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Was hat islamische Geschichte mit mir zu tun? | bpb.de

Was hat islamische Geschichte mit mir zu tun? Version mit Gebärdensprache

von: Hatice Schmidt Prof. Dr. Bekim Agai Prof. Dr. Armina Omerika

Im Rahmen der Webvideo-Reihe "Begriffswelten Islam" informiert der Gesprächsfilm über den Begriff der "Islamischen Geschichte".

Inhalt

Die YouTuberin Hatice Schmidt besucht in diesem Gesprächsfilm Prof. Dr. Bekim Agai und spricht mit ihm über das Themenfeld der islamischen Geschichte.

Volltextalternative

[Zu sehen ist Hatice Schmidt, gefilmt vor dem unscharfen Hintergrund eines Flughafens. Hatice spricht direkt in die Kamera. Am Ende nimmt sie ihren Koffer und wendet sich Richtung Eingang des Gebäudes.]

Hatice: Hi Leute! Wie ihr wisst, bin ich Muslima, habe ein Kopftuch getragen und habe sogar einen deutschen Mann geheiratet. Das hab ich alles ganz offen in meinen FAQ besprochen und seitdem sind die Kommentare explodiert: Diskussionen und super viele Fragen zum Islam. Auch ich habe Fragen zum Islam, habe auf Youtube leider nicht so viel dazu gefunden und deshalb begebe ich mich jetzt auf eine interessante Reise und werde in den nächsten Wochen ein paar Experten treffen, in der Hoffnung, dass sie mir meine Fragen beantworten können.

[Leise Musik beginnt zu spielen. Hatice ist nun als Off-Stimme zu hören. Dazu sind folgende Filmbilder zu sehen: Hatice im Profil in der Flughafenhalle, der Koffer, der übers Fließband läuft, Füsse im Gehen von oben gefilmt, ein Display mit der Aufschrift "Herzlich willkommen", eine Kamerafahrt auf dem Weg zum Gate bei der im Vordergrund die Boardkarte von Hatice zu sehen ist und schließlich Aufnahmen aus dem Flugzeugfenster auf das Rollfeld und im Flug. Dann Schnitt auf ein Rollband im Zeitraffer, Blick auf ein Rollfeld, ein startendes Flugzeug, ein Flugzeugflügel im Gegenlicht, eine von Hatice hochgehaltene Kamera auf deren Display das Flugzeuginnere zu sehen ist, weitere Bilder von Landschaft und Sonnenuntergang aus dem Flugzeug gefilmt. Schließlich sehen wir Hatice Schmidt und einen jungen Mann eine sonnige Strasse entlanglaufen und miteinander sprechen.]

Hatice: Und weil der erste Experte, den ich unbedingt treffen möchte, mir geschrieben hat, dass er mich zwar auch gerne treffen möchte, aber gerade nicht in Deutschland, sondern beruflich auf Malta ist, habe ich beschlossen, die Koffer zu packen, mich davon nicht aufhalten zu lassen, sondern einfach nach Malta zu fliegen und euch mitzunehmen. Denn: die Chance mit einem so spannenden Menschen zu sprechen, möchte ich mir nicht entgehen lassen. Prof. Dr. Bekim Agai ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Islamische Studien an der Uni Frankfurt, wo er auch den Bereich Gesellschaft und Kultur des Islam in Geschichte und Gegenwart leitet. Ich möchte mich als erstes mit ihm treffen, weil es mir persönlich immer hilft eine Sache besser zu verstehen, wenn ich auch verstehe, wo sie herkommt. Daher habe ich genau das Prof. Dr. Bekim Agai gefragt, als wir uns auf einer wunderschönen aber auch sehr windigen Dachterrasse in Valletta getroffen haben.

"Was genau bedeutet islamische Geschichte überhaupt?"

[Nun sehen wir den jungen Mann vor dem Hintergrund des Meeres stehen. Er blickt auf ein nicht sichtbares Gegenüber, spricht lebendig und mit den Händen gestikulierend. In Handschrift wird links der Name "Prof. Dr. Bekim Agai" eingeblendet. Während wir Prof. Dr. Agai sprechen hören, sehen wir immer mal wieder kurz einen Schnitt auf Hatice, die aufmerksam zuhört.]

