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Deutschland (vor 1945) | bpb.de

Deutschland (vor 1945)

Hans-Ulrich Thamer

Die verspätete Nation

Mit der Reichsgründung holten die Deutschen nach, was in Westeuropa sich schon viel früher und unter anderen Bedingungen vollzogen hatte: die Konstituierung eines Nationalstaates.

Außenpolitisch möglich wurde die Reichsgründung in einem Wellental der europäischen Geschichte, als das militärische und globale Engagement der beiden europäischen Flügelmächte Großbritannien und Russland wie des bonapartistischen Frankreich in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre einen machtpolitischen Spielraum eröffneten.:

Die deutsche Einigung wurde in den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 errungen, doch war Bismarck alles andere als ein militärischer Abenteurer. Er führte seine Kriege zur Durchsetzung begrenzter politischer Ziele und nie um den Gegner völlig niederzukämpfen. Denn trotz der revolutionären Veränderungen wollte das Preußen Bismarcks verfassungs- wie außenpolitisch nicht als Exponent der Veränderung, sondern der Bewahrung verstanden werden.

Gleichwohl war das Deutsche Reich im Krieg geboren, und das hatte Folgen für seine internationale Situation wie für seine innere politische Kultur. Die kraftstrotzende preußisch-deutsche Militär- und Industriemacht bedeutete eine Beunruhigung für seine Nachbarn. Zudem war der monarchisch-militärische Reichsgründungsakt im Spiegelsaal zu Versailles sinnfälliger Ausdruck der Machtverhältnisse im Deutschen Reich. Die preußische Militärmonarchie, der obrigkeitsstaatliche Verwaltungsstaat und die traditionellen Führungsgruppen behaupteten das Zentrum der Macht, und Bismarcks polarisierende Innenpolitik sollte den Prozess der inneren Nationenbildung für lange Zeit belasten.

Der Bismarckstaat brachte die ersehnte Einheit. Bismarck gewährte gerade so viele konstitutionelle Elemente, wie es mit den Interessen der preußischen Machteliten vereinbar war. Die Verfassung des neuen Deutschen Reiches beruhte auf einem komplizierten, ungleichgewichtigen System aus monarchisch-autoritären und parlamentarischen, aus föderativen und aus unitarischen Elementen. Der monarchischen Spitze blieb die beherrschende Stellung gegenüber dem Reichstag, Freiheit im Sinne eines parlamentarischen Systems war im Bismarckreich nicht verwirklicht, aber es bestand 1871 durchaus die begründete Hoffnung, durch eine Politik der kleinen Schritte dem Ziel von Einheit und Freiheit näherzukommen.

Das Scheitern der Zukunftserwartungen des Liberalismus begann mit der sog. Zweiten Reichsgründung von 1878, dem Ende der Zusammenarbeit Bismarcks mit den Liberalen, dem Übergang von der Freihandels- zur Schutzzollpolitik. Die politischen Gegenspieler der Liberalen, Konservative und bald auch das katholische Zentrum, wurden zu den Stützen der Reichspolitik, und mit der Abkehr von der Freihandelspolitik wurde ein Eckstein des liberalen Weltbildes zerstört.

Die Ära des Hochliberalismus ging überall in Europa ihrem Ende entgegen, und ein neues Verständnis vom Staat und seinen Aufgaben in Wirtschaft und Gesellschaft setzte sich durch. Die notwendige soziale Öffnung des Liberalismus wurde noch dadurch erschwert, dass gleichzeitig konkurrierende politische Ideologien und Leitbilder auftauchten. Da waren vor allem ein Antisemitismus, der die alte Judenfeindschaft überlagerte, und ein neuer Nationalismus, der sich entdemokratisiert hatte. Der neue Reichsnationalismus blockierte die liberal-demokratische Weiterentwicklung der politischen Verfassung des Deutschen Reiches. Der Begriff „national“ wurde von einem linken zu einem rechten Begriff, der sich zu einer plebiszitär-cäsaristischen Mobilisierungstechnik gegen Parlament, Parteien, Liberale und Demokraten umformen ließ. Der neue Nationalismus war Abwehrideologie und Ausdruck einer Aufbruchstimmung zugleich. Nation wurde zu einer Kampfgemeinschaft gegen die inneren und äußeren Feinde stilisiert, deren Geschlossenheit Voraussetzung für koloniale Expansion und nationale Weltpolitik war. Der Kampf um den „Platz an der Sonne“ folgte keinem nüchternen ökonomischen Kalkül, sondern war Ausdruck des Selbstwertgefühls einer Nation, die nach Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer neuen Stärke verlangte.

Das geschah zwar fast überall in Europa und war die innenpolitische Seite des Imperialismus, aber nirgends gab sich die neue Massenideologie so ausschließlich wie in D, das die vielfältigen Modernisierungsvorgänge in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur im Unterschied zu den westlichen Nachbarn in einer dramatischen Gleichzeitigkeit und in einem rapiden Tempo erlebte. Das führte zu einer Veränderungsdynamik mit all ihren Verunsicherungen, Verwerfungen und Widerständen. Die Folge war ein deutsches Sonderbewusstsein, eine Abgrenzung deutscher Verfassung und Kultur von der westlichen Zivilisation und Demokratie.

Vor allem ließ sich der neue imperiale Nationalismus mit dem neuen politischen Antisemitismus verbinden. Er wurde von der Konfession abgelöst und an das „Blut“ gebunden. Seine Anhänger fand der Antisemitismus bei denen, die sich von der Moderne bedroht fühlten, denn „jüdisch“ wurde gleichsam zum Synonym für alle Dissonanzen und Schattenseiten der Moderne. Auch der Antisemitismus trat überall in Europa im letzten Drittel des 19. Jh. als Ausdruck einer Modernitätskrise in Erscheinung. In D wurde er besonders verhängnisvoll, weil er die Juden aus einer Nation ausschloss, die sich gerade erst konstituierte.

