behinderung oder für Analphabetinnen und Analphabeten. Einzelne Menschen in Bildungsprozessen diesen Gruppen explizit zuzuordnen, kann Exklusion verstärken oder reproduzieren, "einerseits durch die Separierung, andererseits durch die defizitorientierte Perspektivierung" (Zurstrassen: 2014). Bei Textmaterialen, die sich durch deren grafisch-bildnerische Gestaltung oder durch die in dem Heft enthaltene schriftliche Aussagen und Textgestaltung erkennbar z.B. an Menschen mit Behinderungen, Analphabetinnen und Analphabeten, Migrantinnen und Migrantenwenden, besteht die Gefahr der Reproduktion defizitorientierter Zuschreibungskategorien (vgl. Besand und Jugel (2015 [2], S. 104 ff.)

Bei der Produktion von Bildungsmaterialien sollte somit Sensibilität dafür bestehen, ob die Adressierung bestimmter Gruppen selbst Elemente des Exklusionsprozesses sind. Insofern spricht vieles dafür, für inklusive Materialien der politischen Bildung traditionelle Zielgruppenschemata zu überwinden. Materialen, die zwar vom Anspruchsniveau geeignet sind, aber an eine Gruppe adressiert sind, der man sich nicht zugehörig fühlt, werden möglicherweise nicht genutzt.

Dies ist bei wesentlichen didaktischen Grundentscheidungen der inklusiven politischen Bildung zu berücksichtigen, die weder einen spezifischen Politikbegriff, noch einen besonderen Bildungsbegriff für bestimmte Zielgruppen beinhalten sollten. "Im Kontext einer inklusiven politische Bildung geht es […] nicht darum, Spezialdidaktiken für spezifische Zielgruppen wie »Behinderte «, »Migranten«, »Politikferne«, »sozioökonomisch Benachteiligte« usw. zu entwickeln, es geht vielmehr darum, sich gezielt mit den Zugangsschwierigkeiten zu beschäftigen, die Menschen davon abhalten, sich mit politischer Bildung zu beschäftigen, und Angebote zu entwickeln, die diese Hindernisse abbauen" (Besand/Jugel: 2015 [1], 55).
Eine inklusive Definition einer Zielgruppe für Materialen wäre nach Besand und Jugel eine, die nicht auf Eigenschaften wie Migrationshintergrund oder Behinderung rekurriert. Diese Eigenschaften konstituieren nämlich keine positiven kulturellen oder sozialen Gemeinsamkeiten. Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund sind kulturell, sozial und natürlich auch in ihrem Lebensalter heterogen. Die Materialien sollten vielmehr ausgerichtet sein auf einen bestimmten Bedarf des Komplexitätsniveaus der schriftlichen, grafischen und ggfs. audiovisuellen Informationen.

Unbestreitbar ist dieser Ansatz aus Sicht einer inklusiven, das heißt Barrieren zwischen Gruppen überwindenden Bildung naheliegend. Wie sollen Kommunikations-Ghettos aufgelöst werden, wenn nicht durch neue zielgruppenoffene Ansätze? Insofern ist auch die Zielgruppe der Reihe "einfach POLITIK:" im Wesentlichen durch den Bedarf des definierten Komplexitätsniveaus der schriftlichen und grafischen Informationen bestimmt.

"einfach POLITIK:" vermeidet eindeutige Zielgruppenzuschreibungen und wendet sich ganz bewusst nicht an eine eng definierte Zielgruppe. Sie wendet sich an alle, denen es einfache Sprache ermöglicht oder erleichtert, Zugang zu Politik zu finden. Dass für ein Produkt mit diesem Ansatz ein Bedarf da ist, bestätigen die hohen Absatzzahlen der Reihe. Die Hefte "einfach POLITIK:" haben derzeit eine Auflage von 50.000 bis 110.000 Stück. "Politik: Einfach für alle" (Interner Link: www.bpb.de/einfach-fuer-alle), das Angebot in einfacher Sprache auf bpb.de, wird monatlich mehrere zehntausendmal aufgerufen.

3. Barrieren überwinden: Verständliche Sprache, multimediale Vermittlungswege

Für manche Menschen stellt sprachliche Komplexität, für andere die Form der Vermittlung von politischen Inhalten, etwa mittels Schrift, Barrieren dar, die Verstehen verhindern. Aufgabe eines inklusiven Ansatzes ist es nun, Wege zu finden, wie diese Barrieren abgebaut werden können.

