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Demokratie und Wehrsystem

Franz Kernic

/ 12 Minuten zu lesen

Der Vorrang des Politischen vor dem Militärischen ist ein Wesensmerkmal der modernen Demokratie. Wie ein Gemeinwesen sein Militär organisiert und welche militärischen Plichten es seinen Mitgliedern auferlegt, hängt von seinen politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen ab.

"Staatsbürger in Uniform" sollen am politischen Leben der Bundesrepublik teilhaben: Soldaten folgen am 2. Juli 2014 einer Rede von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Deutschen Bundestag. (© picture-alliance/dpa)

In Deutschland und in anderen Staaten Europas wird gegenwärtig über die Rolle des Militärs gestritten: Welche Funktionen und Aufgaben haben Streitkräfte heute? Wie sind sie für ihre Einsätze gerüstet? Und wie sollen Soldatinnen und Soldaten für die Armee rekrutiert werden? Das alles sind Fragen, die das Wehrsystem eines Landes betreffen. Welches Wehr- bzw. Militärsystem dem jeweiligen politisch-gesellschaftlichen System entspricht, hängt davon ab, welchen Begriff des Politischen und welches Verständnis von Demokratie und Staatlichkeit man daran anlegt. Denn Gesellschaft, Staat und Militär sind in vielfältiger Weise miteinander verbunden.

Wehrverfassung, Wehrsystem und Militärsystem

Der Begriff Militär (militaire), der im deutschen und französischen Sprachgebrauch erst seit dem 17. Jahrhundert verwendet wird, entstammt dem lateinischen Wort militaris. Er verweist in seiner Bedeutung auf die Organisation von Streitkräften, in der Soldaten (miles) ihren Dienst leisten. Der Begriff betont dabei den organisatorisch-institutionellen Aspekt kollektiver Gewalt innerhalb eines staatlich organisierten Gemeinwesens. Mit der Entstehung des internationalen Systems von Nationalstaaten nach dem Westfälischen Frieden 1648 und der Entwicklung eines neuen absolutistischen Staatsverständnisses veränderten sich gleichzeitig auch die Funktionen sowie die politische Stellung der Heere in ganz Europa. Während zuvor vor allem Söldnerheere eingesetzt wurden, prägten ab dem 17. Jahrhundert stehende Heere, die einen engen Bezug zum Herrscher sowie zur herrschenden Gesellschaftsschicht aufwiesen, das Bild des Militärs in Europa. Gleichzeitig beflügelte das neuzeitliche Staatsverständnis die Monopolisierung der bewaffneten Mächte in den Händen des Staates bzw. Herrschers. Das staatliche Gewaltmonopol war geboren. Die politischen Veränderungen der Neuzeit rückten damit die Frage nach der konkreten Gestaltung der Beziehungen zwischen Nationalstaat und Militär ins Zentrum staatstheoretischer Überlegungen.

Die Begriffe Wehrverfassung, Wehrsystem und Militärsystem werden heute häufig synonym verwendet. Dabei gibt es eine Reihe unterschiedlicher Definitionen und sozialwissenschaftlicher Differenzierungen. Allgemein bezieht sich der Begriff des "Wehrens" auf alle Maßnahmen einer Gemeinschaft bzw. eines Staates, die ergriffen werden, um gewaltsame Angriffe auf die eigene Existenz zu verhindern oder erfolgreich abzuwehren. Der Begriff Wehrverfassung beschreibt damit in einem weit gefassten Sinn die "Gesamtverfasstheit" einer Gesellschaft im Hinblick auf ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren und inneren Existenzbedrohungen. In einem engeren Sinne verweist er auf die politischen und sozialen Grundlagen der rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft, insbesondere auf die Verfassung und die Grundrechte und die darin verankerten Leitbilder und Normen eines kollektiven Sich-Wehrens gegen Existenzbedrohungen.

