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Draghi, Mario | bpb.de

Draghi, Mario

M. Große Hüttmann

[* 3.9.1947] ital. Ökonom und seit 1.11.2011 der 3. Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und damit Nachfolger von Wim Duisenberg und Jean-Claude Trichet. 1971 Abschluss des Studiums der Wirtschaftswissenschaften in Rom (La Sapienza), 1976 Promotion (als erster ital. Absolvent) am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge (USA); 1981 Professur für Finanzwissenschaft an der Universität Florenz; 1984–90 ital. Exekutivdirektor bei der Weltbank (Washington), 1990 Rückkehr nach Italien als Berater des damaligen Präsidenten der Banca d’Italia, Carlo Azeglio Ciampi; dieser stand für den grundlegenden Wandel in Richtung einer unabhängigen Finanz- und Zinspolitik; seit 1991 arbeitete D. als Staatssekretär bzw. Generaldirektor im ital. Finanzministerium, er ist die treibende Kraft der Privatisierungspolitik (Banken, Energie, Telekommunikation); in dieser Funktion beteiligt als sog. »Sherpa« an den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht (1991), der die Wirtschafts- und Währungsunion begründete. 2001 geht D. als Dozent an die Kennedy School of Government (Harvard, USA); 2002–05 als Vizepräsident bei der Investmentbank Goldman Sachs verantwortlich für das Europageschäft; in dieser Funktion laut Medienberichten jedoch nicht befasst mit der Mitwirkung von Goldman Sachs an Tricksereien, die Griechenland 2001 den Beitritt zur Eurozone durch Übermittlung unkorrekter Wirtschaftsdaten ermöglicht haben. Am 1.2.2006 übernimmt D. als Gouverneur der ital. Notenbank ein wichtiges Amt; mit seiner Berufung an die Spitze der Notenbank in Rom sind große Hoffnungen auf eine Konsolidierung des ital. Bankensystems verbunden. Die internationale Erfahrung D. und sein Eintreten für eine solide Finanzpolitik machen ihn zu einem der international führenden Köpfe der europ. Finanzbranche (Spitzname »Super-Mario«); ab 2006 Vorsitzender des »Financial Stability Forum« (2009 von der G 20 in »Financial Stability Board« umbenannt), welches Reformen des internationalen Finanzsystems erarbeitet. Als Gouverneur der ital. Notenbank ist D. zugleich Mitglied im Rat der EZB und seit Januar 2011 im Lenkungsrat des neu geschaffenen Europäischen Ausschusses für Systemrisiken (»European Systemic Risk Board«).

Als der dt. Bundesbankpräsident Axel Weber als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge des seit 2003 amtierenden EZB-Präsidenten Trichet seine von der Bundesregierung unterstützte Bewerbung im Februar 2011 überraschend zurückgezogen hatte, wurde D. schnell zum chancenreichsten Kandidaten für die Nachfolge Trichets. Dass D. aus dem »Weichwährungsland« Italien kommt, galt unter Experten angesichts seiner hohen fachlichen Reputation, seiner internationalen Erfahrung, seinem klaren Bekenntnis für eine an Preisstabilität ausgerichtete EZB-Zinspolitik sowie sein Eintreten für eine solide Haushalts- und Konsolidierungspolitik in den EU-Staaten als unwesentlich. Um die skeptische dt. Öffentlichkeit und Politik zu überzeugen, empfahl D. nach dem Rückzug Webers die Strukturreformen in Deutschland und die dt. »Stabilitätskultur« in zahlreichen öffentlichen Äußerungen ausdrücklich als Vorbild für alle Eurostaaten. Nachdem die dt. keinen alternativen Personalvorschlag präsentieren konnte oder wollte, war der Weg für D. an die Spitze der EZB frei. D. übernahm im November 2011 sein Amt in einer Zeit der sich verschärfenden Euro- und Staatsschuldenkrise, die er durch niedrige Leitzinsen und durch Aufkäufe von Staatsanleihen von Eurostaaten zu entschärfen versuchte; er gilt manchen Beobachtern als »Europas letzte Hoffnung« (SZ) in der europ. Staatsschuldenkrise. Zusammen mit 3 weiteren EU-Spitzenpolitikern (Präsident van Rompuy, Eurogruppenvorsitzender Juncker und Kommissionspräsident Barroso) legte er im Juni 2012 einen Plan zur Bekämpfung der Eurostaatsschuldenkrise vor, mit dem u. a. eine europaweite Bankenunion geschaffen werden sollte. Im Juli 2012 versprach D. in einer öffentlichen Rede in London, dass die EZB »alles Notwendige« (»Whatever it takes...«) tun werde, um den Euro zu retten; die internationalen Finanzmärkte verstanden diese Äußerung als Zusicherung D., dass die EZB ggf. unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenstaaten (z. B. Italien und Spanien) aufkaufen werde. Diese (zeitweilige) Beruhigung der internationalen Finanzmärkte wird dem »Draghi-Effekt« zugeschrieben. Die von D. betriebene Niedrigzins-Politik wird von der Bundesbank und ihrem Präsidenten Jens Weidmann und in der Öffentlichkeit immer wieder (z. T. scharf) kritisiert. Die in Deutschland weit verbreitete Sorge, dass die Politik der EZB zu höherer Inflation führe, teilt D. nicht. Im Oktober 2019 endete seine Amtszeit als EZB-Präsident.

Literatur

  • Munzinger-Archiv. FAZ vom 15.02.2011 und 18.05.2011. International Herald Tribune vom 25.02.2011. Financial Times vom 30.4./1.5.2011. SZ vom 10./11.12.2011. FAS vom 23.12.2012.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Große Hüttmann

Siehe auch:

Fussnoten

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