Das „ruhelose Reich“

Imperialistische Expansion, industrielles Wachstum, der Ausbau der Staatlichkeit und auch der entstehende politische Massenmarkt einschließlich neuer gesellschaftlicher Großorganisationen – all das förderte die Vorstellung von Bewegung und Macht, von der Durchsetzungskraft und Notwendigkeit des Großen. Eine Generation nach der Reichsgründung war das deutsche Kaiserreich zur politisch, militärisch und wirtschaftlich führenden Macht Europas herangewachsen, die nur noch von England übertroffen wurde. Wachstum und Bewegung prägten die gesellschaftliche Entwicklung in fast allen Bereichen und vermittelten den Zeitgenossen das Gefühl von Stolz und Verunsicherung zugleich.

Die industrielle Produktion hatte sich mehr als verdoppelt, die Bevölkerungszahl war von 40 auf 60 Mio. gestiegen und immer mehr Menschen lebten in Städten. Das Wachstum der Städte und technische Errungenschaften, Ozeandampfer und Warenhäuser wurden zum Symbol für den allgegenwärtigen Fortschritt. In das Bild von Machbarkeit und Wachstum mischten sich Unsicherheiten und Statusängste, Krisengefühle und Kulturpessimismus. Industrielles Wachstum und Urbanisierung veränderten das Gesicht der bislang agrarisch geprägten Gesellschaft: Davon profitierten das Wirtschaftsbürgertum, die wachsenden Gruppen von Angestellten, aber auch Beamte und freie akademische Berufe sowie qualifizierte Arbeiter, während kleine bäuerliche Betriebe, Handwerker und Kleingewerbetreibende zu den Verlierern zählten. Als Bedrohung und Hinweis auf die Ambivalenz des Fortschritts wurde von der großen Mehrheit der bürgerlichen Gesellschaft der Aufstieg der → SPD und sozialistischen → Gewerkschaften zu Massenorganisationen empfunden. Auf ihre Stigmatisierung als Reichsfeind reagierte die Arbeiterbewegung mit einer inneren Radikalisierung und der Ausbildung einer Gegenkultur, die überall in einem Netzwerk von proletarischen Organisationen ihren Ausdruck fand und in strikter Konfrontation zum bürgerlichen Vereins- und Parteiwesen stand. Ein tiefer sozialer Graben durchzog die Gesellschaft des kaiserlichen Ds und prägte die → politische Kultur. Bei den Reichstagswahlen von 1912 erreichte die SPD 35 % der Stimmen und wurde mit 110 Mandaten im Reichstag stärkste Fraktion. Das → Parteiensystem des Kaiserreichs war in eine Sackgasse geraten. Nationalistische Massenagitationen einerseits und die sozialdemokratische Lagermentalität andererseits waren vierzig Jahre nach der Reichsgründung Symptome für das große Ausmaß der inneren Spannungen im politischen System des Kaiserreichs und die Grenzen seiner Integrationsfähigkeit.

Gleichwohl lässt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht allein als „Flucht nach vorn“, d. h. als Versuch der deutschen Reichsleitung und konservativen Eliten erklären, unlösbare innere Spannungen nach außen abzuleiten.

Wichtiger waren die Folgen des Ersten Weltkriegs für D und Europa, für die europäische Stellung in der Welt wie für das europäische Staatensystem und die inneren Verhältnisse der Staaten. Der Krieg war von Anfang an ein gesamteuropäischer Krieg und wurde zu einem Weltkrieg, der das Ende einer eurozentrischen Weltordnung sowie den Übergang des europäischen Mächtesystems in ein Weltsystem und die schrittweise Auflösung der europäischen Kolonialreiche einleitete. Vor allem vollzog sich die Mobilisierung der Gesellschaft im Zeichen der Idee der Nation als Lebensgemeinschaft und einer Nationalisierung der Massen, deren Eintritt in die Politik von der Dominanz militärisch-nationalistischer, kollektivistischer und gewaltbereiter Wert- und Verhaltensmuster begleitet war. Das hatte verheerende Folgen für die politische Kultur der Zwischenkriegszeit und belastete die Entstehung bzw. den Ausbau parlamentarisch-demokratischer Verfassungssysteme.

Die ungeliebte Republik

Mit der Weimarer Republik war der politisch-rechtliche Rahmen für die volle Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft gegeben. Zugleich verlangte das Ergebnis der deutschen Revolution von 1918/19 den sozialen und politischen Kompromiss der bürgerlichen Gruppen mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft war nur um den Preis einer Sozialpartnerschaft und eines Gesellschaftsvertrags zwischen Arbeitgebern und den Gewerkschaften zu erreichen.

Demokratischer Verfassungsstaat und Sozialstaat, die beiden zentralen Beiträge der Weimarer Republik zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in D, verlangten bei ihrer Verwirklichung die Fähigkeit zum Kompromiss bzw. Konsens und eine dauerhafte Politik der bürgerlichen Mitte. Das war schon schwierig genug angesichts der überkommenen sozialen Gräben und der zunehmenden Schwäche des bürgerlichen Liberalismus sowie der Fragmentierung bzw. Auflösung des Bürgertums. Es wurde zusätzlich belastet durch die massenpsychologischen Folgen des verlorenen Krieges und die ökonomische Dauerkrise, die auch von den kurzen Jahren der scheinbaren Stabilisierung 1924–1929 nur ansatzweise behoben wurde. Die Gleichzeitigkeit der verfassungs-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Probleme macht die Besonderheit der deutschen Situation aus.