Sprachliche Komplexität reduzieren

Zur Reduktion sprachlicher Komplexität bieten sich folgende Empfehlungen an:

  • Nutzen Sie gut verständliche Wörter, vermeiden Sie Fachbegriffe oder (für Politik häufig unverzichtbar!) erklären Sie diese.

  • Formulieren Sie das, was Sie erklären wollen, in kurzen Sätzen. Vermeiden Sie Schachtelsätze.

Eine Reduktion der sprachlichen Komplexität ist aber eine besonders anspruchsvolle Herausforderung, die hohe fachliche Kompetenz auf dem Gebiet der politischen Bildung, aber auch Expertise im Schreiben leicht verständlicher Texte voraussetzt.

Bei den Heften "einfach POLITIK:" arbeiten Fachleute verschiedener Fachrichtungen zusammen: Fachleute für einfache Formulierungen, für politische Bildung und für wissenschaftliche oder juristische Fragen. Von besonderer Bedeutung ist das Feedback der Zielgruppe. Hinweise einer Gruppe von Prüferinnen und Prüfern, die aus eigener Erfahrung Kompetenzen bei der Beurteilung von Verständlichkeit haben, haben für die Textentwicklung hohe Relevanz.

Konkret erfolgt die Erstellung der Texte der Reihe "einfach POLITIK:" in Kooperation mit dem Lehrstuhl Allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie des Instituts für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Das Team unter Leitung von Frau Dorothee Meyer erstellt die Texte in Zusammenarbeit entweder mit einer Gruppe aus den inklusionsorientierten Seminaren Gemeinsam Lernen oder in Zusammenarbeit mit Beschäftigten des Büros für Leichte Sprache Hannover (vgl. auch Interner Link: http://www.bpb.de/241078). Die Texterstellung erfolgt in mehreren Erarbeitungsschleifen in enger Einbeziehung der Redaktion der bpb. Zusätzlich geben Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler vor der Texterstellung den Autorinnen und der Redaktion Fachinformationen zum jeweiligen Thema. Nach der Texterstellung erfolgt eine fachliche Qualitätskontrolle.

Intention der Kooperationspartner ist, leicht zu verstehende Texte zu produzieren, die auch komplexe politische oder gesellschaftliche Sachverhalte fachlich korrekt wiedergeben. Dies erfordert die Einbeziehung unterschiedlicher fachlicher Disziplinen.

Multimediale Vermittlungswege nutzen

In der Einladung zum 35. Forum Kommunikationskultur 2018 beschrieb die veranstaltende Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) mediale Kommunikation und Interaktion als ein wesentliches Element gesellschaftlicher Teilhabe. "Doch längst nicht alle haben einen gleichwertigen Zugang zu digitalen Medien und zu Medienbildung in der digital geprägten Welt", erinnerte die GMK. 2Um Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene jeden Alters und mit unterschiedlichen Voraussetzungen kreativ und kritisch teilhaben zu lassen, sind Politik, Kultur und Bildung aktuell besonders gefordert. Inklusive Medienbildung hat das Ziel, alle Menschen zu erreichen und gemeinsames mediales Agieren anzuregen" (GMK 2018).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Menschen unterschiedliche Mediennutzungsgewohnheiten und auch unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten Medien haben. Manchen fehlt der Zugang zu digitalen Medien. Andere nutzen gerade diese, um für einen morgen stattfindenden Kurs unmittelbar Zugang zu einem bestimmten Material zu bekommen. Andere wiederum suchen gezielt digitales Material aus, mit dem sie Nutzungsprobleme bei schriftlichen Texten umgehen können. Insofern ist es zur Überwindung von Zugangsbarrieren für inklusive Materialien von Bedeutung, sich an diese unterschiedlichen Vorlieben und Zugangsmöglichkeiten anzupassen.

Für "einfach POLITIK:" ist es ein Anliegen, die schriftlichen Texte und Informationen auf verschiedene Weise auffindbar und zugänglich zu machen. So gibt es die Hefte "einfach POLITIK:", die als Print-Produkte nutzbar sind, auch auf den Webseiten der bpb als HTML-und PDF Versionen. Zudem sind die in den Heften erklärte Begriffe auch im Lexikon "einfach POLITIK:" zu finden (Interner Link: www.bpb.de/einfach-fuer-alle).

