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Islamismus im Staatsdienst

Michael Schmidt

/ 7 Minuten zu lesen

Werden Bundeswehr, Polizei und sogar deutsche Geheimdienste strategisch von Islamisten unterwandert? Zwar gibt es Anzeichen für derartige Versuche, aber auch Gegenmaßnahmen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz in Chorweiler. Köln, (© picture-alliance, picture alliance/Geisler-Fotopres)

Der Verfassungsschutz sieht insgesamt ein wachsendes religiös-extremistisches Personenpotenzial und beobachtet mehr als ein Dutzend islamistischer Organisationen mit mehreren zehntausend Anhängern, darunter die "Muslimbruderschaft"(MB), "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD), die "Millî Görüş"-Bewegung, die Hisbollah und die Hamas.

Dem jüngsten Bericht des Inlandsnachrichtendienstes vom Juli 2018 zufolge gibt es rund 26.000 Islamisten in Deutschland (bei 4,4 bis 4,7 Millionen muslimischen Einwohnern). Unter ihnen identifizierten die Sicherheitsbehörden mehr als 770 Gefährder und rund 1.900 Salafisten, die dem islamistisch-terroristischen Personenpotenzial zugerechnet werden. Der Verfassungsschutz geht bei ihnen von einer höheren Wahrscheinlichkeit aus, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Schwere begehen könnten, etwa die Finanzierung von Terrorismus oder die Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat. 2017 gab es 885 extremistische Straftaten mit einem islamistisch-fundamentalistischen Hintergrund. Was die Behörden besonders alarmiert: Erstmals stieg die Gesamtzahl der gewaltorientierten und dschihadistischen Salafisten über die Marke von 10.000 auf knapp 11.000. Seit 2011 hat sich ihre Zahl somit fast verdreifacht.

Wachsende Sorge vor der Unterwanderung staatlicher Institutionen

Aus Sicht des Verfassungsschutzes steht der deutsche Staat im Fokus des islamistischen Terrorismus. Oberstes Ziel der Sicherheitsbehörden ist daher die Verhinderung von Anschlägen. Daneben aber gibt es eine wachsende Sorge vor der Unterwanderung staatlicher Institutionen durch Islamisten – in der Bundeswehr, bei der Polizei und auch bei den Geheimdiensten selbst. Entwicklungen der jüngeren Zeit nähren diese Sorge vor der Unterwanderung, die seit jeher zum Kern der Strategie beispielsweise der Muslimbrüder gehört , eine der weltweit ideologisch einflussreichsten islamistischen Bewegungen. Statt nach Syrien oder in den Irak auszureisen und sich an Kämpfen der IS-Miliz zu beteiligen, konzentriert sich die Szene zunehmend auf selbstständig geplante und durchgeführte Aktionen in westlichen Staaten.

Im "Muslim Gang Book", einem 2015 vom sogenannten Islamischen Staat veröffentlichten Leitfaden für terroristische Anschläge in Europa, werden Muslime dazu aufgerufen, "ihre eigenen Banden zu gründen und diese in eine Dschihad-Bewegung zu verwandeln" . Die Autoren systematisierten damit einen bereits vorhandenen Trend und erklärten ihn zur Strategie: Die islamistische Szene besteht – forciert durch das Muslim Gang Book – nicht nur aus klar erkennbaren Strukturen und Gruppen, sondern aus Einzelnen, mit engen, vor allem familiären Kontakten , Netzwerken, Seilschaften: Nach Erkenntnissen des NRW-Verfassungsschutzes waren zum Beispiel, allein im Ruhrgebiet 39 Frauen in 21 Städten daran beteiligt, das islamistische Netz in eine Art soziale Bewegung zu verwandeln (Stand Dezember 2017). Sie knüpfen Kontakte, sammeln Spenden, vermitteln Ehen und Wohnungen, kümmern sich um Kranke und organisieren Ausreisen in Kriegsgebiete. Sie schaffen es, so sagt es Burkhard Freier, NRW-Verfassungsschutz-Chef, "den Salafismus als eine Art Familienangelegenheit zu machen. Männer, Kinder, Frauen, ganze Familien, die auch untereinander vernetzt sind, sind durch die Frauen auch in der Szene viel stärker verankert, die Propaganda wird sehr viel schneller vorangetrieben und es führt dazu, dass diese Szene eine echte Parallelwelt zu unserer Gesellschaft wird."

