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Land Baden-Württemberg | bpb.de

Land Baden-Württemberg

Hans-Georg Wehling

Historischer Hintergrund

Baden-Württemberg (BW) existiert erst seit 1952, gebildet aus den damals bestehenden Ländern Württemberg-Baden (Hauptstadt Stuttgart), Württemberg-Hohenzollern (Tübingen) und Baden (Freiburg), die durch die Aufteilung zwischen der amerikanischen und französischen Besatzungsmacht nach 1945 aus den historischen Ländern Baden (Karlsruhe) und Württemberg (Stuttgart) sowie den Hohenzollerischen Landen Preußens (Regierungsbezirk Sigmaringen mit den Kreisen Sigmaringen und Hechingen) entstanden waren. Nach dem SL (1957) war BW damit das jüngste Land der alten BRD. Ermöglicht wurde der Zusammenschluss durch die Sonderregelung des Art. 118 GG, die abweichend von Art. 29 GG ein vereinfachtes Verfahren im Falle einer Südweststaatsgründung vorsah (Regierungsvereinbarung oder, wenn diese nicht zustande kam, ein Bundesgesetz, das „eine Volksbefragung vorsehen“ musste). Widerstand gab es von Seiten des Landes Baden, Streit dann wegen des Abstimmungsmodus bei der Volksbefragung: Das Bundesgesetz sah eine Abstimmung nach den vier Bezirken Nord- und Südbaden, Nordwürttemberg, Südwürttemberg-Hohenzollern vor, wobei der Zusammenschluss als zustande gekommen galt, wenn drei der vier Bezirke zustimmten. So kam es dann auch, wobei die Verfechter der Wiederherstellung Badens für sich reklamieren konnten: Bei einer Abstimmung nach den alten Ländern wäre die Mehrheit für den Zusammenschluss in Baden knapp verfehlt worden. Mit diesem „Geburtsfehler“ behaftet, trat BW am 25.04.1952 ins Leben. Die Hypothek wurde erst am 07.06.1970 abgetragen, als bei einer erneuten Volksabstimmung die Existenz des neuen Landes deutlich bestätigt wurde.

Die Widerstände namentlich aus dem katholischen Südbaden gegen einen Zusammenschluss mit Württemberg kamen nicht von ungefähr, sie sind in unterschiedlichen politischen Kulturen begründet. Furcht bestand hier vor einer Dominierung durch die als vorwiegend asketische Protestanten wahrgenommenen und als ungemein tüchtig eingestuften „Schwaben“. Das ist bis heute nicht ganz ausgeräumt. Übersehen werden darf aber nicht, dass sowohl Baden als auch Württemberg Kinder der napoleonischen Neuordnung im Südwesten sind. Vorher gab es auf dem Gebiet von BW in einem Ausmaß wie fast nirgendwo sonst in D über Jahrhunderte hinweg eine Vielzahl quasi-souveräner weltlicher und geistlicher Herrschaften sowie Freier Reichsstädte (ca. die Hälfte aller Reichsstädte in D lag hier), die die politische Kultur des Landes tiefgreifend geprägt haben, nicht zuletzt in Richtung einer eher partizipativen civic culture. Wegen der mangelnden territorialen Größe konnte sich Absolutismus hier nicht durchsetzen, kennzeichnend war vielmehr ein Dualismus von Herrschaft und „Landschaft“ (als Vertretung der Untertanen). Auch die Konfessionsverhältnisse waren entsprechend den Herrschaftsverhältnissen außerordentlich zersplittert, wobei mit dem Herzogtum Württemberg allerdings ein ziemlich geschlossener protestantischer Block existierte. Nicht nur für das Wahlverhalten sind die alten konfessionellen Verhältnisse bis heute von Bedeutung.