Für alle, die Schwierigkeiten haben, Dokumente zu lesen, ist die Nutzung von Audio- und Audiovisuelle Medien ein realer Weg, sich durch die Barriere "Schrift" nicht behindern zu lassen. Deshalb bietet "einfach POLITIK:" seine Angebote auch als Audio-Dateien an. Für diejenigen, die problemlos Dateien downloaden können, stehen die Audio-Dateien zum Herunterladen zur Verfügung. Für diejenigen, denen ein Download nicht möglich ist oder die heruntergeladene Dateien nicht abspielen können, sind Audio-CDs erhältlich.
Auch Bewegtbild-Angebote mit Bildbeschreibungen oder Gebärdensprachendolmetschung wären Wege, für potentielle Nutzende eine Barriere zu überwinden. Aufgrund der begrenzten Ressourcen hat "einfach POLITIK:" diesen Weg (noch) nicht bestritten.

4. Die Aufgabe "Inklusion" annehmen: Schlussfolgerungen für die Erstellung von Bildungsmaterialien

Inklusive Materialien sind keine "Übersetzungen" herkömmlicher Materialien

Inklusion ist als Akzeptanz von Heterogenität zu verstehen. Insofern gibt es keine herkömmlichen Lehrmaterialien und andere ergänzende Materialien für bestimmt Zielgruppen. Für die Zielgruppe "Bildungsbürger" konzipierte Bildungsmaterialien und Lehrprozesse können nicht normsetzend sein. Inklusion ist in der politischen Bildung nicht realisierbar als Übersetzung von in Fachsprache verfassten Inhalten in Leichte Sprache.

Warum Übersetzungen bei politischen Bildungsmaterialien nicht möglich sind, kann ein Beispiel verdeutlichen: In jedem Text werden Begriffe als bekannt vorausgesetzt. Mit diesen Begriffen werden unbekannte Sachverhalte erklärt. Bei Texten in einfacher oder Leichter Sprache, können und müssen weniger Begriffe als bekannt vorausgesetzt werden. Daraus ergeben sich nicht nur mehr Begriffsklärungen, sondern auch die Notwendigkeit, den didaktischen Aufbau eines Bildungsmaterials zu ändern. Wenn zum Beispiel das politische System der Bundesrepublik Deutschland erklärt werden soll, dann ist es ein grundlegender Unterschied, ob vorausgesetzt werden kann, dass die Begriffe "Staat" und "Gewaltmonopol des Staates" bekannt sind oder nicht.

In den 1990er-Jahren hat die Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten wichtige Impulse für die öffentliche Diskussion über Verständlichkeit von Informationen aller Art für Menschen mit Lernschwierigkeiten gegeben, die auch Ausgangspunkt der Entwicklung der Reihe "einfach POLITIK" waren (Meyer/ Hilpert 2018, 353).
In der Diskussion um die Nutzung der Leichten Sprache in der Politischen Bildung weist Zurstrassen (2015, 130) auf die Gefahr einer unkritischen Nutzung der Leichten Sprache hin. Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten lese- und schreibkulturell spezifisch sozialisiert werden und einen eigenen normierten Schreib- und Sprachstil, mit spezifischen Schreibweisen und abweichenden grammatikalischen Regeln verwenden, wenn zudem Fachbegriffe vermieden werden, dann kann dies auch zu nicht gewünschten Exklusionsprozessen führen.

Fachbegriffe verwenden und erklären

Weder "bildungsbürgerliche" Informations- und Lehrmaterialien, noch die in der Politik gebräuchliche Sprache und Redewendungen sind als normsetzend für einfache Materialien anzusehen.

Dies heißt aber nicht, dass die Ignorierung von Fachbegriffe einem inklusiven Anspruch gerecht werden. Fachbegriffe sind Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses. Begriffe wie "Erststimme" oder "Landesliste" finden sowohl in Fernsehnachrichten, als auch in amtlichen Wahldokumenten Verwendung. Deshalb sollten wichtige, im Medienalltag und im politischen Geschehen genutzte Begriffe auch in inklusiven Lehrsituationen bzw. in Lehrmaterialien verwendet werden. Erforderlich ist allerdings, sie zu erklären.
Da die Erklärungen mit dem Ziel erfolgen, Teilhabe zu erleichtern, ist es sinnvoll diese in den Bildungsmaterialien so zu verwenden, wie die Begriffe den Lesenden im Partizipationsalltag begegnen. Deswegen trennt zum Beispiel "einfach POLITIK:", anders als gemäß den Regeln der Leichten Sprache vorgesehen, zusammengesetzte Wörter wie "Wahlbenachrichtigung" nicht. In den Wahlbenachrichtigungen, die die zur Wahl aufgerufenen Bürgerinnen und Bürger zugesandt bekommen, soll der Begriff wiedererkannt werden.

