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Antisemitismus im Klassenzimmer | Antisemitismus | bpb.de

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Antisemitismus im Klassenzimmer Interview mit Sanem Kleff

/ 6 Minuten zu lesen

Welche Rolle spielen antisemitische Äußerungen im Schulalltag? Und was können Lehrer und Schule dagegen tun? Ein Interview mit Sanem Kleff, geführt von der Amadeu Antonio Stiftung.

Schüler diskutieren im Rahmen des Projektes "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" über den Islam und was er für sie persönlich bedeutet. Dabei wird auch die Frage nach Antisemitismus aufgeworfen. Die Amadeu Antonio Stiftung fragt bei Sanem Kleff, der Projektleiterin des obengenannten Projektes, nach, inwiefern Schüler sich heutzutage antisemitisch äußern und welche Rolle Lehrer und Schule bei der Aufklärung spielen können.

Amadeu Antonio Stiftung: Begegnet Ihnen Antisemitismus unter Schüler und Schülerinnen in der Schule? Wenn ja, wie macht er sich bemerkbar?

Sanem Kleff
Fotograf: Metin Yilmaz

Sanem Kleff: Ja! Antisemitismus begegnet mir in Schulen in den verschiedensten Formen. Zum Einen in einer unbewussten mittransportierten Form. Da sagen Jugendliche zum Beispiel "Der ist so reich wie ein Jude" oder sie benutzen "Jude" als Schimpfwort und plappern nach, was sie so aufschnappen. Das wirkt auf den ersten Blick unproblematisch, senkt aber eine Hemmschwelle.

Dann gibt es den halb bewussten Antisemitismus. Wenn in Gesprächen über Wirtschaft oder Politik gesagt wird: "Daran sind die Juden schuld", "Die Juden haben zuviel Einfluss auf die Weltpolitik" oder "Die Juden bestimmen in Hollywood". Ich nenne das halb bewusst, weil auch so eine Aussage kein Beweis für ein geschlossenes antisemitisches Weltbild ist, sondern weil der Schüler oder die Schülerin das auch einfach irgendwo gehört haben kann. Sie wiederholen solche Aussagen, weil sie ihnen vermeintlich plausible Erklärung für komplexe Zusammenhänge bieten, die ihnen einleuchten.

Und schließlich begegnen mir in Schulen Jugendliche mit bewusst antisemitischer Weltanschauung. Dieser Antisemitismus ist entweder durch ein islamistisches Weltbild begründet, bei Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund. Das ist dann oft sehr fundiert. Diese Jugendlichen haben dazu gelesen, sie haben häufig Veranstaltungen besucht und begründen ihren Antisemitismus mit komplexen Argumenten.

Genauso ist es auch bei Jugendlichen mit rechtsextremem Hintergrund. Auch diese Schüler geben ihrer Meinung bewusst Ausdruck, sind oft geschult und sprechen aufgrund von vermeintlichem Wissen. Schließlich gibt es noch den pseudo-linken Antisemitismus. Dieser wird im Zuge von Kapitalismuskritik oder im Zuge von Kritik an den USA oder an Israel geäußert und wird immer populärer.

Welche Rolle spielen Ihrer Erfahrung nach Lehrer und Lehrerinnen in der Auseinandersetzung?

Das ist total unterschiedlich, je nachdem welche Meinung der jeweilige Lehrer, die jeweilige Lehrerin persönlich vertritt. Je nachdem, was der Lehrer, die Lehrerin selbst schon für Antisemitismus hält und was nicht.

Die meisten Lehrer und Lehrerinnen sind heute 50 Jahre alt oder älter. Das ist die sogenannte 68er Generation, die Kinder der Tätergeneration. Dabei handelt es sich mehrheitlich um Menschen, die sich mit dem Antisemitismus und mit dem Holocaust sehr wohl beschäftigt haben. Viele haben eine ernsthafte Position dazu und auch noch einen persönlichen Bezug. Es ist ihnen ein zentrales Anliegen, gegen Antisemitismus zu wirken. Aber manche haben sich die Überzeugung:" Wir haben damals daraus gelernt, das wird nicht wieder passieren" angeeignet. Das ist eine Haltung, die nicht gut geeignet ist für die Arbeit mit Kindern. Ich sehe, dass es bei diesen Lehrern und Lehrerinnen durch deren unterschiedlich intensive, persönliche Beschäftigung mit dem Holocaust entweder zu einer Überreaktion auf Antisemitismus oder zu einer Unterreaktion kommt.

Mit Überreaktion meine ich, dass der Lehrer oder die Lehrerin sofort jeden, der auch nur irgendetwas zum Thema Juden sagt, herausgreift. Nach dem Motto:"Was hast du da gerade gesagt? Was willst du damit sagen? Warum sagst du Jude?" usw. So wird man diesen Kindern nicht gerecht. Da wird etwas in ihre Worte hineininterpretiert, das das eigentlich Gemeinte nicht trifft. Hierzu kommt es schnell, wenn die Schüler schon irgendwelche persönlichen Vorerfahrungen mit Jüdinnen und Juden gemacht haben und eigentlich diese ausdrücken wollen, z.B. wenn es um die Kinder mit palästinensischen Wurzeln handelt, die eigentlich die Politik Israels und deren Auswirkungen auf ihre Familienmitglieder meinen.