Der Begriff Wehrsystem bezieht sich auf die konkrete politische Ausgestaltung des kollektiv organisierten Sich-Wehrens. Ihre Grundlage sind die in der Wehrverfassung verankerten Grundregeln und Normen über die Organisation, Funktion und Führung der Streitkräfte (insbesondere Bestimmungen hinsichtlich der Befehlsgewalt, des Auftrages und Einsatzes der Streitkräfte sowie Regelungen der Zuständigkeiten und Kompetenzen einzelner Staatsorgane). Politisch gestaltet werden der Aufbau der Organisation (Strukturen) sowie Verfahren und Abläufe der Organisationstätigkeit (Prozesse). Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Form der Rekrutierung.

Die Politik hat bei der Gestaltung des Wehrsystems einen großen Handlungsspielraum. Entscheidend aus demokratiepolitischer Perspektive ist, dass die jeweiligen politischen Beschlüsse zur Gestaltung bzw. Umgestaltung des Wehrsystems im Einklang mit den demokratischen Spielregeln und verfassungsrechtlichen Bestimmungen stehen. Dieser Handlungsspielraum erklärt zugleich, warum sich bei einem Vergleich der Wehrsysteme der Staaten Europas heute so gravierende Unterschiede zeigen.

Bei der Gestaltung des Wehrsystems spielen grundsätzlich militärische wie nicht-militärische Elemente (z.B. Alternativ- und Zivildienste; Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei und private Sicherheitsorganisationen; Schutzanlagen etc.) eine wichtige Rolle. Im Verlauf der Geschichte lässt sich jedoch eine Dominanz des Militärs feststellen.

Das Militärsystem eines Staates kann deshalb als jener Teil des Wehrsystems aufgefasst werden, der sich auf die Strukturen und Prozesse der Organisation des Militärs bezieht. Nach diesem Verständnis fallen Wehr- und Militärsystem nur dann zusammen, wenn eine Gesellschaft ihr Sich-Wehren ausschließlich auf eine militärische (bewaffnete) Komponente abstützt.

Zusätzlich darf in diesem Zusammenhang auf keinen Fall übersehen werden: Jedes Militär vermag immer auch über diesen unmittelbaren Bereich des "Sich-Wehrens" hinauszugehen und sich zu einem Angriffsinstrument zu wandeln, das in der Lage ist, sowohl innerhalb der Gesellschaft wie nach außen gerichtet kriegerische Handlungen auszuführen. Auffallend dabei ist, dass im politischen Alltag ein solches kriegerisch-offensives Vorgehen häufig als ein Akt des Sich-Wehrens bzw. einer Verteidigung gerechtfertigt wird.

Politik, Staat und Militär

In der historischen Perspektive zeigt sich eine enge Verflechtung von Politik und Militär. Das abendländische politische Denken steht seit der Antike im Banne des Krieges. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Völkern und Gesellschaften erscheinen als eine Art Naturzustand (status naturalis); der Frieden wiederum als etwas, das es erst mühsam herzustellen, zu stiften und dann zu erhalten gilt. Die Unterscheidungen zwischen Freund und Feind, zwischen Innen und Außen, werden zu wesentlichen Kategorien gesellschaftlich-politischen Denkens.

Zwei unterschiedliche Denkrichtungen (Ideen) entfalteten dabei besondere Wirkkraft: Die erste Denkrichtung geht davon aus, dass das Kriegerische bzw. Militärische und die unmittelbare Erfahrung militärischer Gewalt zwar seit eh und je menschliche Gesellschaften prägen, dieser Zustand aber überwunden werden kann, und zwar durch die Entwicklung des eigentlich Politischen. Dieses Politische wird dahingehend bestimmt, dass innerhalb eines Gemeinwesens (z.B. des griechischen Stadtstaates, der polis) eine friedliche soziale Interaktion bzw. Kooperation zwischen den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern ermöglicht werden soll, indem bestimmte Verfahren und Grundregeln eines sozialen Interessensausgleichs etabliert werden. Gleichzeitig wird jegliches kriegerische Handeln auf den Bereich außerhalb der Polis verbannt. Das Politische in diesem Sinne ist der Versuch, eine Gemeinschaft von der dominanten Orientierung am Kriegerischen und Militärischen zu lösen.