Es stellt sich dann die Frage, für wen denn die Hefte "einfach POLITIK" tatsächlich geeignet und sinnvoll zu nutzen sind. Sind sie für die allermeisten zu einfach? Werden dort Begriffe erklärt, die allgemein bekannt sind?

Ein Blick auf den Medienalltag kann helfen diese Frage zu beantworten: Ein beliebtes Mittel, Lacher in Comedy-Sendungen zu generieren, sind Umfragen in Fußgängerzonen. Dabei werden Bürgerinnen oder Bürger auf der Straße befragt und später wird sich in der Comedy-Sendung darüber lustig gemacht, wenn die befragte Person ganz offensichtlich gar nicht versteht, worüber sie redet. Auch wenn man dieses Genre nicht mag. Es deckt auf, dass viele Menschen, gerade auch wenn es um Politik geht, mit Begriffen oder Sachverhalten operieren, die nicht wirklich verstanden werden.
Daraus folgt: Wenn "einfach POLITIK:" Fachbegriffe erklärt, dann heißt dies vor allem, dass die Hefte und Webseiten die Lesenden oder die Hörenden nicht zwingen, so zu tun als ob die Beherrschung politischer Terminologie für alle selbstverständlich sei. "einfach POLITIK:" bringt Menschen nicht in Verlegenheit wie die oben genannte Umfrage auf der Straße es tut. Nur weil die "Zweitstimme" auch in den Fernsehnachrichten und auf Wahlplakaten auftaucht, muss nicht klar sein, was der Unterschied zur "Erststimme" ist. Wenn die Unterschiede und ihre Bedeutung in den Heften zur Bundestagswahl erklärt werden, dann korrespondiert dies also nicht nur mit dem spezifischen Bedarf einer besonderen, der Sonderpädagogik zugeordneten Zielgruppe sondern es wird etwas mit einfachen Worten beschrieben, das den meisten Menschen schwer fallen würde zu erklären.

Sprachliche Gestaltung von einfach POLITIK:

Die Anregungen und Forderungen der Selbstvertretungsbewegung sind auch Ausgangspunkt der Entwicklung der Reihe "einfach POLITIK:". Die Reihe ‚einfach POLITIK:‘ greift als Regel formulierte Gestaltungselemente der Leichten Sprache auf. Aber sie weicht zum Teil auch bewusst von einzelnen Vorgaben des vom "Netzwerk Leichte Sprache" veröffentlichten Regelwerkes ab. Die Notwendigkeit hierzu ergibt sich aus den Zielsetzungen der Politischen Bildung, wie etwa in dem oben genannten Beispiel, aber auch aus dem inklusiven, zielgruppenoffenen Ansatz der Reihe.

a) Charakteristika analog der Regeln "Leichte Sprache"

In Texten der Reihe "einfach POLITIK" finden Verwendung:

  • einfache Wörter,

  • kurze Sätze,

  • möglichst keine Nebensätze,

  • möglichst keine Passivkonstruktionen.

Typisch für die Gestaltung der Broschüren der Reihe:

  • größere Schrift als üblich (z.B. 14 pt),

  • Zeilenumbruch nach Satzende oder nach Sinnabschnitten,

  • kurze Absätze, übersichtliches Layout,

  • Fotos, Illustrationen oder gezeichnete Bilder unterstützen das Textverständnis.

b) Charakteristika, die die Bezeichnung "einfache Sprache" induzieren

Andere Charakteristika der Reihe sind Ergebnisse des Diskussionsprozesses. Sie sind Gründe, warum von Produkten in einfacher Sprache gesprochen wird und nicht von solchen in Leichter Sprache. Dazu zählt:

  • Es werden keine Bindestriche zwischen den Wortteilen zusammengesetzter Wörter verwendet.

  • Fachbegriffe werden verwendet und eingeführt (z.B. absolute Mehrheit). Sie sind gekennzeichnet, fett geschrieben und werden erklärt.