Als positives Erbe der Kleinstaaterei ist die dezentrale Struktur von BW zu würdigen; wirtschaftlich, vor allem auch kulturell. Die Gründung des modernen Württemberg mit Hilfe Napoleons war faktisch nur eine Einverleibung neuer Gebiete (südlich der Donau und im Osten, die vorwiegend katholisch waren), wobei es Württemberg gelang, den neuen Gebieten seinen Stempel aufzudrücken; demgegenüber handelte es sich im Falle Badens faktisch um eine Neugründung – mit erheblichen Integrationsproblemen, die auch mit Hilfe politischer Modernisierung bewältigt werden sollten. Dass es in Baden 1848/49 die einzig erfolgreiche Revolution in D gab und später dann einen heftigen Kulturkampf zwischen liberalem Staat und katholischer Kirche, in Württemberg beides jedoch kaum, ist kein Zufall und hat Nachwirkungen bis heute.

Bevölkerung – Gesellschaft – Wirtschaft

Nach Fläche (35.751 qkm) und Einwohnerzahl (11,01 Mio.) ist BW das drittgrößte Bundesland; nach Wirtschaftskraft, gemessen am BIP (362 Mrd. € reale Wirtschaftsleistung insgesamt 2010), ist BW das drittgrößte Flächenland (nach NRW, BY). Auch wenn der Anteil des Produzierenden Gewerbes nur noch 30,8 % ausmacht, gegenüber Dienstleistungen von 67,1 % kann BW mit den Premiummarken Daimler, Porsche, Audi (sowie deren Zulieferindustrie), Maschinenbau, Elektrotechnik (Büromaschinen, Datenverarbeitung, Feinmechanik, Optik, Messgeräte einschl. Uhren) punkten. Der Exportanteil der Industrie liegt bei 55,1 %, d. h. mehr als jeder zweite Euro wird bislang im Ausland verdient. Viel zugute hält sich das Land auf seine dezentrale und stärker mittelständische Wirtschaftsstruktur. Über die Jahre hinweg weist BW in D zusammen mit BY die geringste Arbeitslosenquote auf (3,1 %, BY 2,7), im Landkreis Biberach 2,8 %, das bedeutet faktisch Vollbeschäftigung. Günstige Wirtschaftsstruktur und Arbeitsmarktsituation sowie ein nicht unerheblicher Freizeitwert (Schwarzwald, Bodensee, Allgäu u. a.) haben BW zu einem Zuwanderungsland gemacht. 1,6 Mio. Einwohner haben einen ausländischen Pass (davon 15,6 % Türken, 10,8 % Italiener, 6,1 % Kroaten).

38 % der Einwohner sind römisch-katholisch, 34 % evangelisch, die übrigen gehören keiner oder einer anderen Religionsgemeinschaft an. Die Protestanten Württembergs und Hohenzollerns sind Mitglied der Württembergischen Landeskirche (Stuttgart), die Badens der Badischen Landeskirche (Karlsruhe). Die Katholiken Württembergs gehören zum Bistum Rottenburg-Stuttgart, die Badens und Hohenzollerns zum Erzbistum Freiburg. Einflussreich sind im evangelischen Bereich namentlich Württembergs zahlreiche religiöse Gemeinschaften evangelikal-fundamentalistischer Ausrichtung (Pietisten).