Agai: Islamische Geschichte ist für mich alles, was irgendwie mit dem Islam in seiner Entstehung, in seiner Funktion in Verbindung getreten ist. Also ich vergleiche das immer ganz gerne mit einer Uhr. Wenn wir eine Uhr haben, zeigt die etwas an und das ist Resultat einer sehr viel komplexeren Entwicklung. Denn wenn wir die Uhr aufmachen, sehen wir verschiedene Zahnräder. Für mich ist der Islam... den kann man sich vorstellen als ein großes Zahnrad, was mit anderen Zahnrädern in Verbindung steht. Wenn wir z.B. bedenken, weil die sakrale Sprache des Korans Arabisch ist, haben Muslime in ihrer Bildung Arabisch gelernt. Das ermöglichte, dass sich Menschen auf Arabisch austauschen konnten, z.B. über philosophische oder medizinische Themen. Das ermöglichte, dass Gelehrte aus Bukhara mit Gelehrten aus Baghdad kommunizierten. Das wäre ohne den Islam nicht möglich gewesen. Sie konnten sich auch über Wissenszweige wie die Philosophie, wie die Medizin, wie die Architektur zu einer Blüte bringen, wie sie ohne Austausch nicht möglich gewesen wäre.

Wenn wir diesen Begriff "islamisch" rein normativ sehen, dann würden wir die Uhr aufmachen, das islamische Zahnrad sozusagen... die anderen rausnehmen und sagen: Das ist jetzt wirklich islamisch. Damit würden wir aber diesen Wechselwirkungen gar nicht gerecht werden. Denn letztlich hat der Islam diese Dinge bewegt und ist von diesen auch wieder mitbewegt worden.

[Im Bild ist nun Hatice, die gegenüber Prof. Dr. Agai auf der Terasse steht – im Hintergrund sind Dächer anderer Häuser zu sehen.]

Hatice: Ist die islamische Geschichte egal wo, wann oder wer ich gerade bin? Ich z.B., Hatice Schmidt, 2015 Bielefeld, oder für meine Mutter vor vierzig Jahren in der Türkei, oder für jemanden ganz woanders ganz ganz früher, als die islamische Geschichte entstand. Ist es immer dasselbe?

[Wieder ist Prof. Dr. Agai im Bild. Hatice wird kurz zuhörend gezeigt.] Agai: Unser Blick auf die Geschichte verändert sich natürlich. Wir sind nicht dabei gewesen, wir gucken, wie es war. Oder wir versuchen zu gucken, wie es war und versuchen zu verstehen, warum es so war. Das heißt es ja, die Dinge in ihrem Kontext zu verstehen. Also wie ist das da gewesen. Und dann haben wir unser Jetzt, von dem aus wir gucken. Das ist den Muslimen schon ziemlich früh klar gewesen.

Also der Koran sagt, die Reichen sollen Almosen geben. Jetzt ist die Frage, wer war reich? Der Beduine, wenn er soundsoviele Kamele hatte? Wenn man das sagt: ok, das ist so, wer soundsoviele Kamele hat, ist reich. Jetzt gehen wir zu irgendeinem großen Finanzinvestor, der hat unglaublich viele Immobilien, hat aber keine Kamele. Ist der jetzt arm? Müsste man dem Almosen geben, weil er arm ist? Nein, das haben die Muslime schon sehr früh erkannt, dass diese Frage, wer ist eigentlich reich, was ist arm, was ist ein Grundbedürfnis, je nach Ort, Zeit etc. sehr unterschiedlich ist. Einmal muss ich verstehen, was wohl gemeint war in dieser Zeit, und dann muss ich daraus eine Übertragung in meine Welt bringen und fragen, was bedeutet das für mich heute.

[Hatice wird gezeigt.]

Hatice: Bedeutet das, dass islamische Geschichte nicht vorbei ist? Also so ein altes fertiges Buch, was mit mir nichts zu tun hat, sondern, dass es immer weiter geht? Jetzt hier gerade? Also immer ein Prozess?

[Prof. Dr. Agai ist zu sehen, zwischendurch Schnitt auf Hatice.]