  • Die Texte vermeiden möglichst wertende Aussagen wie "das ist gut", auch wenn dies manchmal einfacher ist, als sachlich zu beschreiben.

  • Die Sätze sind einfach, aber grammatikalisch korrekt.

  • Um dem individuellen Bedarf derer, die etwas mehr wissen wollen, gerecht zu werden, erklären wir ergänzend auch Zusammenhänge, die etwas schwieriger sind, zum Beispiel: die 5% Klausel im Bundestagswahlheft.

Zielgruppe Erwachsene: Hohe Anforderungen an die Bildsprache

Warum Sie ihr Wahlrecht nutzen sollten (© bpb)

Illustration haben in der Reihe "einfach Politik" eine das Verständnis des Textes unterstützende Aufgabe. Die Bildauswahl bedarf sehr hoher Kompetenz bei der Einordnung in politisch-gesellschaftliche Sachverhalte und Sensibilität für politisch-gesellschaftliche Symbolik. Eindeutige Überrepräsentanz wie auch Unterrepräsentanz von Personen, die bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zuzuordnen sind, wenn nicht inhaltlich besonders begründet, zu vermeiden. Mit anderen Worten: In inklusiven Bildungsmaterialien sollten z.B. auch Menschen mit Behinderung oder weibliche Muslima ihren Platz in den Darstellungen finden. Inklusivität bei Bilddarstellungen heißt aber nicht, dass auf die bildliche Wiedergabe von "alten weißen Männer" oder "jungen weißen Frauen" verzichtet werden sollte.
Von hoher Relevanz ist, dass die Reduktion von Komplexität nicht durch Rückgriff auf (problematische) Klischees erfolgt.

Die Bildgestaltung insgesamt und die Auswahl der einzelnen Bilder sollen die Lesenden nicht mit zu hoher Komplexität konfrontieren. Trotzdem dürfen die in Produkten der Reihe "einfach POLITIK:" verwandten Bilder nicht kindlich, simplifizierend wirken. Denn obwohl die Hefte, Webseiten und Hörbücher auch für Schülerinnen und Schüler geeignet sind und die Produkte hohe Nutzungszahlen an Schulen aufweisen: die Reihe ist und bleibt für Erwachsene konzipiert. Bei der Erstellung der Illustrationen wird berücksichtigt, dass nicht alle Personen, die die Hefte lesen, dieselbe Kompetenz bei der Entschlüsselung von Bildaussagen haben. Deshalb können durchaus Bilder gewählt werden, die auf unterschiedlichen Ebenen interpretiert werden können. Auch die Verwendung von Bildern mit unterschiedlichen Funktionen (Veranschaulichung des Textes/ weiterführende Erklärung) sind möglich.

5. Erstellen inklusiver Materialien: Zwischen dem Erfordernis der Reduktion und dem Bedarf an Auswahlmöglichkeiten

Anforderungen bei der Abgrenzung des Themenfeldes

Materialien in einfacher Sprache können Menschen mit erweiterter Lesekompetenz helfen, Sachverhalte klarer zu verstehen. Ein Einsatz der Materialien in einfacher Sprache kann bei entsprechender didaktischer Planung somit für alle sinnvoll sein, insbesondere für inklusive Gruppen. Einfache Sprache ist kein grundsätzlicher Hinderungsgrund für die gemeinsame Nutzung. Wenn tiefer in ein politisches Themenfeld eingedrungen wird, werden die Inhalte komplexer und das Produkt umfangreicher. Komplexere Inhalte können insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten überfordern. Dickere Hefte oder lange Webdossiers oder lange Laufzeiten von Audio CDs können bei Menschen mit Lese- oder Lernschwierigkeiten Unlust hervorrufen.

Andererseits: Zu starke Reduktion des thematischen Angebotes schränkt die Auswahl nach dem individuellen Bedarf unverhältnismäßig ein und vermindert die Möglichkeit des Einsatzes in inklusiven Settings. Bei der Erstellung der Hefte bemühen sich die Machenden bei jeder Ausgabe um einen Weg, der einerseits dem Erfordernis der zielgruppengerechten Reduktion gerecht wird, der zugleich aber die Möglichkeit eröffnet, bei gegebenem Bedarf mehr als das (streng genommen nur individuell zu bestimmende) Allernotwendigste zu erfahren.
Derjenige, der individuell das Heft bestellt oder die Webseite liest, hat einen individuellen Wissensbedarf. Dem Lesenden soll noch die Möglichkeit bleiben, gemäß des individuellen Bedarfs auszusuchen und sich mit tiefergehenden Inhalten zu beschäftigen.

