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Streitbare Demokratie | Linksextremismus | bpb.de

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Streitbare Demokratie

Hans-Gerd Jaschke

/ 7 Minuten zu lesen

"Streitbare Demokratie" – das ist ein Grundverständnis der deutschen Demokratie. Und es ist ein Sammelbegriff für ein rechtspolitisches Instrumentarium, mit dem sich der Staat gegen seine Feinde wehren kann.

KPD-Plakat von 1932. Die Partei wurde 1956 verboten, wenige Jahre nach ihrer Neugründung. (© Public Domain)

Die Idee einer "streitbaren" oder auch "wehrhaften" Demokratie wird in der Politikwissenschaft seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert. Unter dem Eindruck der geringen und erfolglosen Gegenwehr gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus in der Endphase der Weimarer Republik stellte sich die Frage, wie eine Demokratie beschaffen sein müsse, die sich erfolgreich gegen die politischen Extreme von links und rechts zur Wehr setzen könne. Es sollten Vorkehrungen in der Verfassung und in Einzelgesetzen getroffen werden, um den politischen Extremismus bekämpfen und abwehren zu können. Die bis heute umstrittene Problematik besteht darin, dass Freiheit und Sicherheit ein prekäres Spannungsfeld bilden: Zu viel Freiheit eröffnet auch extremistischen und antidemokratischen Kräften politischen Spielraum. Zu viel Sicherheit hingegen, zuviele Vorkehrungen, erdrosselt die individuellen Freiheitsrechte und höhlt die Demokratie von innen aus. "Streitbare Demokratie" – das ist ein Grundverständnis der Demokratie in Deutschland, zugleich aber auch der Sammelbegriff für ein rechtspolitisches Instrumentarium im Grundgesetz und in weiteren Einzelgesetzen.

Grundgesetz

Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 spielten Überlegungen zum Prinzip der streitbaren Demokratie eine Rolle vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Insbesondere die West-Alliierten waren aber auch geleitet von der Befürchtung, dass die Demokratie noch nicht in den Köpfen der Bürger verankert sei und von daher angemessene Vorkehrungen in der Verfassung veankert sein sollten. Das Grundgesetz regelt in mehrfacher Hinsicht den Umgang mit politischem Extremismus ohne diesen Begriff selbst zu verwenden. Die wichtigste Demokratieschutzkonzeption findet sich im Artikel 79 Abs. 3, der sogenannten Ewigkeitsklausel, die wesentliche Teile des Grundgesetzes, nämlich Artikel 1 und 20 für unaufhebbar erklärt. Tragende Pfeiler wie Menschenwürde, Rechts-, Bundes- und Sozialstaatsstruktur sind damit unveränderbar und keiner parlamentarischen Mehrheitsentscheidung zugänglich. Diese wertgebundene Ordnung des Grundgesetzes entstand vor dem Hintergrund extremistischer Bedrohungen des zwanzigsten Jahrhunderts und sollte rechts- und linksextremistischen Angriffen auf die Demokratie und das Grundgesetz den Boden entziehen. Das Wiederaufleben des Nationalsozialismus und eine kommunistische Machtergreifung in Westdeutschland auf demokratischem Weg sollten erschwert werden.

Das Grundgesetz ist von daher der Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung, deren Liberalität und Wertrelativismus der Machtergreifung des Nationalsozialismus wenig entgegenzusetzen hatte. Im Grundgesetz findet sich eine Reihe weiterer Bestimmungen zum Schutz der Verfassung:

  • Artikel 5 Abs. 3 bindet die Freiheit der Lehre an die Treue zur Verfassung. Extremisten sollen daran gehindert werden, ihre Ideologie im Hörsaal zu verbreiten, ein Missbrauch der Lehrfreiheit soll auf diese Weise unterbunden werden.

  • Artikel 9 Abs. 2 erklärt Vereinigungen für verboten, "deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten". Das urdemokratische Recht zur Bildung freier Assoziationen darf nicht dazu benutzt werden, extremistische Politik gegen die Verfassung zu betreiben.