Der politische Konsens, den die gewaltigen innen- und außenpolitischen Probleme erfordert hätten, wurde schon bald durch eine zunehmende Fragmentierung der politischen Kultur unterhöhlt, in der sich traditionelle, obrigkeitsstaatlich geprägte Politikvorstellungen und neue ideologische Denk- und Verhaltensmuster trafen. Zu der traditionellen Abneigung, vor allem bei großen Teilen der alten, den Verfassungswechsel jedoch sozial und politisch überlebenden Eliten, gegen einen „Parteienstaat“ und umgekehrt der Präferenz für einen „Staat über den Parteien“, der die Führungsrolle der „adelig-bürgerlichen Amtsaristokratie“ (O. Hintze) weiterhin sichern sollte, kam ein ideologisches Freund-Feind-Denken im Zeichen militanter, totalitärer Weltanschauungen, das die Woge des Antiliberalismus von rechts und links verstärkte. Auch der soziale Kompromiss wurde bald Schritt für Schritt ausgehebelt, und zum Kampf gegen den „Parteienstaat“ kam der Kampf gegen den „Sozialstaat“.

Um so verführerischer waren die scheinbaren Integrationsangebote, die von den verbreiteten Parolen einer „nationalen Volksgemeinschaft“ ausgingen und die die Ursachen der vielfachen Krisenkonstellation auf einfache Ursachen wie die Dolchstoßlegende, „Versailles“ oder „den Juden“ zurückführten. Das erinnerte an sozialimperialistische Mobilisierungstechniken des Kaiserreichs, hatte aber eine neue Qualität, weil diese Ideologeme nun zu Glaubensinhalten breiter und autonomer Massenbewegungen wurden, die sich am Ende durch die traditionellen Machteliten nicht mehr steuern ließen. Denn die Massenhaftigkeit der Ängste und Krisen, die Auflösung überkommener Milieubindungen durch Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrisen sowie die Fundamentalpolitisierung im Zeichen nationalistischer und populistischer Ideologien erlaubten kein Zurück zum bürokratischen Obrigkeits- und Machtstaat wilhelminischer Prägung. Zusammengehalten wurden die verschiedenen Anti-Haltungen zur Weimarer Republik durch einen radikalen Nationalismus, der durch Weltkrieg und Niederlage nicht etwa diskreditiert wurde, sondern neue Nahrung erhielt. Nicht dass der Nationalstaat trotz territorialer und materieller Einbuße bewahrt werden konnte, bestimmte das politische Denken in der Weimarer Republik, sondern das Trauma von Versailles und die populäre Forderung nach Revision des Versailler Vertrages. Indem sie dem revisionistischen Konsens oft höheren Rang einräumten als dem Verfassungskonsens, haben die Regierungen und Parteien von Weimar den radikalen nationalistischen Agitationsbewegungen einen politischen Vorteil verschafft, deren Forderungen nach nationaler Größe und Volksgemeinschaft zugleich gegen die Verfassungsordnung der Republik gerichtet waren.

Die nationalsozialistische Diktatur: Tradition und Revolution

Die NSDAP war Nutznießer und Verstärker der zahlreichen Revisionsforderungen und radikal-nationalistischen Parolen, indem sie mit ihrem integralen Nationalismus die verschiedenen Ängste und Erwartungen bündelte und mit ihrer Rhetorik den Eindruck von Entschiedenheit und Entschlossenheit erweckte. Damit versprach sie wirkungsvoll, die Verheißung von Volksgemeinschaft und nationaler Größe in die Tat umzusetzen.

Die Anfänge der NSDAP

In ihrer Frühphase war die 1920 aus der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) hervorgegangene NSDAP eine militante Kampf- und Protestbewegung im heterogenen völkischantisemitischen Milieu mit anfänglichem Schwerpunkt in BY. Sie unterschied sich bald von den übrigen nationalistisch-paramilitärischen Verbänden und Parteien durch ihre Propaganda und die gewaltbereite Radikalität ihres politischen Auftretens. Die Aufmerksamkeit, die die frühe NSDAP bald auf sich zog, hatte sehr viel mit der Agitationstätigkeit von Adolf Hitler zu tun, der am 20.02.1920 das Parteiprogramm und die Gründung der NSDAP verkündete. Das 25-Punkte-Programm der NSDAP enthielt antikapitalistische und antisemitische Elemente und stellte einen Querschnitt des zeitgenössischen völkisch-antisemitischen Ideengemenges dar.

Hitlers Weg in die Politik begann als Werbeobmann seiner Partei. Im März 1920 aus der Reichswehr ausgeschieden, entwickelte Hitler einen rastlosen Einsatz, der zusammen mit . seiner rhetorischen Ausstrahlungskraft ihn bald zu einer stadtbekannten Figur der politischen Szene von München machten und ihm einflussreiche Gönner und Unterstützer aus Bürokratie, Militär (u. a. E. Ludendorff) und Großbürgertum verschafften, die in den politisch aufgewühlten Zeiten mit ihrer finanziellen und institutionellen Förderung verschafften und in ihren Salons der bohèmehaften Exaltiertheit des politischen Newcomers ein institutionelles und gesellschaftliches Netzwerk boten, das seinen Aufstieg ermöglichte.