Die andere Denkrichtung betrachtet das Kriegerische als den eigentlichen Kern jeglichen politischen Handels. Die einfachen binären Codes bzw. Unterscheidungen wie Freund/Feind, Eigene/Fremde, Innen/Außen erscheinen in ihr als Grundbedingungen für politischen Erfolg. Mit anderen Worten: Die Selbstbehauptung einer Gesellschaft oder politischen Gemeinschaft - in einem grundsätzlich immer kriegerisch-konkurrierenden Umfeld - ist nur auf dem Fundament kollektiv organisierter staatlich-militärischer Macht möglich. Politik ist demzufolge nach dem Modell des Militärs und unter Aufbau und Nutzung eines starken militärischen Instruments zu strukturieren (z.B. Hierarchien, eindeutige Feind/Freund-Unterscheidungen, klare Befehlskette). In dieser Denkrichtung bilden Politik und Militär eine Einheit (Militarismus, Bellizismus); die Armee wird zur wichtigsten Repräsentantin des Staates. Beide Denkrichtungen haben die abendländische Geschichte bis in unsere Tage geprägt, sie sind auch in den heutigen politischen Diskussionen immer noch präsent.

Die enge Verflechtung von Staat und Militär in der Neuzeit zeigt sich bei einer Vielzahl von politisch-kulturellen Gegebenheiten, Handlungen und Sprechakten. Im Absolutismus repräsentiert der Herrscher beides in gleichsam reiner Form: Staat und Heer. Er ist damit zugleich Herrscher über Krieg und Frieden. Politik wird als die "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" (Clausewitz) gesehen, das Militär als eines von mehreren "Instrumenten" in den Händen des Herrschers, um bestimmte politische Ziele zu verwirklichen. Der Verweis auf den instrumentellen Charakter des Militärs bestimmt bis in die heutige Zeit unser Denken über das Verhältnis von Politik, Staat und Militär, auch wenn sich die unmittelbare Anbindung an die Person des Herrschers aufgelöst hat und sich die Funktionen des Militärs gewandelt haben. Die Bestimmung des Militärs als staatliches Organ, dem bestimmte hoheitliche Aufgaben übertragen werden, ist charakteristisch für die politischen Systeme der Gegenwart.

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und zivil-militärisches Verhältnis

Die Aufklärung brachte eine radikale Kritik am Absolutismus und dem damit verbundenen System der stehenden Heere. So wandte sich beispielsweise der Philosoph Immanuel Kant (1724 - 1804) in seiner 1795 veröffentlichten Schrift "Zum ewigen Frieden" gegen den Gebrauch von Menschen (Soldaten) als bloße Maschinen und Werkzeuge in der Hand des Fürsten bzw. Staates und forderte ein Ende der stehenden Heere. Kant verknüpfte den Friedensgedanken mit der Idee einer republikanischen Verfassung sowie Ideen einer Milizarmee mit defensivem Charakter, aufbauend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Zahlreiche im späten 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts öffentlich diskutierte Ideen zur Umgestaltung und Reform der Heere strebten keineswegs primär die Schaffung eines effektiveren Instruments zur Kriegsführung an, sondern zielten im Gegenteil vor allem auf den Frieden.

Auch wenn diese Zielsetzung im Verlauf des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kläglich scheiterte, wurden mit den im Zuge der Aufklärung entwickelten politischen Leitbildern und erhobenen Forderungen neue Akzente gesetzt, die fortan die Diskussion über die Gestaltung des Verhältnisses von Gesellschaft und Militär prägten. Drei Entwicklungslinien, an denen sich der permanente Wandel im Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Militär zeigt, sind für die gegenwärtige Situation von besonderer Bedeutung:

  1. Das politische Erstarken des Bürgertums im 19. Jahrhundert beflügelte unter anderem die Ideen von Bürger- und Milizarmeen und bewirkte die Öffnung des Offiziersberufes für Angehörige bürgerlicher Kreise. Mit dem schrittweisen Übergang zur allgemeinen Wehrpflicht in den europäischen Staaten (verstanden als Militärdienstpflicht) begann sich gleichzeitig die Sozialstruktur der Armeen radikal zu verändern. Von hier aus wird auch verständlich, warum so manche Kreise in der allgemeinen Wehrpflicht das "legitime Kind der Demokratie" (Theodor Heuss) erblickten. Die Wehrpflicht erschien als Bürgerpflicht und zugleich als Chance, durch den Zugang zur bewaffneten Macht des Staates (einschließlich des Zugangs zu Kommandopositionen innerhalb der Streitkräfte) an politischem Gewicht und gesellschaftlichem Ansehen zu gewinnen. Die allgemeine Wehrpflicht (durchwegs auch im Zusammenhang mit der Idee eines allgemeinen Wahlrechts) wurde zunächst vornehmlich aus einer Emanzipations- und Machtperspektive betrachtet, die die Gefahr weitgehend ausblendete, dass das neue Militär zu einer "Kriegsmaschine der Massen" werden könnte. Der Glaube, dass ein "wahrhaft freies Volk" (Kant) wohl kaum beschließen würde, sich in einen Krieg zu stürzen, fand mit dem Kriegsausbruch 1914 sein jähes Ende. Mit der Demokratisierung der politischen Systeme Europas in der Nachkriegszeit vollzog sich nicht nur die schrittweise Öffnung des Militärs für alle Gesellschafsschichten (zunächst noch auf die männliche Bevölkerung beschränkt; die Öffnung für Frauen wurde erst viel später eingeleitet), sondern ebenso eine Anbindung der Entscheidungsgewalt über die Anwendung militärischer Gewalt an die jeweilige demokratische Verfasstheit der Staaten.


  2. Indem sich der moderne Staat als Rechtsstaat konstituierte, wurde die Unterwerfung der militärischen Gewalt unter die internationale wie staatliche Rechtsordnung zu einem wichtigen gesellschaftspolitischen Anliegen. Der moderne demokratische Staat bemüht sich deshalb intensiv darum, die Institution Militär in die bestehenden Rechtsordnungen einzugliedern. Die Grundprinzipien mit Bezug auf das Militär werden verfassungsrechtlich verankert (Wehrverfassung), sämtliche weitere Belange werden durch Gesetze und Verordnungen geregelt. Zudem sind auch die Normen des Völkerrechts und internationalen Rechts für den militärischen Bereich der Staaten von besonderer Bedeutung (z.B. allgemeines Gewaltverbot). Die Frage der Gestaltung des Wehr- bzw. Militärsystems ist aus diesem Grund in den heutigen Demokratien nicht nur eine politische und soziale Frage, sondern auch eine Frage des Rechts. Deshalb gehören öffentliche Diskussionen zur Legitimität und Legalität militärischer Gewalt zum Alltag demokratisch-pluralistischer Gesellschaften.


  3. In den modernen Demokratien kommt der Gestaltung des zivil-militärischen Verhältnisses besondere Bedeutung zu. Als wichtigster Grundsatz gilt dabei das Konzept des Primats der Politik, d.h. der Vorrang ziviler Entscheidungsgewalt und eine klare Unterordnung des Militärs unter die zivile Exekutive. In dieser Hinsicht kommen sowohl bestimmten staatlichen Institutionen (z.B. Parlament, Gerichte, Rechnungshof) wie auch einer Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. Friedens- und Bürgerrechtsbewegungen, Medien, Kirchen und Religionsgemeinschaften) Kontrollfunktionen zu, um über die Einhaltung des Primats der Politik zu wachen. Die Mechanismen und Instrumente "ziviler Kontrolle" des Militärs sind hinsichtlich ihrer Aufgaben, Kompetenzen und Wirkungsmöglichkeiten in den einzelnen demokratischen Staaten oftmals ganz unterschiedlich gestaltet (z.B. parlamentarische Kontrollrechte; Entscheidungsbefugnisse über Kriegserklärungen; Funktionen eines Ombudsmannes, Wehrbeauftragten oder Volksanwalts) und innerhalb des jeweiligen politischen Systems und Rechtssystems in unterschiedlicher Weise verankert.