Politisches System

Verfassung

Dem Alter des Landes entsprechend, hat BW nach dem SL die jüngste Verfassung der alten BRD, sie wurde am 11.11.1953 von der Verfassungsgebenden Landesversammlung verabschiedet, also nach Gründung der BRD und Verabschiedung des GG. Das ist nicht ohne Auswirkungen geblieben. So verzichtet die LV – auf das GG verweisend – auf einen eigenen Grundrechtsteil. Auch was die Rechtsstellung der Regierung und die Rolle des Ministerpräsidenten angeht, ist der Einfluss des GG unverkennbar. Verabschiedet wurde die LV im Zeichen einer Allparteienkoalition, die Vorherrschaft einer Partei gab es in der Verfassungsgebenden Landesversammlung nicht (von 121 Mitgliedern 50 CDU, 38 SPD, 23 FDP/DVP, 6 BHE, 4 KPD), von daher konnte ein von allen politischen Kräften getragener Kompromiss zustande kommen. Entsprechend selten ist die LV bis heute geändert worden. Strittig war vor allem die Schulfrage, auch hier fand man einen Kompromiss, bis dann im Zeichen der Großen Koalition 1967 die staatliche Konfessionsschule und die konfessionelle Lehrerbildung endgültig wegfielen. Als Besonderheit verdient hervorgehoben zu werden, dass die LV in Anknüpfung an die partizipative Tradition des Landes von Anfang an Elemente der direkten Demokratie kennt. So besteht die Möglichkeit, den Landtag durch Volksabstimmung aufzulösen, wenn ein Sechstel der Wahlberechtigten das in einem Volksbegehren verlangt und die Mehrheit der Stimmberechtigten dem beitritt (Art. 43). Ein solcher Versuch ist bislang nur einmal unternommen worden, und zwar von den Gegnern der kommunalen Gebietsreform 1971, das erfolgreiche Volksbegehren fiel in der Abstimmung durch. Seit 1974 kennt BW zudem den Volksentscheid (Art. 59/60): Ein Sechstel der Wahlberechtigten ist für ein erfolgreiches Volksbegehren auf der Grundlage eines Gesetzentwurfes erforderlich. Wenn der Landtag sich den Entwurf nicht mit Mehrheit zu eigen macht, findet eine Volksabstimmung statt, bei der das Gesetz beschlossen ist, wenn die Mehrheit zugleich ein Drittel der Wahlberechtigten ausmacht. Auf Verlangen von einem Drittel der Landtagsmitglieder kann auch die Regierung ein bereits beschlossenes Gesetz zur Volksabstimmung vorlegen (Art. 60,2). Ähnlich verhält es sich, wenn der Landtag einen von der Regierung eingebrachten Gesetzentwurf abgelehnt hat (Art. 60,3). Einen Fall von Volksgesetzgebung hat es in BW bislang nicht gegeben. Ein abgelehnter Gesetzentwurf zum Ausstieg aus dem Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 wurde dem Volk zur Abstimmung vorgelegt, scheiterte jedoch am Quorun. Als erste LV hat die von BW den Schutz der Umwelt als Verfassungsauftrag unter die Staatszielbestimmungen (Art. 3a, 86) aufgenommen (1976). Tierschutz sowie Sport- und Kulturförderung kamen 2000 hinzu (Art. 3b und c). Weitere Verfassungsänderungen betrafen die Stellung des Landtags: Stärkung der Untersuchungsausschüsse (z. B. striktes Verbot für die Parlamentsmehrheit, den Untersuchungsgegenstand gegen den Willen der Minderheit abzuändern, Art. 34/35, 1976), das Notstandsrecht (von der „Stunde der Exekutive“ zu der der Legislative, Art. 62, 1976) und Verbesserung des Petitionsrechts (u. a. Verankerung des Petitionsausschusses in der LV, Art. 35a, Ausgestaltung des Petitionsrechts zu einem Kontrollinstrument gegenüber der Exekutive, z. B. mit direktem Aktenzugang ohne Einschaltung der Ministeriumsspitze, 1979), die Zusammenlegung von Präsidium und Ältestenrat zu einem Führungsorgan mit Namen Landtagspräsidium (Art. 32, 1984). Hinsichtlich des Haushaltsrechts und der Regierungsorganisation sind elastischere Regelungen in die LV eingeführt worden (z. B. Möglichkeit mehrjähriger Haushalte, Soll-Vorschrift bei Deckungsgebot). Weitere Änderungen der LV betrafen die Herabsetzung des aktiven und passiven Wahlrechts auf 18 Jahre (Art. 26, 1975). Nach Art. 34a muss die Landesregierung dem Landtag die Möglichkeit zur Stellungnahme über das Land betreffende EU-Angelegenheiten geben; ist dabei die Gesetzgebungsbefugnis wesentlich berührt, muss die Regierung die Stellungnahme berücksichtigen (1995). Seit 1996 wird der Landtag statt auf vier Jahre auf fünf gewählt (Art. 30,1).