  • Artikel 18 ermöglicht die Verwirkung von Grundrechten, wenn einzelne Grundfreiheiten "zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht" werden. Zu denken ist hierbei weniger an alltägliches Verhalten, sondern eher an Multiplikatoren, die als einzelne dauerhaft gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung agitieren.

  • Artikel 21 Abs. 2 erklärt Parteien für verfassungswidrig, "die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden". Diese Vorschrift ist zweifellos die wichtigste, denn es sind Parteien, die machtpolitisch in der Lage sind, Mehrheiten auf sich zu versammeln und so das politische Kräftegleichgewicht zu verändern.

Dazu hat das Bundesverfassungsgericht im SRP-Verbotsurteil 1952 eine richtungsweisende Interpretation gegeben. Verfassungswidrig ist demnach der Verstoß gegen grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung:

"Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition." (BverfGE Bd. 2, S. 10ff.).

Parteienverbote

Bald sechzig Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes kann man feststellen, dass die Möglichkeiten zum Demokratieschutz insgesamt mit Bedacht angewandt worden sind. Das Parteienverbot ist nur zweimal ausgesprochen worden: 1952 wurde die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) vom Bundesverfassungsgericht verboten. Die SRP war eine Fortsetzung der NSDAP. In ihr versammelten sich ehemalige Nationalsozialisten, die an der Idee des Deutschen Reiches festhielten und die junge deutsche Demokratie ablehnten. Anfang 1952 hatte sie bei Nachwahlen in Niedersachsen in einigen Kommunen bis zu elf Stimmenprozente erhalten, Grund genug also, gegen diese Unverbesserlichen repressiv vorzugehen. Das Verbot hatte aber auch eine symbolische Bedeutung: Die Bundesrepublik distanziert sich in gebührender Weise vom offenen Fortleben des Nationalsozialismus – so hiess die Botschaft nach innen und nach aussen drei Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes.

1956 wurde die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. Sie hatte immer wieder zum Sturz des Adenauer-Regimes aufgerufen, bekämpfte aktiv den Kapitalismus und forderte in der Tradition der Weimarer Kommunistischen Partei die Diktatur des Proletariats. Das Verbot erfolgte unter aussenpolitischen Bedingungen einer starken Polarisierung zwischen West und Ost, fünf Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer und war als eindeutiges Signal zu verstehen, dass im westdeutschen Teilstaat sowjetmarxistische Bestrebungen nicht geduldet werden sollten. Die Verfassungsorgane waren gleichwohl über Jahrzehnte hinweg ausgesprochen vorsichtig und zurückhaltend in der Anwendung der Verbotsvorschrift.

Fast fünfzig Jahre nach dem KPD-Verbot, 2003, ist der von den Verfassungsorganen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung gestellte Antrag auf ein Verbot der NPD zurückgewiesen worden. Das Verfahren wurde vom Bundesverfassungsgericht eingestellt, weil es den Einsatz von V-Leuten des Verfassungsschutz in der NPD auch noch während des Verfahrens für unvereinbar mit den Anforderungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens hielt.

Vereinsverbote

Von der Möglichkeit des Vereinsverbotes nach Artikel 9 des Grundgesetzes ist hingegen seit den fünfziger Jahren häufig Gebrauch gemacht worden. Hierüber entscheidet per Verfügung der Bundesinnenminister, soweit eine Vereinigung bundesweit tätig ist und die zuständigen Länder-Innenminister und -senatoren, wenn sie nur in einem Bundesland agiert. In den achtziger Jahren wurden u.a. die Wehrsportgruppe Hoffmann, die Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit, die Aktionsfront Nationaler Sozialisten und die Nationale Sammlung verboten. In den neunziger Jahren wurden u.a. die FAP, die Nationale Liste und die Nationalistische Front aufgelöst. Im Zusammenspiel mit den begleitenden Polizei-Razzien und entsprechender Publizität sind die Organisationsverbote ein verlockendes politisches Mittel, denn der Staat zeigt Zähne, demonstriert Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit und kann mit breiter öffentlicher Unterstützung rechnen. Tatsächlich kann auf diese Weise kaum der rechtsextreme Organisationskern ausgetrocknet werden, im Gegenteil: Die rechte Szene berücksichtigt die Verbotsgefahr und entwickelt immer differenziertere Instrumente, um Verbote zu verhindern oder zu umgehen, etwa den Anschluß an eine legale Partei wie die NPD oder die Entwicklung dezentraler, schwer überschaubarer Organisationsstrukturen. Zahlreiche Gründungen rechtsextremer freier Kameradschaften noch unterhalb der Vereinsebene sind eine Antwort der rechtsextremen Szene auf die Verbote rechtsextremer Vereinigungen in den neunziger Jahren.