Demokratie und Wehr- bzw. Militärsystem

Jeder, der über das Wehr- und Militärsystem eines Gemeinwesens nachdenkt, muss zunächst die Grundkonzeptionen und Ideen des politischen Systems und die vorherrschenden gesellschaftlichen Grundüberzeugungen in den Blick nehmen. Die enorme Bandbreite von Demokratieverständnissen, die unseren modernen Gesellschaften zugrunde liegen, führt dazu, dass die Antwort auf die Frage, welches konkrete Wehr- und Militärsystem nun am besten einem demokratischen Politik- und Staatsverständnis entspreche, völlig unterschiedlich ausfallen kann. Abweichende Antworten und unterschiedliche Praktiken können durchweg als Ausdruck eines demokratisch-pluralistischen gesellschaftlichen Diskurses gewertet werden. Ein allgemeiner Vergleich der aktuell etablierten Wehr- und Militärsysteme in den demokratisch-pluralistischen Staaten der Welt lässt sehr rasch gravierende Unterschiede erkennen. Die Bandbreite reicht von straff organisierten Berufsheeren (z.B. USA, Großbritannien), die primär auf einen militärischen Einsatz irgendwo auf der Welt ausgerichtet sind, bis hin zu Wehrpflichtarmeen (z.B. Österreich, Schweiz), die strukturell gar nicht in der Lage sind, ausserhalb des eigenen Territoriums größere Kampfeinsätze zu führen.

Für die Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie und Wehrsystem kann die Unterscheidung zwischen etatistischer und sozial-liberaler Staatsauffassung hilfreich sein: Die Rolle des Bürgers im Hinblick auf die Aufgabe gemeinsamer Verteidigung lässt sich dann entweder als die eines wehrpflichtigen Untertanen oder eines wehrberechtigten Bürgers definieren. Je nach Grad der bürgerlichen Mitbestimmung ergibt sich daraus die konkrete Ausgestaltung des Wehrsystems. Entsprechend dem etatistischen Prinzip lenkt und formt der Staat die Gesellschaft durch Gesetze (Interventionismus), nimmt den Bürger gleichsam in seine Pflicht. Auf der Grundlage einer sozial-liberalen Staatsauffassung erscheinen Staat und Gesellschaft als funktional einander zugeordnet und dem Bürger wird lediglich ein Recht zur Verteidigung zugesprochen.

In der öffentlichen Diskussion in den modernen westlich-demokratischen Gesellschaften wurde diese Thematik zumeist auf die Frage verkürzt, ob die Mitglieder der Gemeinschaft – im erweiterten Sinne männlichen wie weiblichen Geschlechts – zu einem Wehr- bzw. Militärdienst staatlich verpflichtet (d.h. gezwungen) werden sollen oder nicht. Die Antworten auf diese Frage fielen in den Staaten Europas sehr unterschiedlich aus. Während einige Länder an der Beibehaltung einer Wehrpflicht festhielten (z.B. die Schweiz und Österreich), entschieden sich zahlreiche andere demokratisch verfasste Gesellschaften für eine Aussetzung oder Abschaffung der traditionellen Wehrpflicht und die Umstellung der Streitkräfte auf eine Rekrutierung nach dem Prinzip der Freiwilligkeit (z.B. Deutschland, Schweden, Belgien, Niederlande und Frankreich).

Entscheidend für die Wahl eines bestimmten Wehr- bzw. Militärsystems in einer Demokratie sind letztlich die gesellschaftlichen Werthaltungen und politischen Grundüberzeugungen und Zielvorgaben des Gemeinwesens. Die wesentlichsten Kennzeichnen für die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens müssen dabei die eindeutige Vorrangstellung des Politischen vor jeglichem Militärischen und Kriegerischen und eine Orientierung am Prinzip des friedlichen Interessensausgleichs sein. Über das konkrete Wehrsystem hat das jeweilige Volk selbst zu entscheiden.

Grenzen und Herausforderungen

Das Primat der Politik sieht sich jedoch auch in demokratisch verfassten Staaten häufig herausgefordert. Zum Beispiel dann, wenn unterschiedliche politische oder soziale Interessen und Vorstellungen über Funktionen und Kompetenzen des Militärs verhandelt werden müssen. Vor allem die Aspekte der Kompetenzfestlegung sowie der Funktions- bzw. Kompetenzabgrenzung der Streitkräfte gegenüber anderen Institutionen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Betrachtet man die Frage, welche zivilen Autoritäten und Instanzen in welchen konkreten Situationen dazu befugt sind, militärische Hilfeleistungen bzw. Einsätze anzuordnen, fallen die Antworten in den modernen Demokratien oft sehr unterschiedlich aus. Selbst die strikte Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit, also zwischen Polizei und Militär, wird in den pluralistisch-demokratischen Staaten völlig unterschiedlich bewertet.