Organisation des politischen Systems

BW verfügt wie der Bund und die übrigen Bundesländer über ein parlamentarisches Regierungssystem, jedoch anders als der Bund nur mit einer Kammer: dem Landtag mit in der Regel 120 Abgeordneten (durch Überhang- und Ausgleichsmandate kann sich die Zahl erhöhen, s. u.). Der Ministerpräsident wird von der Mehrheit der Mitglieder des Landtags gewählt (Mindestalter 35 Jahre, Art. 46). Entsprechend dem „Kanzlerprinzip“ beruft und entlässt er die Mitglieder seiner Regierung, wobei er allerdings für die Regierung als Ganzes der Bestätigung durch den Landtag bedarf (Mehrheit der abgegebenen Stimmen). Über die Geschäftsbereiche und ihre Abgrenzung beschließt die Regierung, wozu ebenfalls ein Bestätigungsbeschluss des Landtags erforderlich ist (der Landtag kann jedoch keine Abänderungen vornehmen, Art. 45). „Der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Er führt den Vorsitz in der Regierung und leitet ihre Geschäfte …“ (Art. 49). Der erste Satz ist wortgleich mit der Regelung in Art. 65 GG, der zweite inhaltsgleich. Wie das GG kennt auch die LV das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 54 analog zu Art. 67 GG). Der Landesregierung können auch Staatssekretäre und Staatsräte angehören, mit oder ohne Stimmrecht, wobei die Zahl der Staatssekretäre nicht mehr als ein Drittel der Zahl der Minister betragen darf (Art. 45,2). Seit 1972 sind Politische Staatssekretäre hinzugekommen, die formal nicht Mitglied der Regierung sind (aber an deren Sitzungen teilnehmen); sie sollen ihren Minister bei der politischen Ressortleitung unterstützen, und zwar entsprechend dessen Delegationsvorstellungen. Das Instrument des Politischen Staatssekretärs wird zudem eingesetzt, um Fraktionsmitglieder mit Ehrgeiz und Störpotenzial in die Regierungsloyalität einzubinden. Oberster Beamter eines Ressorts ist der Ministerialdirektor (im Ausnahmefall im Rang eines beamteten Staatssekretärs). Er ist politischer Beamter (wie sonst nur noch die Regierungspräsidenten). Mithin gibt es in BW drei Kategorien von Staatssekretären: den Staatssekretär mit Kabinettsrang (mit und ohne Stimmrecht), den Politischen Staatssekretär als Ministergehilfen (ohne Kabinettsrang) und den beamteten Staatssekretär als Ministerialdirektor de luxe (als Ausnahme, i. d. R. der Chef der Staatskanzlei). Staatsräte sind demgegenüber Kabinettsmitglieder ohne Ressort, auf deren politischen Rat besonderer Wert gelegt wird. Nach Gründung des Landes nutzte man dieses Instrument auch, um das frustrierte Südbaden zu beruhigen (so kam der spätere Innenminister und Ministerpräsident H. Filbinger als Staatsrat aus Südbaden erstmals ins Kabinett). Aktuell gibt es im Staatsministerium eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, um das Versprechen der GRÜNEN nach mehr Bürgerbeteiligung einzulösen.

Minister (einschließlich Ministerpräsident und Staatssekretäre) müssen nicht Mitglied des Landtags sein. Immer wieder haben die Ministerpräsidenten Außenseiter ins Kabinett geholt. Fast immer haben sich die Minister zur Absicherung ihrer Position nachträglich um ein Landtagsmandat bemüht. In der Zeit der absoluten Mandatsmehrheit der CDU (1972–92) waren die Ministerpräsidenten, nicht zuletzt aufgrund ihrer Popularität, ziemlich frei in der Zusammenstellung ihrer Ministermannschaft, so dass hier vom Typ des „homogenen Gefolgschaftskabinetts“ (R. Herzog) gesprochen werden konnte.