Nutzungsmöglichkeit in inklusiven Gruppen

Die Möglichkeit, Schwerpunkte auszusuchen, ist für den Lehrbetrieb von besonderer Bedeutung. Die Hefte der Reihe werden viel in der Schule, in Integrationskursen und in anderen Lehrsituationen verwendet. Dort können die Materialien als Ganzschrift eingesetzt werden. Aber es ist auch möglich, einzelne Kapitel gemäß der Unterrichtssituation herauszugreifen und zu behandeln. Und – dies ist ausgehend von der inklusiven Konzeption besonders wichtig – die Hefte bieten der oder dem Lehrenden die Möglichkeit der leistungsgerechten differenzierten Aufgabestellung.

Schlussbemerkung

Der inklusionspädagogische und fachdidaktische Diskurs ist für die Entwicklung inklusiver Materialien von großer Bedeutung. Auch für Medienpädagoginnen und -pädagogen sind die fachlichen Überlegungen eine Hilfestellung für die Auswahl von Materialien. Insbesondere mit Blick auf digitale Medien bleibt abzuwarten, wie sich der Diskurs weiterentwickelt.

Literatur

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Ackermann, Karl-Ernst (2015): Politische Bildung im inklusiven Bildungssystem – grundsätzliche Fragen, in: Dönges, Christoph / Hilpert, Wolfram / Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 18-29.

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Besand, Anja; Jugel, David (2015 [2]): Zielgruppenspezifische politische Bildung jenseits tradierter Differenzlinien. In: Dönges, C.; Hilpert, W.; Zurstrassen, B. (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 99–109.

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Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Redaktion: Hilpert, Wolfram) (24.05.2019): inklusiv politisch bilden Externer Link: http://www.bpb.de/inklusiv-politisch-bilden

Kronauer, Martin (2013): Soziologische Anmerkungen zu zwei Debatten über Inklusion und Exklusion. In: Burtscher, R.; Ditschek, Eduard-Jan; Ackermann, Karl-Ernst; Kil, Monika & Kronauer, Martin (Hrsg.), Zugänge zu Inklusion. Erwachsenenbildung, Behindertenpädagogik und Soziologie im Dialog. Bielefeld: Bertelsmann Verlag, S. 17-25

Kronauer, Martin (2015): Politische Bildung und inklusive Gesellschaft, in: Dönges, Christoph / Hilpert, Wolfram / Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 30-44.

Meyer, Dorothee; Hilpert, Wolfram (2018): Politik, einfach für alle Grundlagen und Weiterentwicklungen der bpb-Reihe ‚einfach POLITIK‘. Beltz Juventa. Sonderpädagogische Förderung heute 63 (2018) 4, 345-355

Netzwerk Leichte Sprache, Die Regeln für Leichte Sprache (PDF). In: Netzwerk Leichte Sprache (27.05.2019), Externer Link: https://www.leichte-sprache.org/die-regeln/

Rüstow, Nadine (2015): Leichte Sprache – eine neue »Kultur« der Beteiligung, in: Dönges, Christoph / Hilpert, Wolfram / Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 115-125.

Zurstrassen, Bettina (2014): Interner Link: Zur Definition des Begriffs Inklusion - Überlegungen als Beitrag zur Definition eines Begriffs (aus Sicht der Politikdidaktik)

Zurstrassen, Bettina (2015 [1]): Zielgruppenorientierung, in: Dönges, Christoph / Hilpert, Wolfram / Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 110-114.

Zurstrassen, Bettina (2015 [2]): Inklusion durch leichte Sprache?, in: Dönges, Christoph / Hilpert, Wolfram / Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 126-138.

Fussnoten

Hilpert, Wolfram studierte Geschichte und Philosophie (Lehramt Sek. II/I). Er war u.a. als Lehrer und in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Seit 2013 ist er als Referent im Fachbereich "Zielgruppenspezifische Angebote" der Bundeszentrale für politische Bildung u.a. mit didaktischen Fragen der "inklusiven politischen Bildung" und der Erstellung inklusiver Angebote befasst. Er ist Produktverantwortlicher der Reihe "einfach POLITIK".