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Buddhismus und Europa | bpb.de

Buddhismus und Europa

A.-B. Renger

Der B. hat im Zuge seiner Ausbreitung erst in Asien, später Nordamerika und Europa eine große Vielgestaltigkeit entwickelt. Er passte sich jeder neuen Kultur an und veränderte Stil und Methoden. Diese Diversität spiegelt sich auch in Europa wider, wo der B. mit einem facettenreichen Spektrum an Schulen und Richtungen (Theravada, Vajrayana, Zen; europ. Neubildungen wie Diamantweg-Buddhismus) gegenwärtig fester Bestandteil des Religionspluralismus ist. Nachdem das Interesse an ihm im 19. Jh. weitgehend wissenschaftlich begründet und er Gegenstand v. a. von Philosophie, Religions-, Geschichts- und Sprachwissenschaften war, wirkten sich bei der Beschäftigung mit ihm in der zweiten Hälfte des 20. Jh. (mit exponentiellem Anstieg seit den 1990er-Jahren) zunehmend religiöse/ spirituelle Motivationen aus. 1975 wurde als Dachorganisation buddhistischer Organisationen, Zentren und Gruppen in Europa die Europäische Buddhistische Union (E.B.U.) gegründet. Derzeit bildet der B. für viele Europäer eine philosophische, lebenspraktische und spirituelle Alternative zu ihrem bisherigen religiösen oder areligiösen Selbstverständnis. In steigender Zahl werden an verschiedenen Universitätsfakultäten B.-Studien betrieben. Historische Entwicklung: Schon in der Antike gab es Verbindungen des damals Europa genannten Erdteils mit buddhistischen Kulturkomplexen Asiens. Seit dem Alexander-Feldzug bis ins Indusgebiet (um 326 v. Chr.) fand zwischen dem Mittelmeerraum und Nordwestindien ein Austausch statt, zu dessen Zeugnissen die hellenist.-buddhist. Gandhara-Kunst und der Pali-Text Milindapañhā gehören, in dem der titelgebende indogriech. König einen buddhist. Mönch zu Lehrinhalten wie Nirwana, Karma, Wiedergeburt und Erwachen befragt. Belegt ist auch die wechselseitige Beeinflussung von B. und Christentum, das sich bald nach seiner Gründung nach Osten ausbreitete; allerdings ist das Ausmaß umstritten. In jedem Fall gibt es durch Spätantike und Mittelalter hindurch bis ins 18. Jh., u. a. in Form von Turfan-Dokumenten und Berichten christlicher Mönche, Zeugnisse der Begegnung beider Religionen. Richtig bekannt wurde der B. in Europa erst ab dem frühen 19. Jh. nach Eindringen europ. Kolonialmächte in buddhistische Kulturräume. Nachdem engl. Kolonialbeamte in Indien alte Texte zu übersetzen begonnen hatten, entstanden in Europa erste Lehrstühle für Indologie und Sanskritstudien, und der Begriff »B.« sowie weitere Bestimmungen wurden geprägt, die auf das Verständnis der Gelehrten und Praktizierenden in Asien rückwirkten. Wegbereitend für die multimediale europ. B.-Rezeption waren – neben Theravada-Forschern wie Karl E. Neumann und Paul Dahlke, die viel gelesene Übersetzungen von Pali-Texten anfertigten (Dahlke gründete 1924 zudem das »Buddhistische Haus« in Berlin) – Philosophen und Intellektuelle wie Schopenhauer, Nietzsche und Rhys David, die in buddhistischen Lehren eigene Anschauungen bestätigt sahen. Einflussreich war aber auch die 1875 gegründete Theosophische Gesellschaft, die einen vom Okkultismus geprägten »esoterischen« B. ins Leben rief, der in Europa überaus populär wurde. B. heute: Zu Beginn des 21. Jh. ist der B. in Mittel-, West- und, in geringerem Maße, Südeuropa in allen größeren Städten vertreten (nach aktueller Schätzung z. B. in Deutschland 250.000, in Italien 60.000 Buddhisten). Initialzündung für die Entwicklung hin zu großer Breitenwirksamkeit insbesondere des tibetischen B. und des Zen war die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre. »Spirituelle Sucher« fanden auf Reisen nach Asien im B. ihre Heimat und gründeten in Europa Zentren, die sich auf zumeist charismatische »Meister« aus dem Osten zurückführten. Das so erzeugte ethnische Erscheinungsbild des B. in Europa wandelt sich in jüngerer Zeit u. a. durch eine wachsende Anzahl spiritueller Lehrer aus Europa, die dem B. ein europ. Gepräge verleihen. Merkmale dieser Anpassung sind die zunehmende Auflösung der traditionellen Unterscheidung zwischen Laien- und Mönchstum, die Förderung eines »Laienbuddhismus für Westler«, der keine Änderung des Lebensstils erfordert, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Integration von ethnischen und Randgruppen. Während Buddhisten mit asiat. Migrationshintergrund v.a. die Gelegenheit zu Ahnenverehrung und religiösen Ritualen suchen, setzen europ. Konvertiten den Akzent auf Verwirklichung von »Erleuchtung« durch Studium buddhistischer Schriften und regelmäßige Meditationspraxis. U. a. der hierdurch mögliche Zuwachs an leistungssteigernder Gelassenheit hat den Philosophen Slavoj Žižek veranlasst, westlichen und damit auch den B. in Europa als eine »fetischistische Ideologie« für das kapitalistische Zeitalter zu beschreiben, die den Anschein geistigen Wohlbefindens zu wahren helfe, anstatt sich der Dynamik des Kapitalismus zu stellen. Zu dieser Kritik dürfte auch der Umstand beigetragen haben, dass sich in Nordamerika und Europa auf dem freien Markt der Religionen und Weltanschauungen eine Art »Konsumbuddhismus« gebildet hat, für den die Industrie hinreichend Waren (Räucherstäbchen, Zafus, Buddha-Köpfe, Mantra-CDs etc.) liefert.

Literatur

  • M. Baumann: Buddhism in Europe: Past, Present, Prospects, in: C. S. Prebish/M. Baumann (Hg.), Westward Dharma. Buddhism beyond Asia, Berkeley 2002, S. 85-105.

  • S. Heine/C. S. Prebish (Hg.): Buddhism in the Modern World. Adaptations of an Ancient Tradition, Oxford 2003.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: A.-B. Renger

Fussnoten

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