Während die Bundesrepublik Deutschland aus den Erfahrungen der Vergangenheit heraus über Jahrzehnte an einer strikten Trennung zwischen Militär und Polizei festhielt und einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren als grundsätzlich unzulässig erachtete, sahen andere Staaten sehr wohl diese Möglichkeit vor. Manche etablierten sogar polizeiliche Spezialeinheiten, die dem Verteidigungsministerium bzw. den Streitkräften unterstellt wurden (z.B. die italienischen Carabinieri).

Allgemein lässt sich in der jüngsten Vergangenheit beobachten, dass eine strikte Trennung von Militär und Polizei vor allem im Rahmen von demokratischen Reformen im Sicherheitsbereich (Security-Sector-Reform) in verschiedenen Ländern thematisiert wird. Gleichzeitig weichen Länder wie die Bundesrepublik ihr traditionelles Trennungspostulat schrittweise auf - auch wenn weiterhin strenge Restriktionen vorgesehen sind, um das Militär nicht zu einem Machtmittel im Inneren werden zu lassen. Beispielsweise urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 , dass der Einsatz der Streitkräfte und "militärischer Kampfmittel" im Innern zwar zulässig sei, allerdings ausschließlich in "ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes" und im Rahmen der engen Voraussetzungen des Grundgesetzes.

Auch konkurrierende Entscheidungs- und Handlungslogiken, z.B. durch Verflechtungen zwischen Politik, Militär und Wirtschaft ("militärisch-industrieller Komplex"), können für das Verhältnis von Demokratie und Militär problematisch sein. Das Primat der Politik sieht auch im Feld des militärischen Rüstungs- und Beschaffungswesens einen klaren Vorrang politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse vor, doch die politische Praxis (Lobbying) gibt gerade hier oftmals Anlass zu berechtigtem Zweifel. Eine Dominanz militärisch-industrieller Partikularinteressen in Gesellschaft und Politik wäre demokratiepolitisch genauso problematisch wie eine Militarisierung der Politik, da das Militärische den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen in beiden Fällen ein Stück weit entzogen wäre. Eine zentrale Aufgabe der Politik in pluralistisch-freiheitlichen Demokratien ist deshalb die Wahrung der Sphäre des Politischen sowie der Handlungs- und Entscheidungsfreiräume all ihrer Akteure - auch und gerade im Verhältnis moderner Demokratien zu ihrem Militär.

Quellen / Literatur

Croissant, Aurel/Kühn, David (2011): Militär und zivile Politik, München: Oldenbourg.

Gareis, Sven Bernhard/Klein, Paul (Hg.) (2004): Handbuch Militär und Sozialwissenschaften, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kant, Immanuel (1795 bzw. 1953): Zum ewigen Frieden, Stuttgart: Reclam.

Kernic, Franz (1997): Demokratie und Wehrsystem, Frankfurt/Main: Peter Lang.

Kernic, Franz (2003): Kritik der militärischen Gewalt, Frankfurt/Main: Peter Lang.

Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2005): Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2004): Die Wehrpflicht und ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur aktuellen Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Franz Kernic für bpb.de

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Dr. habil. Franz Kernic ist seit 2008 Professor für Soziologie an der Schwedischen Verteidigungsuniversität (SEDU), beurlaubt, und seit 2013 Dozent für Führung und Kommunikation an der MILAK an der ETH Zürich. Prof. Kernic war 2009 Gastprofessor an der University of Minnesota (USA), 2005 sowie 2007 - 08 an der Carleton University (Kanada) und 2004 an der Katholischen Universität in Santiago de Chile. Habilitationen an der Universität Innsbruck (2001) und an der Universität der Bundeswehr München (2004). Promotion an der Universität Wien (1987).