Analog zum Bundeskanzleramt ist das Staatsministerium als Kanzlei des Ministerpräsidenten zu einem wirksamen politischen Führungsinstrument ausgebaut worden, mit Spiegelreferaten für alle Ministerien. Zudem versucht das Staatsministerium, die Spitzenpositionen in Ministerien und Landesverwaltung mit eigenen Leuten zu besetzen. Gleichzeitig wirkte es in die Zentrale der Regierungspartei hinein, mit Hilfe des Ministerpräsidenten als Parteivorsitzendem (das trifft auf den grünen Ministerpräsidenten nicht zu), und dank des geballten Sachverstandes der Regierungszentrale. Bei einem starken stellvertretenden Ministerpräsidenten (Parteiführer) wird dessen Ministerium zu einem Konkurrenzunternehmen ausgebaut.

Nach der Verfassung ist die Position des Landtags gegenüber der Regierung durchaus stark, doch wie in allen Ländern hat eine Gewichtsverlagerung zugunsten der Exekutive stattgefunden. Immerhin gelang es der Regierungsfraktion unter den Fraktionsvorsitzenden L. Späth, E. Teufel, G. Oettinger und St. Mappus, ein Gegengewicht zur Regierung aufzubauen, so dass sich zugespitzt sagen lässt, die eigentliche Opposition sei die Regierungsfraktion. Die genannten Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei waren es auch, die bis zur Wahl vom 27.03.2011 den Ministerpräsidenten ablösen konnten. Anders als in der Theorie der parlamentarischen Demokratie war es also nicht der formale Oppositionsführer, der den Regierungschef mit Ablösung drohen konnte und ihn somit unter Leistungsdruck setzte, sondern der eigene Fraktionschef – unter der Voraussetzung, dass die Regierungspartei über eine strukturelle Mehrheit verfügt, die nur vermindert, nicht aber verhindert werden kann. Von den ersten anderthalb Jahren nach der Landesgründung abgesehen (1952/53), war die CDU in allen Landesregierungen die führende Partei, die rund 58 Jahre lang den Ministerpräsidenten stellen konnte, 20 Jahre (1972–92) konnte sie allein regieren. Die Oppositionsparteien hatten bislang nur die Chance als Juniorpartner in einer Koalition, fielen also als „Regierung in Reserve“ aus.

Wie in den anderen Bundesländern auch hat sich das Schwergewicht der Parlamentsarbeit auf die Verwaltungskontrolle verlagert. Große Gesetzgebungsvorhaben sind selten geworden. Überlagerungen durch Bund und EU kommen hinzu. Verteilungsrelevante Entscheidungen fallen auf Landesebene kaum, was der Regierungspartei die Macht sichern hilft.

Ab 2016 gilt, wie in allen anderen Ländern, eine Inkompatibilitätsregel für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, d. h. Laufbahnbeamte müssen sich beurlauben lassen, Wahlbeamte (Bürgermeister, Beigeordnete, Landräte) zwischen Beruf und Mandat wählen. Der Frauenanteil von 25,8 % im Landtag ist sehr niedrig.

Das Landtagswahlsystem kennt keine Landeslisten, dementsprechend gibt es keine Absicherung und keine Möglichkeit der Fraktionsplanung. Gewählt ist zunächst, wer in einem der 70 Wahlkreise die Stimmenmehrheit erringt. Anschließend wird ermittelt, wie viel Mandate von insgesamt 120 den Parteien nach dem prozentualen Wahlergebnis zustünden. Entsprechend werden die restlichen Mandate vergeben, und zwar an die „ehrenvollst Unterlegenen“, d. h. an die Kandidaten, die innerhalb ihrer Partei die relativ meisten Stimmen erhalten haben. Kommt ein prozentualer Ausgleich auf diese Weise nicht zustande, werden Ausgleichsmandate vergeben. Dadurch hat der Landtag von 2016 143 Sitze.