Agai: Die Muslime schreiben ihre Geschichte fort. Mit dem Ende der Prophetie ist die Welt für die Muslime eben nicht untergegangen, sondern steht ihnen zur Gestaltung offen. Alles was wir als Vergangenheit beobachten, ist ja irgendwann mal Gegenwart gewesen. Und so ist auch unsere Gegenwart irgendwann mal Geschichte. So wie Muslime immer ihre Gegenwart gestaltet haben und immer gefragt haben, was bedeutet eigentlich Islam jetzt und hier? Davon haben wir heute große Moscheen, große Bildungseinrichtungen, die wir als Vergangenheit beobachten und manchmal vergessen, dass das irgendwann mal Gegenwart war und dass Menschen in dieser Zeit sich über Zukunft Gedanken gemacht haben. Und dass wir eigentlich genau an derselben Stelle sind, heute z.B. in Europa zu entscheiden, was der Islam auch europäischen Gesellschaften, was er für Muslime bedeuten kann und was er Nicht-Muslimen darüber hinaus auch geben kann.

[Nun ist wieder Hatice zu sehen, die mit starken Gesten ihre Frage untermalt.]

Hatice: Was bedeutet das denn für mich als Muslima? Oder für meine muslimischen Zuschauer? Oder nicht-muslimischen Zuschauer? Was bedeutet das denn ganz allgemein für junge Leute?

[Die meiste Zeit ist Prof. Dr. Agai im Bild, aber auch Hatice wird zuhörend häufiger gezeigt.]

Agai: Für junge Leute heißt das, dass Muslime sich schon immer an ihrer Zeit messen mussten. Die großen islamischen Zivilisationen sind in ihrer Zeit moderne Zivilisationen gewesen, die mit den vorhandenen Wissensgegenständen, mit den politischen Theorien in Interaktion waren. Und hier in ihrer Zeit eben Erfolgsmodelle anbieten konnten.

Isolation hat Muslimen in der Geschichte letztlich nie was gebracht und alles was wir uns heute als die Blüte angucken, waren Epochen des Austausches. Und der Austausch geht ja weiter und stellt eben an Muslime auch immer wieder neue Fragen. Deshalb wird die islamische Geschichte nicht nur irgendwo im Nahen Osten oder so fortgeschrieben, sondern überall, wo es Muslime gibt, wird die islamische Geschichte fortgeschrieben. Also wir treten in diese Diskussion ein. Wir fragen, was bedeutet Islam im Feld Schule, im Religionsunterricht? Wir fragen - es gibt soziale Arbeit, die Kirchen machen soziale Arbeit - können wir sowas auch machen? Und dann tritt man in Diskussion und sagt ok, was sind vielleicht Dinge, die ich dafür wissen muss, die es nicht irgendwo im Koran gibt? Moderne Pädagogik, wie gehe ich mit Jugendlichen um, was sind die Bedürfnisse und was hat meine Tradition in Verbindung hier anzubieten? Und in dieser Verzahnung - wie ich sagte, die Zahnräder greifen ineinander - da entstehen immer wieder neue Dinge, und insofern sind wir genau heute im Zentrum. Islamische Geschichte geht weiter und wir sind Teil davon.

[Wieder ist Hatice im Bild.]

Hatice: Bedeutet das, dass auch ich islamische Geschichte mitgestalten kann, sozusagen das Geschichtsbuch von morgen?

[Schnitt auf Prof. Dr. Bekim Agai.]

Agai: Genau, wir alle können Geschichte schreiben und im Koran hat Gott nach koranischer Vorstellung den Menschen die Erde anvertraut: Also macht was draus! Ihr habt Offenbarungen vorher bekommen, jetzt habt ihr die finale Offenbarung bekommen und jetzt ist es an euch diese Welt zu gestalten.

[Hatice ist zu sehen, sie lächelt.]

Hatice: Ok, letzte Frage: Kannst du mir und all meinen Zuschauern, egal ob muslimisch oder nicht-muslimisch, einen Rat aus der islamischen Geschichte geben?

[Prof. Dr. Bekim Agai spricht klar und bestimmt und lächelnd.]

Agai: Aus der Geschichte würde ich für heute mitnehmen: mutig sein, den Austausch suchen, mit anderen - auch religiös anderen oder nicht-religiös anderen - Experten diskutieren und auf die Art und Weise die nächsten Seiten im Buch der Geschichte weiterschreiben!