Ihre Mitglieder gewann die frühe NSDAP vor allem aus den 1920 aufgelösten militärischen und paramilitärischen Verbänden. Das führte auch zu einem raschen Anwachsen der „Sturmabteilung“ (SA), die trotz ihrer gleichzeitigen Mitgliedschaft in der politischen Organisation der NSDAP durch den Zustrom von militärisch erfahrenen Führern mehr und mehr zu einem parteiunabhängigen, wenngleich auf Hitler verpflichteten Wehrverband wurde. Zulauf erhielt die völkische Agitationspartei in ihrer charakteristischen Doppelstruktur von politischer Partei und Parteiarmee vorwiegend aus mittelständischen Schichten, die von Inflation und sozialem Statusverlust getroffen und anti-republikanisch eingestellt waren.

Die frühe NSDAP verstand sich nicht als herkömmliche politische Partei, sondern als revolutionäre Bewegung, die auf dem Wege eines Putsches und nach dem Vorbild von dem italienischen Faschisten-Führer B. Mussolini die verhasste Weimarer Republik von Bayern aus beseitigen wollte. In der schweren politischen Krise des Herbstes 1923 meinte Hitler den Konflikt zwischen der bayerischen Regierung unter Generalstaatskommissar G. Ritter von Kahr und der Reichsregierung nutzen zu können, um das Zeichen zu einem „Marsch auf Berlin“ und zur Errichtung einer „nationalen Diktatur“ zu geben. Der „Hitler-Putsch“ vom 08./09.11.1923, mit dem der selbst ernannte Führer und Retter seinen Machtwillen demonstrieren und aus der politischen Sackgasse herausfinden wollte, brach mit der blutigen Auflösung eines bewaffneten Demonstrationszuges am Morgen des 09.11. zusammen. Die NSDAP wurde verboten und Hitler am 01.04.1924 in einem Hochverratsverfahren zu dem außerordentlich milden Urteil von fünf Jahren Festungshaft mit Aussicht auf vorzeitige Entlassung verurteilt. Während Hitler seine Haftzeit, aus der er am 20.12.1924 vorzeitig entlassen wurde, zur Abfassung des ersten Bandes seiner politischen Kampf- und Bekenntnisschrift „Mein Kampf“ nutzte, zerbrach die 1923 von 15.000 auf 55.000 Mitglieder angewachsene, nun führerlose Bewegung in mehrere völkische Gruppierungen.

Die NSDAP 1925–1933

Nach seiner Entlassung wurde Hitler wieder zum Sammelpunkt der NSDAP, die durch eine veränderte politische Strategie und einen anderen Parteiaufbau ein neues Profil erhielt. Die Putschtaktik wurde durch Hitlers Legalitätstaktik ersetzt, ohne dass damit der politischen Gewalt abgeschworen wurde. Vor allem versuchte Hitler nun, die Partei zu einem Instrument des Führerwillens zu machen. Seine Führerrolle sollte zusätzlich durch seine Programmschrift „Mein Kampf“ begründet werden, die zu einem konsequenten politischen Weg und zu einem Element des Führer-Mythos wurde. Die in einigen Regionen Nordwestdeutschlands entstandenen bündisch-kollegialen Führungsstrukturen wurden in internen Machtkonflikten aufgelöst und durch eine hierarchische Organisation mit diktatorischer Führung abgelöst. Die Münchner Reichsleitung um Hitler und seine Führungsclique konnte sich gegen zentrifugale Tendenzen durchsetzen und auch einen ideologisch-propagandistischen Alleinvertretung behaupten. Die NSDAP nahm nun die Form einer charismatischen Führerpartei an, in der sich die Willensbildung auf die personale Autorität des „Führers“ bezog und ohne die Mitwirkung der Mitglieder auf der Grundlage von Befehl und Gehorsam von oben nach unten durch Akklamation vollzog. Im Unterschied zu Konzepten und Praktiken einer traditionellen autoritären Politik, die von den Notverordnungsregimes der Jahre 1930–1932 angestrebt wurden und eine Wende zurück zu bürokratischen Formen eines Obrigkeitsstaates bedeuteten, versprachen die Nationalsozialisten durch ihre plebiszitären Politikelemente und durch ihre Partei- und Vorfeldorganisationen den Anspruch der Massen auf politische Teilhabe zu erfüllen. Durch die seit 1930 erfolgreiche Massenmobilisierung wurde Politik durch Bewegung und Aktivismus ersetzt und die massenhafte politische Proteststimmung kanalisiert. Hitler duldete und förderte zeitweise solche Gruppenbildungen, die seine Rolle als oberste Schiedsinstanz erst sicherten. Erst wenn seine oberste Autorität in Frage gestellt wurde, griff er in die innerparteilichen Richtungskämpfe ein.

Auf die Phase des Neuaufbaus, der zunächst noch am Rande des politischen Spektrums ablief, folgte ab 1929/30 vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Staatskrise die Phase des Aufstiegs zur Massenpartei. Die NSDAP, die noch bei den Reichstagswahlen von 1928 nur 2,6 Prozent der Stimmen und 12 Abgeordnetensitze erhielt, wurde bei den vorzeitigen Wahlen zum Reichstag vom 14.09.1930 mit einem Erdrutschsieg zu einem politischen Machtfaktor. Sie erhielt 6,4 Mio., −18,3 % der Stimmen – und stellte damit 107 Abgeordnete. Die radikale Agitation der Nationalsozialisten innerhalb und außerhalb des Parlaments, das sie eigentlich bekämpften, beschleunigte die Endkrise der Weimarer Republik, die freilich schon zuvor mit der autoritären Wende in Politik und Gesellschaft eingesetzt hatte. Bei den beiden Wahlgängen zur Wahl des Reichspräsidenten, bei denen Hitler gegen Hindenburg kandidierte, entfielen im März und April 1932 36,8 % der Stimmen auf die Hitler-Partei, bei den Wahlen zum Preußischen Landtag am 12.04.1932 sogar 37,8 % der Stimmen. Ihren Höhepunkt in diesem Super-Wahljahr erreichte die NSDAP bei den erneuten Reichstagswahlen am 31.07.1932 mit reichsweit 37,8 %. Die radikalen, verfassungsfeindlichen Parteien NSDAP und KPD erzielten dabei zusammen über 50 % der Stimmen und machten das Parlament handlungsfähig.