An die Stelle einer Organisation ist eine Franchise-Ideologie getreten. Die verbreitet sich, wie der Verfassungsschutz beobachtet, am besten im kleinen Kreis: "Es gibt in der salafistischen Szene einen Trend zum Rückzug aus der Öffentlichkeit ins Private. Orte der Radikalisierung sind inzwischen weniger Moscheen oder größere, überregionale Organisationen, sondern eher kleine konspirative Zirkel und vor allem das Internet." Was am Ende eines Radikalisierungsprozesses steht, ist vorab kaum erkennbar.

Bundeswehr als attraktives Ziel für Islamisten

Der Militärische Abschirmdienst MAD jedenfalls sieht die Gefahr, dass die Terrormiliz des "Islamischen Staats" (IS) deutsche Kasernen als Ausbildungscamps zu nutzen versucht. Für den Geheimdienst ist klar: Die Bundeswehr ist ein attraktives Ziel für Islamisten, die Interesse an militärischer Ausbildung und Zugängen zu Waffen haben, so ein Sprecher des MAD. Selbst wenn nur einige wenige den IS-Aufrufen folgten, entstünde dadurch ein erhebliches Risiko. Die Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren, wie die Gesellschaft insgesamt, ethnisch und religiös vielfältiger geworden. 14,5 Prozent der Bundeswehrsoldaten (in den niedrigen Diensträngen mehr, in den höheren weniger) haben einen Migrationshintergrund. Geschätzte 1.600 Muslime dienen in Uniform, genauer weiß das niemand, da die Religionszugehörigkeit von Soldaten nicht erfasst wird.

Nach Erkenntnissen des MAD sind in den vergangenen Jahren mehr als 1.000 Islamisten aus Deutschland in den Dschihad Richtung Syrien/Irak ausgereist, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Gruppierungen an Kämpfen teilzunehmen. Bislang befand sich darunter kein aktiver Soldat, aber 48 Personen, die in den letzten 22 Jahren Wehrdienst bei der Bundeswehr geleistet hatten.

Sicherheitsüberprüfung bei der Bundeswehr ausgeweitet

Im Juli 2017 wurde durch eine Änderung des Soldatengesetzes die Sicherheitsüberprüfung auf alle Bewerber der Bundeswehr ausgeweitet. Mehr als 16.000 Bewerber wurden seither abschließend überprüft. Dabei wurde elf von ihnen, darunter drei des Islamismus Verdächtigen, der Zugang zur Truppe und damit auch die Ausbildung an Kriegswaffen verwehrt.

Der MAD prüft aber nicht nur Bewerber, sondern alle Verdachtsfälle, Soldaten, die durch radikale Äußerungen auffallen, an salafistisch geprägten Veranstaltungen teilnehmen, Kameradinnen und Vorgesetzte ablehnen oder sich anti-westlich oder antisemitisch äußern. Insgesamt ist der MAD seit 2009 rund 390 Verdachtsfällen von Islamismus bei der Bundeswehr nachgegangen, von denen sich 30 bestätigt haben, nachdem man sie befragt und ihr Umfeld überprüft, Angehörige, Freunde und Arbeitgeber angehört und eigene Geheimdiensterkenntnisse mit denen befreundeter Staaten abgeglichen hatte. Die Bundeswehr hat sie entlassen. Oder der Verfassungsschutz hat die Beobachtung übernommen, wenn sie ohnehin aus dem Dienst ausschieden, der Verdacht aber noch nicht ausgeräumt wurde.

