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Mythos Europa | bpb.de

Mythos Europa

A.-B. Renger

Der griech. Geschichtsschreiber Herodot (4. Jh. v. Chr.) erwähnt die Geschichte der Entführung der phönizischen Prinzessin Europa an prominenter Stelle (Herodot 1,1-4): in einer Reihe wechselseitiger Raube von Frauen aus Hellas und Asien, die zugleich als Vorgeschichte des griech.-pers. Konflikts präsentiert wird. Herodots Werk ist nicht das erste »abendländische« Zeugnis von Europas Raub. Der Mythos kommt seit Homers Ilias allenthalben in der Literatur vor, seit dem 6. Jh. v. Chr. auch in der Bildkunst, u. a. auf Vasen, Reliefs, (Wand-)Gemälden. Erzählt wird, wie der griech. Göttervater Zeus (lat.: Iuppiter) ein begehrliches Auge auf Europa warf, sich ihr in Stiergestalt näherte und sie verschleppte. Von der Schönheit und Sanftheit des Stiers eingenommen, soll Europa ihn gestreichelt, sich auf seinen Rücken gesetzt, der Göttervater sich daraufhin erhoben, sie nach Kreta entführt und mit ihr Kinder gezeugt haben.

Europa, ihre Vorfahren und Nachkommen bezeugen die Verbindung der Völker. Griechen, Kreter, Phönizier und Ägypter, die sich ums Mittelmeer gruppieren, werden in dem Sagenstoff von Europas Familie, die den Mittelmeerraum durchreist und besiedelt, als von Vielfalt geprägte kulturelle Einheit gesehen – ähnlich, wie wir sie heute, unter veränderten ethnografischen und politischen Verhältnissen, mit dem Europa-Gedanken anstreben. Europa selbst erhielt in den Transformationen des Mythos bis heute unterschiedlichste Rollen: von der gewaltsam geraubten Jungfrau über die zu Gott strebende Seele hin zur fatalen Verführerin, der sich der Mann willig unterwirft. Seit dem 2. Jh. v. Chr. wirkt sich bei der Rollenverteilung die Kritik der Philosophen an den Liebesaffären der Götter aus. An sie knüpfen in der Spätantike christliche Autoren wie Tertullian, Gregor von Nazianz und Augustinus an, deren negative Wertungen lange fortwirken. Die Humanisten erschließen neue Zugänge zum Mythos, indem sie Deutung und christliche Heilswahrheit trennen, u. a. um die historische Distanz ihrer Zeit zur Antike hervorzuheben. Bei Boccaccio erscheint Jupiter als Gewaltmensch, der Europa, eine Frau von besonderen Gaben, auf seinem mit einem Stiersymbol geschmückten Schiff entführt. An diese Lesart knüpfen alle Transformationen an, in denen Europa als historische Persönlichkeit vorkommt und wo es um den Namen des Erdteils geht, wie etwa in Christine de Pizans Stadt der Frauen (1405): »Europa […] erlangte Berühmtheit, weil Jupiter sie liebte, und sie verlieh einem Drittel der Erde ihren Namen.«

Im 16. Jh. treten christliche Gehalte gegenüber sinnlich-emotionalen Befindlichkeiten in den Hintergrund. Autoren wie Edmund Spenser (1590), Lope de Vega (1602/04) und Giambattista Marino (1618) geht es um Wucht und Macht der Liebe. Um 1650 nehmen travestierende Bearbeitungen zu; zumal im 18. Jh. wird Europa mit ironischer Distanz betrachtet, z. B. von Dichtern wie Lessing (1751), Gottfried A. Bürger (1789) und später Heine (1835, 1851/54), der fragt: »Ja, Europa ist erlegen, wer kann Ochsen widerstehen?« Im 20. Jh. werden mittels des Mythos gehäuft politische Aussagen getroffen, etwa in Georg Kaisers Stück Europa (1915), und dann v. a. im Rahmen der weit gespannten Ideen der Paneuropa-Bewegung seit 1923. Im Dritten Reich hält Europa für nationalsozialistische Propagandazwecke her, zugleich ist sie, im Gegenzug, Sinnbild des wehrlosen, leidenden Kontinents; Max Beckmanns bekannte Darstellung von 1933 z. B. zeigt Europa mit von Schmerz verzerrtem Gesicht auf dem Rücken des Stieres liegend. Johannes R. Becher wendet sich 1943 in »Stier und Stachelschwein« gegen den Länder- und Erbeanspruch der Nationalsozialisten. Die Gewalt, die Europa hierbei zugefügt wird, ist nach 1945 in der DDR-Literatur häufig Thema, so in Günther de Bruyns Prosaskizze Raub der Europa (1979). Ab Mitte der 1980er-Jahre steigt die Anzahl der Literatinnen, die den Raub thematisieren, erheblich. 1993 eröffnet F. Mayröckers Europa-Rede eine ganze Reihe unterschiedlichster Rückgriffe auf den Mythos, worin Europa als Personifikation des Erdteils oder der EG fungiert und der Raub kritisch gesehen wird, so etwa in der Anthologie »Nach Europa. Texte zu einem Mythos« (1993). Um 2000 wird die Prinzessin verstärkt in der Karikatur und affirmativen Europa-Politik eingesetzt: als Personifikation für den Erdteil oder die EG. Signifikant ist das Titelbild des Spiegel-Magazins vom 25.5.2000. Auf ihm prescht der Stier voran, auf dem Rücken das Mannequin Laetitia Casta, die in Europa sich selbst erkennt: »Jugendlich, modern, dynamisch und optimistisch.«

Literatur

  • A.-B. Renger (Hg.): Mythos Europa, Leipzig 2003. Dies.: Art. »Europa«, in: M. Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption – Die antike Mythologie in Literatur, Kunst und Musik von den Anfängen bis zur Gegenwart [= Der Neue Pauly, Supplemente 5], Stuttgart 2008.

  • A.-B. Renger/R. A. Ißler (Hg.): Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen 2009.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: A.-B. Renger

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