Die neue Massenbewegung der NSDAP veränderte die politische Landschaft fundamental und zog vor allem die bisherigen Wähler der bürgerlichen Parteien an sich. Gegen diesen Sog konnten sich nur das katholische Milieu mit der Zentrumspartei sowie der Stamm der sozialdemokratischen und kommunistischen Wähler behaupten. Ferner gelang es der NSDAP, bisherige Nichtwähler für sich zu mobilisieren. Die Zahl der Mitglieder der NSDAP wuchs unter dem Eindruck dieser Wahlerfolge von 27.000 Ende 1925 auf über 150.000 Ende Sep. 1930 und auf 1,3 Mio. im Jan. 1933. Die NSDAP war eine „junge“ Partei. 1930 waren fast 70 % der Mitglieder jünger als 40 Jahre, 37 % jünger als 30 Jahre. Von den Parteifunktionären waren 65 % unter 40 Jahren, 26 % jünger als 30 Jahre. Die soziale Basis der Partei der Massenbewegung rekrutierte sich vor allem aus dem breiten Spektrum der evangelischen bürgerlichen und bäuerlichen Mittelschichten. Selbstständige aus den freien Berufen, aus Handwerk und Gewerbe, Angestellte und Beamte waren – gemessen am Anteil der jeweiligen Gruppen an der Zahl aller Berufstätigen- in der NSDAP überrepräsentiert. Zugleich bildeten die Arbeiter (vor allem aus Handwerk und Kleingewerbe) zahlenmäßig die stärkste soziale Gruppe innerhalb der Parteimitgliedschaft, auch wenn sie, gemessen am Anteil der Arbeiter an der gesamten Erwerbsbevölkerung, unterrepräsentiert waren. Nach 1930 bekannten sich auch Honoratioren und Angehörige des Adels zur NSDAP. Sie entwickelte sich damit, als Novum in der Parteiengeschichte, zu einer tendenziell alle Schichten umfassende nationalistische Volkspartei, deren soziales Profil sich im Laufe der Parteigeschichte immer wieder veränderte.

Die verschiedenen von der NSDAP und ihren berufsständischen Gliederungen mobilisierten Interessen hielt vor allem die Erwartung auf einen Retter und Erneuerer zusammen, die Hitler für immer weitere Teile der krisengeschüttelten Gesellschaft zu erfüllen schien. Er war darum als Führer- und Integrationsfigur für die NSDAP unentbehrlich.

Mit der massenwirksamen Volksgemeinschaftsparole, die der „Führer“ zu verkörpern schien, wurden die vielfältigen Erwartungen auf Überwindung aller Standes- und Klassenschranken ebenso angesprochen wie die widersprüchlichen Hoffnungen auf Statusbewahrung einerseits und soziale Aufstiegsmobilität andererseits. Auf keinen Fall kann die Dynamik der nationalsozialistischen Glaubens- und Protestbewegung mit finanziellen Unterstützungen durch die Großindustrie erklärt werden, die bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 eher begrenzt blieben und anderen, nationalistisch-bürgerlichen Parteien ebenso zuflossen, ohne dass diese dadurch noch länger Erfolge an der Wahlurne erleben konnten. Die Finanzierung der gewaltigen Propagandakampagnen der NSDAP erfolgte in erster Linie durch die Mitglieder und ihre Beiträge sowie durch Eintrittsgelder zu Parteiveranstaltungen und die finanzielle Hilfe von Sympathisanten aus mittleren und kleineren Unternehmen. Zudem war das Verhalten von Vertretern der Großwirtschaft zur NSDAP und einer Regierungsbeteiligung Hitlers in den entscheidenden Monaten von 1932/33 sehr uneinheitlich. Nur eine kleine Fraktion unterstützte Hitler. Entscheidender war die Rolle der Großwirtschaft und anderer traditioneller Machteliten bei der Zerstörung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer autoritären Staatsform.

Seit den Septemberwahlen von 1930 versuchte Hitler durch eine Doppelstrategie der permanenten Mobilisierung der eigenen Massenbewegung einerseits und durch taktische Bündnisse mit den traditionellen Machtträgern aus Politik, Bürokratie, Militär und Wirtschaft andererseits an die politische Macht zu kommen. Diese Taktik war in der NSDAP nicht unumstritten und erfuhr immer wieder Rückschläge; entweder durch terroristische Ausbrüche der SA oder durch Zurückweisungen seitens der erhofften konservativen Bündnispartner. Während die nationalkonservativen Kräfte sich vom Bündnis mit der wählerstarken Massenbewegung eine Massenbasis und plebiszitäre Legitimation ihres autoritären, rückwärtsgewandten politischen und gesellschaftlichen Programms erhofften und darauf vertrauten, dass sie mit ihrem Zugriff auf Reichswehr und Bürokratie den „Trommler“ und seine Protestbewegung „zähmen“ könnten, brauchte Hitler umgekehrt ihre Unterstützung, um die Kluft schließen zu können, die seine nicht-etablierte Protestpartei trotz ihrer Wahlerfolge noch immer von der Macht trennte.