[Musik beginnt zu spielen, wir sehen den Blick über Dächer auf das Meer im Sonnenuntergang, dazwischen Hatice, die durch eine Gasse läuft. Schließlich ist Hatice in Großaufnahme zu sehen, abends im Lampenlicht auf der Strasse. Weitere Bilder sind: eine überdachte Gasse, an deren Ende eine Person läuft, Großaufnahme von Füssen im Gehen, eine Strassenkreuzung und mit weißen Tischtüchern und Gläsern gedeckte Tische, Strassenaufnahmen abends und schließlich wieder Hatice Schmidt, die am Ende der Strasse auf die Kamera zu kommt. Eingeblendet wird an dieser Stelle "Herzlichen Dank an die Bundeszentrale für politische Bildung" handschriftlich und mit einem Herzsymbol geschrieben. Dann Schnitt auf einen Steinbrunnen und wieder Hatice im Vordergrund, die in die Kamera spricht, eine Strassenaufnahme und die handschriftliche Einblendung "Herzlichen Dank an die Expertinnen und Experten, die unsere Fragen in den Kommentaren beantworten" und ein handgezeichneter Pfeil auf den unteren Bildrand. Hatice ist noch einmal zu sehen, wie sie eine Strasse entlang geht, dann die Einblendung "Weitere Infos findet ihr in der Videobeschreibung" wieder mit einem Pfeil der auf den unteren Bildrand verweist, dann wieder Hatice in Großaufnahme und dann die nächste Einblendung "nächste Woche geht meine Reise weiter – ich hoffe, mit Euch" und einem kleinen Herzsymbol. Schließlich sehen wir wieder Hatice in Großaufnahme, über ihr in einem Bogen die handschriftliche Einblendung "Herzlichen Dank an Euch fürs Zuschauen!", sie winkt zum Abschied, dann wird der Film ausgelendet.]

Hatice: Ich bin grad noch mal durch Valletta gelaufen, weil ich die ganzen Eindrücke erstmal sacken lassen musste. Es war so eine spannende Reise nach Malta. Ich durfte den Prof. Dr. Bekim Agai treffen, was auch noch mal eine Ehre für mich ist. Vielen Dank noch mal an dieser Stelle, dass ich dich treffen durfte! Wir haben uns gesiezt und sind per Du auseinander gegangen.

Dieses Video entstand übrigens mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Es entstand mit deren Hilfe und ich möchte mich nochmal an dieser Stelle beim ganzen Team bedanken. Ich hoffe, dass es für euch auch super spannend war, wie für mich!

Wenn ihr Fragen habt, egal was, oder diskutieren möchtet: die Bundeszentrale für politische Bildung stellt uns nämlich Experten und Expertinnen zur Verfügung, die uns Fragen beantworten. Also haut alles in die Kommentare, damit eure Fragen und meine Fragen nicht offen bleiben!

Aber das war erst der Anfang meiner Reise. Ich hoffe, dass ich noch einen zweiten Experten hier auf Malta treffen kann. Drückt mir die Daumen, dass es klappt! Und ob es geklappt hat, seht ihr dann nächste Woche in der nächsten Folge. Ich hoffe, dass ihr auf jeden Fall dran bleibt und mich auf dieser Reise begleitet. Ich bedanke mich bei euch für's Reinschalten, sage Tschüss und bis zum nächsten Mal mit euch!

Mehr Informationen

  • Redaktion, Kamera, Schnitt, Drehbuch, Musik, Ton: Meimberg GmbH

  • Sprecher: Hatice Schmidt, Prof. Dr. Bekim Agai

  • Wissenschaftliche Beratung: Saliha Kubilay, Marie Meimberg, Prof. Dr. Armina Omerika

  • Gesprächspartner: Prof. Dr. Bekim Agai

  • Produktion: 15.10.2015

  • Spieldauer: 11 Min.

  • hrsg. von: Bundeszentrale für politische Bildung

Lizenzhinweise

Dieser Text und Medieninhalt sind unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Prof. Dr. Bekim Agai Prof. Dr. Armina Omerika für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
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