Neben den Bestimmungen des Grundgesetzes tragen einige Vorschriften des Strafgesetzbuch (StGB) dazu bei, die streitbare Demokratie mit weiteren Instrumenten auszustatten: unter Strafe stehen die Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei (§ 84 StGB), Straftaten gegen Verfassungsorgane (§§ 105, 106 StGB), die Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 129a StGB) und Volksverhetzung (§ 130 StGB). Neben diesen repressiven Möglichkeiten sprechen wir auch von einem institutionellen Demokratieschutz. Dabei geht es um besondere staatliche Einrichtungen, die den politischen Extremismus bekämpfen. Das Bundes- und die Landesämter für Verfassungsschutz beobachten Bestrebungen gegen die Freiheitliche demokratische Grundordnung, der polizeiliche Staatsschutz beschäftigt sich mit politisch motivierten Straftaten, der Generalbundesanwalt ist für schwere Straftaten aus dem Bereich des politischen Extremismus zuständig.

Im Rückblick wird man sagen können, das Konzept der streitbaren Demokratie hat sich bewährt. Als Grundverständnis findet es Eingang ins Recht, aber auch in das Bewusstsein der meisten Bürger. Extremistische Parteien und Vereinigungen sind zwar Teil des politischen Lebens, vor allem rechtsextreme Parteien haben immer wieder parlamentarische Erfolge erringen können, aber eine wirkliche Gefährdung der demokratischen Grundordnung ist dadurch nicht erfolgt. Extremistische Politik in Regierungsverantwortung findet nicht statt. Dazu beigetragen haben die Instrumente der streitbaren Demokratie: rechtliche Regelungen und abwehrbereite Institutionen.

Ausblick

Im Hinblick auf künftige Entwicklungen wird sich zeigen müssen, ob das Konzept der streitbaren Demokratie auch weiterhin zur Stabilität der Demokratie beiträgt. Eine wesentliche Herausforderung war den Gründern des Konzepts und den Verfassungsgebern Ende der vierziger Jahre noch nicht bekannt: Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus. Er agiert weltweit, vernetzt, ohne lokale Zentren und weitgehend ohne Aktivisten, die Forderungen stellen. In seinem Blickfeld sind weniger Repräsentanten aus Wirtschaft und Politik als symbolische Zeichen der modernen, technologischen Welt. Das World Trade Center in New York, U-Bahnen, Bahnhöfe und Flugzeuge gehören dazu. Angesichts dessen sind die traditionellen Instrumente der streitbaren Demokratie wie Parteien- und Vereinsverbote wenig geeignet.

Die Bekämpfung des Terrorismus setzt auf andere Methoden: Videoüberwachung, Zusammenführung von Erkenntnissen und Dateien, bessere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, verstärkter Abgleich von Personendaten. Damit soll im Vorfeld terroristischer Aktionen die Gewaltanwendung erschwert werden. Streitbare Demokratie erhält auf diese Weise aber auch eine neue Qualität, denn das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit wird einer harten Probe unterzogen. Im Interesse der Sicherheit des Gemeinwesens und der Abwehr des Terrorisms werden Bürgerfreiheiten eingeschränkt. Schützt sich die Demokratie zu Tode? Streitbare Demokratie kennt das prekäre Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, es kommt darauf an, im Einzelfall auszuloten, ob und unter welchen Bedingungen Freiheitsbeschränkungen geboten sind, um tatsächlich Gefahren abzuwehren.

Fussnoten

geb. 1952; Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin.

Anschrift: Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Alt-Friedrichsfelde 60, 10315 Berlin.

Veröffentlichungen u. a.: Fundamentalismus in Deutschland. Gottesstreiter und politische Extremisten bedrohen die Gesellschaft, Hamburg 1998.