Die Machtübertragung auf Hitler und die NSDAP wurde schließlich möglich, als ein Machtvakuum zwischen den Verfassungsorganen von Regierung und Parlament entstanden war und als sich gleichzeitig nach den Dauerwahlkämpfen des Jahres 1932 deutliche Verschleißerscheinungen bei der NSDAP abzeichneten. Die Machtübertragung durch den Reichspräsidenten, der seinen Traum einer autoritären und breit unterstützten nationalen Regierung durch eine Regierung Hitler nach einigem Zögern doch noch erfüllt sah, war begleitet von politischen Fehleinschätzungen und Intrigen. In der unübersichtlichen Situation des Jan. 1933 wurde der Führer der NSDAP schließlich zum Kanzler eines Präsidialkabinettes ernannt, in dem die Nationalkonservativen die drei Nationalsozialisten Hitler, Göring, Frick sicher eingerahmt glaubten.

Die nationalsozialistische Diktatur

Die Regierung Hitler/Papen, die am Mittag des 30. Jan. 1933 vom Reichspräsidenten ernannt und vereidigt wurde, bedeutete noch nicht die ganze Macht für die Nationalsozialisten, wohl aber das entscheidende Einlasstor zur Diktatur. Das deutschnationale Konzept der Konsolidierung bürgerlich-konservativer Herrschaft im Bündnis mit der nationalsozialistischen Massenbewegung, die man „zähmen“ wollte, sollte sich bald als Illusion erweisen. Auch wenn die Regierung der „nationalen Konzentration“ zunächst noch mit Hilfe der präsidialen Notverordnungsgewalt nach dem Art. 48 der Reichsverfassung regierte und die traditionellen Eliten aus Reichswehr, Bürokratie und Wirtschaft die schrittweise Aushöhlung der Verfassungsorgane wie auch die politischen Gewaltakte von SA und NSDAP hinnahmen, weil sie zunächst gegen den gemeinsamen Gegner, vor allem die politische Linke, gerichtet waren, wurden die deutschnationalen Machtgruppen bald von der Dynamik und dem Machthunger der NS-Bewegung überrollt und gerieten in deren Abhängigkeit. Zwar stand die nationalsozialistische Herrschaft durchaus in mancher Kontinuität zur Politik des Kaiserreichs, und die Propaganda hat die des Regimes mit großen Inszenierungen, wie dem „Tag von Potsdam“ (21.03.1933) wirkungsvoll unterstützt; zudem überschnitten sich nicht wenige national- und gesellschaftspolitische Ziele und Interessen von Bürokratie und Reichswehr sowie von Teilen der Industrie mit der nationalsozialistischen Politik. Gleichwohl waren die Elemente der Diskontinuität und die revolutionären Züge der Diktatur Hitlers unübersehbar und setzten sich schrittweise durch. Mit der Monopolisierung der politischen Macht durch den Nationalsozialismus innerhalb eines halben Jahres und mit der gleichzeitigen Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung gesellschaftlicher Interessen und Verbände begann ein deutscher Sonderweg, der die zunehmend totalitäre NS-Herrschaft nicht nur von anderen europäischen Regimen der 1930er-Jahre unterschied, sondern der zur Ausgrenzung und Vernichtung der deutschen und europäischen Juden sowie anderer ethnischer Minderheiten und zum gewaltsamen Versuch der Errichtung eines Rassestaates führte.

Dieser Prozess vollzog sich stufenförmig zunächst unter entschlossener Ausnutzung aller durch das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten gegebenen legalen und halblegalen Mittel und durch die gleichzeitige, vom Machthunger der NS-Aktivisten angetrieben, Ausschaltung der politischen Gegner, zunächst der politischen Linken, dann aber nach einem knappen halben Jahr auch der übrigen Parteien. Dieser singuläre Vorgang, der in einer Doppelstrategie von Gewalt und Legalität erfolgte und der von der Zustimmung großer Teile der Gesellschaft begleitet wurde, wurde seither zum Modell einer totalitären Machteroberung, die sich nicht nur auf Gewalt, sondern auf zahlreiche politische Fehleinschätzungen und eine Welle der Anpassung und Mitmachbereitschaft stützen konnte und schließlich zu einer Konsensdiktatur führte.

Die wichtigsten Etappen auf dem Weg zur Eroberung und Monopolisierung der Macht waren die Ausschreibung von erneuten Reichstagswahlen unmittelbar nach Regierungsantritt, mit denen das propagandistische und terroristische Potenzial der NSDAP bzw. der SA nun unter Ausnutzung des staatlichen Schutzes und Apparates freigesetzt wurde. Ferner die Instrumentalisierung des Reichstagsbrandes zur Verkündung des permanenten Ausnahmezustandes mit Hilfe der präsidialen Notverordnung vom 28.02.1933 „Zum Schutz von Volk und Reich“, die zur formellen Grundlage für groß angelegte Verfolgungsmaßnahmen und zur eigentlichen „Verfassungsurkunde“ des Dritten Reiches wurde. Alle bürgerlichen Grundrechte wurden damit außer Kraft gesetzt, zugleich bot die Notverordnung unter dem Mantel der scheinbaren Legalität und einer pathetischverschleiernden Begrifflichkeit auch die Möglichkeit, binnen kürzester Zeit in die inneren Verhältnisse der Länder einzugreifen und deren Autonomie zu zerstören.

