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Verfassungsvertrag der EU | bpb.de

Verfassungsvertrag der EU

J. A. Emmanouilidis

Der V. [offiziell: Vertrag über eine Verfassung für Europa] wurde vom Verfassungskonvent zwischen Februar 2002 und Juli 2003 erarbeitet, im Rahmen einer Regierungskonferenz leicht modifiziert, im Juni 2004 verabschiedet, und am 29.10.2004 in Rom feierlich unterzeichnet. Der V. führte alle bis dahin bestehenden Verträge (EGV, EUV sowie Protokolle und Erklärungen) – in ein neues Grundlagendokument zusammen. Die bis dahin insgesamt mehr als 700 Artikel der europ. Verträge wurden auf 448 Artikel reduziert. Der V. besteht aus 4 Teilen. Teil I beschreibt die Grundbestimmungen zu Zielen und Werten, Zuständigkeiten und Organen der EU. Teil II beinhaltet die unter dem Vorsitz des ehem. dt. Bundespräsidenten Roman Herzog entstandene Charta der Grundrechte. Teil III führt den ersten Teil mit besonderen Bestimmungen zu den Organen und Politikfeldern aus. Dieser Teil ist mit mehr als 300 Artikeln am umfangreichsten. Dabei handelt es sich in erster Linie um bereits geltendes Recht aus dem Vertrag von Nizza (2000). Aufgrund seines Umfangs und seiner komplexen Detailregelungen entspricht Teil III am wenigsten dem Bild eines klaren und übersichtlichen Verfassungstextes. Teil IV enthält die Schlussbestimmungen. Hierzu gehören die Regeln zur Aufhebung früherer Verträge, diverse Verfahren zur künftigen Reform des europ. Primärrechts und die Bestimmungen zum Inkrafttreten des V. Dem V. vorangestellt ist die Präambel, in der sich die EU-Staaten zur Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit verpflichten. Im Anhang zum V. befinden sich eine Vielzahl von Protokollen (36) und Erklärungen (50).

Die wichtigsten Neuerungen des V. umfassen

1. die zunehmende Personalisierung der EU durch die Einsetzung eines gewählten Präsidenten des Europäischen Rates, die Schaffung des Amtes eines Europäischen Außenministers sowie die Stärkung des Präsidenten der EU-Kommission;

2. die Verkleinerung der Kommission ab dem Jahr 2014;

3. die Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, das im Haushaltsverfahren gestärkt und im regulären Gesetzgebungsverfahren dem Ministerrat gleichgestellt wird;

4. die Einbindung der nationalen Parlamente im europ. Gesetzgebungsprozess;

5. die Ausweitung von sog. qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat;

6. die Einführung des Abstimmungsverfahrens der sog. doppelten Mehrheit im Ministerrat;

7. die rechtsverbindliche Übernahme der Europäischen Grundrechtscharta;

8. die klarere Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten durch die Einführung von Kompetenzkategorien;

9. die Verleihung einer Rechtspersönlichkeit an die EU und

10. die Vereinfachung bisheriger und die Einführung neuer Instrumente der flexiblen Integration.

Der V. sollte ursprünglich am 1.11.2006 in Kraft treten. Hierfür musste er in allen EU-Staaten entweder durch die nationalen Parlamente oder in Volksabstimmungen ratifiziert werden. Obwohl der V. in einer Mehrheit von EU-Staaten bereits verabschiedet worden war, scheiterte der Ratifizierungsprozess, nachdem die Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden im Mai/Juni 2005 negativ ausgegangen waren und folglich die Ratifizierung in mehreren Ländern ausgesetzt wurde. Die Neuerungen des V. wurden jedoch im Wesentlichen im Vertrag von Lissabon übernommen.

Literatur

  • B. Crum: Learning from the Constitutional Treaty: Democratic Constitutionalization beyond the Nation-State, Abingdon 2012.

  • D. Göler: Deliberation – Ein Zukunftsmodell europäischer Entscheidungsfindung? Analyse der Beratungen des Verfassungskonvents 2002–2003, Baden-Baden 2006.

  • H. Kleger (Hg.): Der Konvent als Labor. Texte und Dokumente zum europäischen Verfassungsprozess, Münster/Westf. 2004.

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: J. A. Emmanouilidis

Siehe auch:

Fussnoten

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