Ebenfalls Ziele: Polizei und Geheimdienste

Für Islamisten als zu infiltrierende Institutionen nicht weniger interessant sind die Polizei und die Geheimdienste: Dort ließen sich Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, etwa im Umgang mit Waffen, Zugang zu vertraulichen Erkenntnissen erlangen und Wissen über das Wissen der anderen Seite sammeln. 2013 erregte der Fall eines Salafisten Aufmerksamkeit, der mit drei anderen einen Anschlag auf den Chef der rechtsextremen Partei Pro NRW geplant haben sollte – und zwei Jahre zuvor Anwärter auf einen Posten bei der Polizei in Bremen war. Seine angestrebte Polizeikarriere war gestoppt worden, als er in einem Essener Schießsportverein zu trainieren begann, eine Pistole bestellte und kurz vor seiner Vereidigung für den Polizeidienst auf eine rasche Lieferung drängte.

2016 enttarnte der Verfassungsschutz einen mutmaßlichen islamistischen Maulwurf unter seinen Mitarbeitern. Das Ziel des Mannes war, so die Vermutung des Amtes, den Verfassungsschutz zu infiltrieren und einen Sprengstoffanschlag in Köln vorzubereiten. Zudem soll sich der Beschuldigte im Internet unter falschem Namen islamistisch geäußert und als vertraulich eingestufte Informationen verbreitet haben. Das Gericht verurteilte ihn wegen versuchten Geheimnisverrats.

Bekannter Problemfall: Polizeiakademie Berlin

Seit Ende 2017 wird am Beispiel der Polizeiakademie in Berlin debattiert, ob es sogar eine systematische strategische Unterwanderung staatlicher Dienststellen gibt. Der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft sagte damals, es gebe durchaus Hinweise darauf, dass "arabische Großfamilien" gezielt Angehörige in den öffentlichen Dienst einzuschleusen versuchten. "Die haben natürlich ein ganz vitales Interesse daran, genau zu wissen, wo und wie Staat funktioniert, wie Polizei tickt, wann Durchsuchungen stattfinden", sagte Bodo Pfalzgraf.

Bestätigt wurde diese kontroverse Annahme nicht, ein vom Berliner Senat bestellter externer Sachverständiger fand keine Belege für eine Unterwanderung. Aber auch für die Gewerkschaft der Polizei steht fest: "Die Berliner Polizei als staatliche Institution ist unter Garantie ein Bereich, aus dem kriminelle Organisationen gern Informationen abschöpfen möchten" . Das gelte nicht nur für kriminelle Clans. "Wir wissen, dass es Islamisten gibt, und dass Berlin als europäische Metropole durchaus ein strategisch relevantes Ziel für radikale Extremisten darstellt." Für die Polizei ergäbe sich daraus aber vor allem das Erfordernis, Maßnahmen zu treffen, "damit wir solche BewerberInnen ablehnen beziehungsweise herausfiltern können, falls sich KollegInnen radikalisieren".

Unterwanderungsstrategie durch Extremisten wird vorgebeugt

Bundeswehr, Geheimdienste, Polizei sehen sich gut aufgestellt im Abwehrkampf gegen Extremisten. Hazim Fouad, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Landesamt für Verfassungsschutz in Bremen, sagt, stellvertretend für viele: "Durch die Sicherheitsüberprüfungen wird einer etwaigen Unterwanderungsstrategie durch Extremisten wirkungsvoll vorgebeugt."

Das Bewusstsein für die Gefahr wächst, die Sensibilität bei Mitarbeitern und Vorgesetzten auch, die Dunkelfelder werden zunehmend ausgeleuchtet, die Hürden für Bewerber immer höher. Aber das eine ist der Schutz der Institutionen vor Extremisten, ein anderes die rechtzeitige und richtige Ansprache der sich potenziell Radikalisierenden, bevor sie extremistisch aktiv werden. Hier sehen die Behörden eine neue Herausforderung für die Islamismusprävention: die zunehmende Verquickung und Nähe von Extremismus und Kriminalität.

Michael Schmidt hat in Göttingen und Besancon Mittlere und Neuere Geschichte, Deutsche Philologie und Politikwissenschaft studiert und ist stellvertretender Ressortleiter Politik beim "Tagesspiegel" in Berlin.