Verwaltungsmäßig kennt BW einen dreistufigen Aufbau: Ministerien, Regierungsbezirke, Gemeinden/Landkreise. Durch die Verwaltungsreform vom 01.01.2005 sind die staatlichen Sonderbehörden (Schule, Forst, Denkmalschutz, Gesundheit u. a.) in die vier Regierungspräsidien (Stuttgart, Tübingen, Karlsruhe, Freiburg) und die 35 Landratsämter (+9 Stadtkreise) eingegliedert worden. Während andere Länder die Regierungsbezirke abgeschafft (z. B. NI) oder funktional umgebaut haben (RP), sind sie in BW erheblich gestärkt worden. Gegenwärtig gibt es 1101 Gemeinden. Die Stellung des Bürgermeisters, auf acht Jahre von der Bevölkerung direkt gewählt, ist außerordentlich stark. Gut die Hälfte aller Bürgermeister ist parteilos, knapp 90 % sind gelernte Verwaltungsfachleute, obwohl die Gemeindeordnung keine Qualifikationsvorgaben macht. Lediglich 91 der mehr als 1000 hauptamtlichen Bürgermeister sind weiblich. Die Gemeinderäte werden auf 5 Jahre gewählt, mit der Möglichkeit zur Stimmenhäufung (Kumulieren) und zur Übernahme von Kandidaten anderer Listen (Panaschieren); ein ausgeprägter Honoratiorencharakter ist die Folge. Die Gemeindeordnung räumt den Bürgern seit eh und je das Recht zu Bürgerbegehren und -entscheid (Quorum 20 %) ein.

Parteien, Wähler, Wählerverhalten

Für das Parteiensystem ist charakteristisch: die jahrzehntelange Dominanz der CDU, die bislang verhältnismäßig starke Stellung der Liberalen, eine unterdurchschnittliche Bedeutung der SPD bezogen auf die Sozialstruktur des Landes (hoher Arbeiter- und Protestantenanteil) und das frühe Erstarken der GRÜNEN (seit 1980 im Landtag). Zugute kam der CDU, dass führende Protestanten im württembergischen Landesteil die Partei nach dem Kriege mitbegründeten und ihre Klientel aus der Weimarer Zeit einbrachten. Ausschlaggebend sind die Besonderheiten der württembergischen politischen Kultur: In einem traditionell organisationsfeindlichen Land, in dem persönliche Bindungen mehr zählen als straffe Organisation, zudem mit einem ausgeprägt religiösen Hintergrund, hat es eine eher zentralistische und organisationsgläubige Partei wie die SPD von vornherein schwer. Hinzu kommt eine mentale Distanz zu allen gesellschaftlichen Umgestaltungsansprüchen. Ein Großteil der Arbeiter sind von Hause aus Arbeiterbauern; Württemberg ist das klassische Land der Pendler. Kurz: Die CDU passte besser zur politischen Kultur des Landes. Nicht nur die CDU, auch die SPD stand in Konkurrenz zur Volkspartei der Liberalen, die immer auch „Kleine-Leute-Partei“ war. Die CDU hat es weitgehend vermocht, die Liberalen zu beerben, weil sie eher deren Honoratiorencharakter entsprach. Zu diesem Bild passt die Stärke der Freien Wähler, die bei Kommunalwahlen jeweils über 40 % der Mandate erringen! Von den mächtigen Bürgermeistern ist sogar mehr als die Hälfte parteilos.

Jahrzehntelang galt BW als eine Hochburg der CDU. So konnte sie 58 Jahre hierzulande den Ministerpräsidenten stellen, also fast so lang, wie das Land existiert, mit verschiedenen Koalitionen. 20 Jahre lang konnte die CDU sogar allein regieren (1972–92). Ohne die CDU ging gar nichts. Da musste es fast wie eine Revolution erscheinen, als bei der Landtagswahl vom 27.03.2011 die GRÜNEN 24,2 % der Stimmen erreichten. Zwar kam die CDU – trotz eines Verlustes von 5,2 % – noch auf 39,0 %, doch konnten die GRÜNEN, zusammen mit der SPD, eine Koalition bilden, mit dem bisherigen Fraktionsvorsitzenden der GRÜNEN W. Kretschmann als neuem Ministerpräsidenten. Die GRÜNEN lagen mit 1,1 % vor der SPD mit 23,1 %. Die Gründe für den steilen Aufstieg der GRÜNEN sah man in der Atomkatastrophe von Fukushima sowie in dem hoch strittigen Bahnprojekt Stuttgart 21 mit der vorgesehen Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Deutlich zeigte sich hier zudem ein Wertewandel, der nicht zuletzt die besser Gebildeten und besser Verdienenden erreicht hatte – ein Wandel, der an CDU und SPD vorbei gegangen war. Kretschmann gelang es in diesem Kontext, sich als Landesvater zu profilieren: wertkonservativ, kirchlich-katholisch, vernünftig, ruhig und überlegen. Das alles hatten seine beiden Vorgänger G. Oettinger (MP 2005 bis 2010) und vor allem St. Mappus (MP 2010 bis 11) nicht aufzuweisen, der erste galt als eher unseriös, der zweite schreckte nicht einmal vor einem Verfassungsbruch zurück.