Die Reichstagswahlen, die am 05.03.1933 in einem Klima der legalisierten Rechtsunsicherheit stattfanden, brachten der NSDAP (43,9 % der Stimmen, 288 Mandate) nur zusammen mit dem deutschnationalen Koalitionspartner (8 % der Stimmen) die absolute Mehrheit. Sie waren der Auftakt zur nächsten Etappe der Machtergreifung: der durch ein nationales Erneuerungspathos verdeckten Selbstausschaltung des Reichstages durch das Ermächtigungsgesetz (23.03.1933), das zugleich den Reichskanzler Hitler unabhängig von Reichspräsident und Kabinett machte. Vorangegangen war diesem scheinlegalen, von Gewaltdrohungen begleiteten Akt unmittelbar nach der Wahl die Gleichschaltung der Länder; seine Folge war der Funktionsverlust der Parteien, die gleichzeitig wie die Länderregierungen unter dem terroristischen Druck der NS-Gliederungen standen. Von der Welle der Gleichschaltung und Selbstaufgabe wurden neben den Parteien einschließlich des deutschnationalen Bündnispartners schließlich in unterschiedlicher Intensität alle gesellschaftlichen Verbände und Vereine erfasst. Begleitet wurde dies von ersten Verfolgungs- und Boykottmaßnahmen gegen jüdische Bürger Anfang April.

Abgeschlossen wurde die Machteroberung nach dieser politischen Machtdurchsetzung schließlich ein Jahr später. Hitler nutzte im Bündnis mit der Reichswehrführung und der SS die „Röhm-Affäre“ am 30.06.1934 zu einem Doppelschlag gegen innerparteiliche Rivalen und den SA-Führer E. Röhm sowie gegen konservative Opponenten und andere politisch missliebige Personen, die alle ermordet wurden, was von dem konservativen Bürgertum als moralisch gerechtfertigte Selbstreinigung missverstanden wurde. Mit der Niederschlagung der SA begann zugleich der Aufstieg der SS unter „Reichsführer SS“ H. Himmler zu einer führerunmittelbaren eigenständigen Machtgruppe, die schließlich die gesamte Polizeigewalt erobern und zum unkontrollierbaren Herren der Konzentrationslager werden sollte. Der „Schwarze Orden“ Himmlers entfaltete seit 1936 seine Sonderbevollmächtigung als Organ der Gegnerbekämpfung und im Krieg schließlich der rassenideologischen Vernichtungspolitik.

Mit der Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers am 02. Aug. 1934 nach dem Tode von Reichspräsident Hindenburg und der (Selbst-)Ernennung Hitlers zum „Führer und Reichskanzler“ gab es keine verfassungsmäßige Institution mehr, die Hitlers Macht hätte eingrenzen können.

Machtkonsolidierung und Führerstaat

Es begann nun eine Phase der scheinbaren Konsolidierung, die im Innern von einer im Zeichen einer einseitigen Aufrüstung getragenen wirtschaftlichen Erholung und einem wachsenden Abbau der Arbeitslosigkeit, nach außen durch zunächst zögerliche, dann aber seit 1935 risikoreiche Verletzungen des internationalen Vertragssystems gekennzeichnet war, die alle mit der Wiederherstellung deutscher Gleichberechtigung und Revision des Versailler Vertrags gerechtfertigt wurden. Die propagandistisch wirksam gefeierte Sicherung von „Arbeit und Brot“ wie von „deutscher Größe“ fand nicht nur die wachsende Zustimmung der Bevölkerung, sondern sie versteckte den Ausbau des nationalsozialistischen Führerstaates, der seit 1938 zum Instrument einer Gewaltpolitik nach Innen und nach Außen werden sollte.

Nicht der hierarchische, zentralisierte Einheits- und nationale Machtstaat bürokratischer Observanz, von dem die traditionellen Machteliten träumten, war das Ergebnis nationalsozialistischer Machtmonopolisierung, sondern die permanente Auflösung des Normenstaates und seiner bürokratischen Verwaltungsstrukturen durch ein polykratisches Geflecht rivalisierender, führerunmittelbarer Ämter und neuer Bürokratie sowie personaler Herrschaftsformen. Deren Folge war die schrittweise Entmachtung der alten Eliten und die gleichzeitige Verabsolutierung der Führergewalt Adolf Hitlers. Mit der Durchsetzung des totalitären Radikalfaschismus um 1938 waren zugleich die Voraussetzungen für die Realisierung der radikalen, auf Vernichtung der ideologisch definierten „Weltfeinde“ Judentum und Bolschewismus zielenden Weltanschauungspolitik Hitlers und seiner Führungsgehilfen geschaffen. Nicht der Primat der Innenpolitik galt für Hitler, die innenpolitische Gleichschaltung und Konsolidierung waren Vorstufen für die außenpolitische Expansion und rassenideologische Vernichtungspolitik. Die Formierung der inneren Verhältnisse leitete sich mithin von außen- und rassenpolitischen Zielen ab, die ihrerseits die traditionellen imperialen Ziele und Mittel deutscher Großmachtpolitik weit übertrafen und einen Bruch mit allen Traditionen bedeuteten. Hitlers Vorstellungen eines Rasseimperiums stellten einen qualitativen Sprung gegenüber allen Revisions- und Großmachtvorstellungen dar, so sehr diese den Übergang in die nationalsozialistische Aggressionspolitik erleichtert und die fundamentalen Unterscheide zunächst verschleiert haben. Das Rasseimperium bedeutete die Negation der Idee der Nation und des Nationalstaates. Hitlers Utopie einer Rasseherrschaft im globalen Ausmaß musste überdies das europäische Staatensystem wie die traditionelle Gesellschaftsordnung sprengen.