Bei Unterreaktion denke ich an Meinungen wie "Darüber ist schon genug gesprochen worden" oder "Wir haben daraus gelernt, das wird nicht mehr passieren, darüber brauchen wir nicht mehr reden." Auch damit tut man Kindern und Jugendlichen keinen Gefallen, weil es das Vergessen fördert und nicht die notwendige, bewusste Auseinandersetzung mit der Geschichte.

Gibt es in Bezug auf die Qualität und Quantität von Antisemitismus in Schulen eine Entwicklung oder eine Tendenz?

Das ist eine schwierige Frage. In den 1950er und 1960er Jahren ist das Thema zumeist totgeschwiegen worden. In den Schulen wurde kaum darüber gesprochen. Aber war deswegen der Antisemitismus nicht da oder kleiner? Das ist mit den 68ern zumindest in Westdeutschland aufgebrochen.

Heute ist es soweit, dass Antisemitismus wieder deutlicher gezeigt wird. Wer antisemitische Ansichten hat, spricht diese jetzt offener aus. Die Frage bleibt, war der Antisemitismus in der Zwischenzeit verschwunden oder hat man einfach nicht darüber geredet? Ist das besser oder schlechter, ich weiss es nicht! Außerdem ist dem islamistisch bedingten Antisemitismus eine neue Form in den deutschen Schulen anzutreffen, die es früher ohnehin gar nicht gab.

Was kann Schule für die Bekämpfung von Antisemitismus leisten?

Die Schule kann keine Einzelmaßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus ergreifen. Es muss sich um ein umfassendes Bündel von Maßnahmen handeln, ein ganzheitlicher Ansatz, der alle Arten von Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit thematisiert.

Lehrer und Schüler müssen dafür zuerst bewusst wahrnehmen, was den Kindern im Kopf herumschwirrt! Schule muss ein Ort sein, an dem sich die Kinder trauen, Fragen aufzubringen, Fragen in den Raum zu stellen! "Schule" damit meine ich die Erwachsenen an einer Schule, müssen auch das private und soziale Umfeld der Kinder kennen und begreifen.

Diese Erwachsenen müssen als ersten Schritt untereinander einen Austausch über ihre Meinungen und Haltungen betreiben. Das heißt, die Lehrer und Lehrerinnen sollten sich über ihre Positionen zu den Themen absprechen. Das ist bekannt unter dem Schlagwort "Schulprofil entwickeln". Ein übergeordnetes, gemeinsames Schulziel ist besser als zuviele kleine, individuell angestrebte Einzelziele.

Wie wurde bisher mit dem Thema Antisemitismus in der Schule umgegangen und welche Ansätze gibt es, die sich in der Vergangenheit als wirkungsvoll erwiesen haben?

Auch in der Vergangenheit haben sich Maßnahmen als besonders wirksam erwiesen, die sich nicht nur punktuell mit Antisemitismus befassen, sondern in ein umfassendes, pädagogisches Maßnahmenbündel eingebunden sind. Das gibt es und gab es schon an etlichen Standorten in Deutschland.

Zusätzlich gab es eine Reihe von Spezialmaßnahmen. Dazu gehört vor allem die Vermittlung von Informationen. Dabei muss immer die Frage gestellt werden: wie weit kommt man mit reiner Wissensvermittlung und was und wieviel bringt das? Denn Wissen und Informationen alleine reichen natürlich nicht aus, um Haltungen zu ändern. Es werden Zeitzeugengespräche sowie Treffen mit Holocaustüberlebenden organisiert. Das berührt die Schülerinnen und Schüler unmittelbar und schafft bei Ihnen eine hohe Motivation, sich mit den historischen Zusammenhängen auseinander zu setzen. Dies wird naturgemäß bald leider nicht mehr möglich sein.

Unternommen werden auch Fahrten zu Konzentrationslagern und Gedenkstätten. Sehr nützlich und wichtig erscheinen mir regionale Ansätze, wie zum Beispiel die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte der eigenen Gemeinde, oder die Aufarbeitung des Schicksals jüdischer Schüler der jeweiligen Schule in der NS-Zeit. Solche Aktivitäten schaffen ebenfalls einen persönlichen Bezug zwischen der Geschichte und den Kindern und Jugendlichen.

Was kann und sollte in Zukunft gemacht werden, welche Ideen und welche Konzepte gibt es?

Es gibt viele engagierte Bemühungen. Allerdings beschäftigen sich die Ansätze zu 70% mit dem Zusammentragen von Informationen. Das ist zu wenig. Die restlichen 30% bilden die oben beschriebenen ganzheitlichen Konzepte. Das bedeutet, dass man sich über den Geschichts- und Deutschunterricht hinaus mit Antisemitismus befasst.

Gerade auch auf einer individuellen Ebene, im Sinne von Empathieförderung. Kinder und Jugendliche sollten auch die Fähigkeit erlernen sich mit sich selbst auseinander setzen zu können. Wahrzunehmen, wie geht es dem anderen, was passiert mit dem, und inwieweit hat das etwas mit mir selbst zu tun? Natürlich dürfen wir dabei das Ziel, Wissen zu vermitteln, nicht aus den Augen verlieren. Erst in der gelungenen Verbindung von kognitiven und emotionalen Lernschritten können sich Haltungen entwickeln und verinnerlicht werden.

Beitrag aus: Was tun gegen Antisemitismus? Erfahrungen aus der Projektarbeit der Amadeu Antonio Stiftung, S. 18-20.

Fussnoten