Der Aufstieg der GRÜNEN ging einher mit dem Abstieg von SPD und CDU. Ging es mit der SPD von Wahl zu Wahl von einem historischen Tiefstand zum nächsten: vom 23,1 % (2011) auf 12,7 % (2016 = minus 10,4 %), stürzte die CDU von 39,0 % auf 27,0,was einem Verlust von 12,0 % entspricht. Die FDP konnte sich über einen längeren Zeitraum auf niedrigem Niveau halten (2011: 5,3 %, 2016: 8,3 %). Geht die CDU davon aus, dass sie zu wenig modern, zu wenig attraktiv für Städter und für Frauen ist, ist die SPD ziemlich ratlos über die Gründe für ihren Abstieg: Sie dürfte zu wenig attraktiv für die heutige Facharbeiterschaft sein, die Eigenheim, Jahreswagen, Boni zu schätzen weiß und sich kaum noch die Hände schmutzig machen muss. Die neue Landesvorsitzende L. Breymaier stellt als ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende die Verkörperung des „Handarbeitersozialismus“ (F. Walter) dar, der ein Stückweit eine Welt von gestern repräsentiert. Die Alternative für Deutschland (AfD) gewann als neue Partei erstmals 15,1 %, wohl auch auf Kosten der SPD. Viele, die sich abgehängt vorkommen, gibt es vor allem als Ausnahmen, so in den alten Arbeiterzentren Mannheim oder Pforzheim.

Die Veränderungen im Parteiensystem betreffen nicht nur die städtischen Räume. Auch auf dem Land hat sich in den letzten beiden Wahlen einiges verändert. Nehmen wir als Beispiel den ausgeprägt katholischen Landkreis Ravensburg in Oberschwaben. Dort haben bei der Wahl von 2016 die GRÜNEN 33,06 % erreicht, die CDU nur noch 30,97 %, ein Verlust von 12,56 % im Vergleich zur Wahl 2011! Allerdings kann sich die CDU immer noch umso besser halten, je weniger „städtisch“ eine Gemeinde und ihr Kontext sind.

Offen ist die Frage, inwieweit die Ergebnisse von GRÜNEN und CDU sich aus dem hohen Ansehen des Ministerpräsidenten W. Kretschmann erklären, der weit über Baden-Württemberg hinaus populär ist. Strategisch scheint die CDU auf Abwarten zu setzen, schließlich ist Kretschmann 2018 bereits 70 Jahre alt geworden, die Nachfolgefrage ist ungeklärt. Kretschmann politisch anzugreifen, ist keine Option, das fällt auf den Angreifer zurück; es bleibt nur, auf Fehler zu schauen, die seine Paladine begehen, so die Wissenschaftsministerin Th. Bauer und Staatsminister K.P.Murawski, auf den Kretschmann kaum verzichten kann: ein genialer Stratege und profunder Kenner von Staatsapparat und Verwaltung.