Der nationalsozialistische Führerstaat, der mit dem Ende der konservativen Stilisierung und Mäßigung 1937/38 immer ausgeprägtere totalitäre Züge annahm und diese Radikalisierung auch im Krieg weiterführte, bedeutete einen radikalen Bruch mit den überkommenen Formen eines Rechts- und Verwaltungsstaats. Während sich auch der traditionelle Obrigkeitsstaat auf feste Institutionen, eine rationale Bürokratie und auf eine Rechtsordnung stützte, kannte der zunehmend totalitäre Führerstaat nur den Ausnahmezustand als Herrschaftsform und die Auflösung aller Normen bzw. die Unterordnung unter den „Führerwillen“ und den Willen der Volksgemeinschaft. Die Verheißung der Volksgemeinschaft bildete den Kern einer Rhetorik und ansatzweise auch einer Praxis, die die Klassenunterschiede nicht aufzuheben, sondern durch eine „völkische Leistungsgemeinschaft“ abzuschleifen versprach. Das bedeutete einen wirkungsvollen Anknüpfungspunkt für soziale Aufstiegswünsche. Vor allem in den Parteiapparaten, die sich gewaltig aufblähten, boten sich bisher undenkbare Aufstiegsmöglichkeiten, die Leistungswillen mit politisch-ideologischer Gesinnung verbanden. Die sozialpsychologische Egalisierung, die von der Volksgemeinschaftsrhetorik unaufhörlich angepriesen und von dem sozialpolitischen Angebot der NS-Organisationen in der Arbeitswelt wie in der Freizeit in Ansätzen auch angeboten wurden, schien mit der Mobilisierung für den totalen Krieg selbst in der Wehrmacht zu einer greifbaren Realität zu werden. Die Kehrseite aller egalitären Parolen und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen waren freilich eine mit allen Konventionen der Humanität und Rechtsordnung brechenden Entrechtung und Verfolgung aller Gruppen, die als gemeinschaftsfremd galten und aus der Volksgemeinschaft ausgegrenzt wurden. Die scheinbare Normalität einer modernen Massenzivilisation, die sich in der nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik und Industriegesellschaft ankündigte, war untrennbar verbunden mit der Barbarei einer mit technisch-bürokratischen Methoden operierenden Weltanschauungs- und Vernichtungspolitik.

Das definitive Ende der Phase der taktisch bedingten innen- und vor allem außenpolitischen Mäßigung begann Anfang 1938, die Hitler den Zugriff auf die Wehrmacht und die Ausschaltung weiterer konservativer Machtträger im Auswärtigen Amt wie in der Wirtschaftspolitik ermöglichte. Nach dem von einer Woge der Zustimmung getragenen gewaltsamen „Anschluss“ von Österreich im März und dem Sudetengebiet im Okt. 1938 – beide Aktionen wurden von den europäischen Mächten aus einer inneren Schwäche und außenpolitischen Fehleinschätzung hingenommen- stellten die Novemberpogrome von 1938 mit ihren Verordnungen zur wirtschaftlichen Ausschaltung und Ausplünderung der deutschen Juden den entscheidenden Markstein auf dem Weg zur sog. „Endlösung der Judenfrage“ dar, d. h. der bürokratisch-fabrikmäßigen Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg.

Die Entfesselung des Krieges im Sep. 1939 setzte schließlich den nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungswillen vollends frei und bedeutete eine neuerliche nationalsozialistische Revolution. Denn mit dem Krieg radikalisierte sich das Herrschafts- und Überwachungssystem im Inneren weiter und verstärkte noch einmal die Macht der Parteibürokratien vom Gauleiter bis zum Ortsgruppenleiter und Blockwart. Höhepunkt dieser Weltanschauungspolitik war der Russlandfeldzug im Sommer 1941 und die gleichzeitige Vorbereitung und Ingangsetzung des Holocaust in den Vernichtungslagern im Osten, die im Winter 1941/42 schrittweise ihre Arbeit aufnahmen und der SS-Herrschaft zusammen mit ihrer Germanisierungspolitik im Osten ein ideologisch begründetes weiteres blutiges Handlungsfeld eröffnete.

Mit der Machtüberdehnung und den schweren Niederlagen seit 1943 begann der Niedergang des NS-Regimes, das freilich nur von außen und militärisch durch die Anti-Hitler Koalition besiegt und überwunden werden konnte, während es sich im Inneren bis zuletzt auf eine große Massenloyalität, bei gleichzeitiger Verschärfung des Verfolgungssystems und des Terrors stützen konnte. Erst mit dem Abbröckeln des Hitler-Mythos begann der Verfall des Nationalsozialismus, der während des Krieges mit seinen sich gewaltig ausdehnenden Massenorganisationen weite Teile der deutschen (Kriegs-)Gesellschaft mobilisieren und erfassen konnte. Freilich nahm die Zustimmungsbereitschaft zur NSDAP drastisch ab, während sich der Führerglaube sehr viel länger halten konnte.

Mit der Niederlage des nationalsozialistischen D im Mai 1945 und dem Ende der beiden faschistischen Diktatoren Hitler und Mussolini war auch die „Epoche des Faschismus“ (Nolte) zu Ende, was freilich nicht bedeutete, dass faschistische Ideologien und politische Mobilisierungen weiterlebten und in verschiedenen Wellen immer wieder auferstanden.

Politisch und gesellschaftlich war der Bruch von 1945 ungleich tiefer als der von 1918. Alle Formen eines deutschen Sonderwegs oder eines Sonderbewusstseins wurden durch den Krieg unter gewaltigen menschlichen und sozialen Kosten abgeschliffen. Der Krater des Nationalismus war zumindest in West- und Mitteleuropa für Jahrzehnte erst einmal ausgebrannt. Dieser Lernprozess und die Etablierung einer demokratischen politischen Kultur in Deutschland waren die Voraussetzungen dafür, dass bei der Wiedervereinigung 1990 die Nation nur noch als Gehäuse eines Verfassungsstaats und als Teil einer europäischen Staatengemeinschaft verstanden wurde.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Hans-Ulrich Thamer

Fussnoten