Die grün-schwarze Koalition sollte eine komplementäre Regierung sein, deren Kompetenzen klar zuzuordnen sind: fünf grüne Ministerien mit den Kernthemen Umwelt, Verkehr, Soziales einschließlich Integration; die CDU mit Sicherheit, Justiz, Wirtschaft, Ländlicher Raum. Das Finanzministerium, das die Tätigkeit aller Ministerien erfahrungsgemäß kontrollieren kann, konnten die GRÜNEN für sich beanspruchen. Der zentrale Bereich der Landespolitik – die Kulturhoheit – ist zweigeteilt: Schule für die CDU, Wissenschaft und Kultur für die GRÜNEN. Darüber hinaus wurde die eine oder andere Zuständigkeit hin und her geschoben, besonders ablesbar am Modethema Digitalisierung, und zudem was die Zuständigkeit des Justizministers angeht, der auch für Europa und Tourismus zuständig ist.

Unzufrieden ist man auf Seiten der CDU mit ihrem Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Innenminister Th. Strobl: Er hat sich bei der Auswahl der Minister und Staatssekretäre nicht an die Fraktion gehalten, in deren Reihen man, wie üblich, mit Regierungsposten versorgt werden wollte. Kultusministerium und Wirtschaftsministerium gingen nicht an langgediente Fraktionsmitglieder, sondern an Außenstehende (Kultusministerin) bzw. Newcomer (Wirtschaftsministerin). Das sollte sich rächen, etwa in der Streitfrage einer Änderung des Landtagswahlrechts, was verabredungsgemäß eigentlich Bestandteil des Koalitionsvertrags ist, aber von der CDU-Fraktion blockiert wird, nicht zuletzt vom versierten Fraktionsvorsitzenden W. Reinhard. Die Fraktion sollte dann befriedigt werden, indem man ein verbessertes Angebot für die Abgeordneten-Entschädigung, insbesondere die Ruhestandsbezüge, vorlegte. Die vorgesehene Wahlrechtsänderung, die erstmals eine Landesliste vorsieht, sollte mehr Frauen in den Landtag bringen, um die dringende Modernisierung der CDU voranzutreiben. Sie wurde von der CDU-Fraktion einstimmig gestoppt, weil so mancher Abgeordnete befürchtete, sein Mandat nicht halten zu können. Schließlich verdanken ja die Abgeordneten ihren Sitz dem aktuellen Wahlrecht. Eine Aufmischung mit Frauen würde zu Lasten der „Platzhirsche“ in den Wahlkreisen gehen. Sie müssten den Preis für die innerparteiliche Modernisierung zahlen, was dem Modernisierer, Th. Strobl, angerechnet wurde.

Langfristig wird auf den Abgang von Kretschmann spekuliert, auf Seiten der CDU wie auf der der GRÜNEN. Ohne den Besitz des Ministerpräsidentenamts hat die CDU aktuell kaum eine Chance auf Rückkehr an die Macht. Genau so nötig brauchen die GRÜNEN für ihren Machterhalt den populären Ministerpräsidenten. Ein attraktiver Thronfolger ist bei den GRÜNEN nicht in Sicht. Der Verlust der Oberbürgermeisterwahl im grünen Freiburg 2018 könnte ein Menetekel sein.

Politische Rolle in Deutschland

Im Kontext des Bundesrats, in dem BW mit sechs Stimmen wie BY, NRW und NI vetreten ist, kann das Land seinen Einfluss noch dadurch verstärkt geltend machen, dass es das einzige Land mit einem grünen Ministerpräsidenten ist. Damit kommt ihm eine besondere Vermittlerposition zwischen A- und B-Ländern zu. Um in BE mitzumischen, hat man keinen Politiker aus dem Ländle zum Chef der Landesvertretung gemacht, sondern einen „Landfremden“, dessen Qualifikation nicht zuletzt darin besteht, dass er in der Bundeshauptstadt Gott und die Welt kennt. Um entsprechend seine Beziehungen einbringen zu können, hat er den Rang eines Staatssekretärs.

BW hat sich auch international verflochten: mit den wirtschaftsstarken europäischen Regionen Katalonien, Lombardei und Rhône-Alpes zu den „Vier-Motoren“ mit dem Schwerpunkt Wirtschaft und Technologie sowie eine Landespartnerschaft mit Kalifornien mit dem Schwerpunkt Klimaschutz.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Hans-Georg Wehling

Fussnoten