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Sprache und Sprachgebrauch in der DDR | Sprache und Politik | bpb.de

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Sprache und Sprachgebrauch in der DDR Blaue Fliesen als sozialistische Errungenschaft der Planwirtschaft

Birgit Wolf-Bleiß

/ 13 Minuten zu lesen

Plandiskussion, Mumienexpress, Erichs Krönung: In der DDR trat neben staatlich propagierte Wortschöpfungen ein kritisch witziger Alltagswortschatz. In ihm spiegelt sich die Kluft zwischen gesellschaftlicher Realität und offizieller Sprachregelung.

1. Einleitung



Die Veränderungen, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR nach der politischen Wende im Herbst 1989 in einem enormen Tempo vollzogen haben, betrafen auch die Sprache. Es fand ein Sprachwandel statt, der in der Lexik (Wortschatz) besonders gut zu beobachten war. Um ihn zu erfassen oder gar zu beschreiben, braucht es aber mehr als nur die schlichte Kenntnis von Wortbedeutungen. Es bedarf vor allem eines soziokulturellen Hintergrundwissens über gesellschaftliche Mechanismen, die Sprache und Sprachgebrauch in der DDR beeinflussten. Dieses resultiert aus der Kenntnis der jeweiligen kulturellen, sozialen und historischen Situation, in der das Wort mit seiner spezifischen Bedeutung benutzt wird. Es verleiht dem Wort mithin eine spezielle soziokulturelle Prägung, die für außerhalb der Sprachgemeinschaft Stehende nicht leicht zu durchschauen ist , aber eine relativ verlässliche Aussage über den tatsächlichen Sprachgebrauch in der DDR ermöglicht.

2. Deutsch bleibt Deutsch oder doch ein spezifisch gewachsener DDR-Wortschatz?



Am deutlichsten sichtbar werden sprachliche Veränderungen auf dem Gebiet der Lexik – also im Wortschatz einer Sprache selbst. Untersuchungen in diesem Bereich geben eine relativ gute Auskunft über den Sprachzustand und den lexikalischen Wandel einer Sprache innerhalb eines bestimmten Zeitraums – hier von 1950 bis 1989 – unter konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. Neue sprachliche Entwicklungstendenzen zeigten sich unter anderem im Auftreten von DDR-spezifischen Lexemen (Wörtern), die zum ersten Mal im sechsbändigen "Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (WdG) festgehalten wurden. Selbstverständlich beruhte 1952 die Konzeption des WdG noch auf einer Wortschatzbeschreibung für das gesamte Deutschland. Dennoch: Die Existenz zweier deutscher Staaten brachte schon bald einen unterschiedlichen Sprachgebrauch mit sich und die Wörter blieben "auf Grund der verschiedenartigen gesellschaftlich-politischen Struktur beider Staaten auf den einen oder anderen Teil beschränkt, waren also dort jeweils nicht sprachüblich" (WdG, Bd. 1, 015). Daher bekamen diese neuen Lexeme oder Redewendungen den Zusatz /DDR/ oder /BRD/ und wurden in die Kategorien Neuwort , Neuprägung und Neubedeutung unterteilt. An den so beschriebenen Wörtern ließ sich die unterschiedliche sprachliche Entwicklung des Wortschatzes für die ersten Jahrzehnte gut erkennen. Neuwörter wie Dispatcher oder Kombine gehörten genauso zum sprachlichen Alltag der DDR-Bürger wie die typischen DDR-Neuprägungen volkseigen, Held der Arbeit, Kulturhaus, Plandiskussion, Wohnraumlenkung und die auffallend vielen Komposita (Wortzusammensetzungen) mit Arbeiter- oder Partei-. Wörter wie Aktivist, Werktätiger, Patenschaft, Wohnbezirk bekamen zudem noch eine zweite neue Bedeutung. Dem gegenüber standen typische Lexeme, die in der Bundesrepublik sprachüblich waren, wie Nylon (Neuwort BRD) oder ausgründen, Wirtschaftswunder, Wohlstandsbürger und Komposita mit Bundes- oder Parlaments- (Neuprägung BRD).

So wie staatliche Stellen in der DDR die offizielle Sprache beeinflussten, so griffen sie auch unmittelbar in die Arbeit der Lexikographen ein, sodass 1970 die Konzeption des WdG geändert werden musste. Man wollte "durch fragwürdige lexikographische Mittel die These stützen, in der DDR werde – nach damals nur zwanzigjähriger politischer Sonderentwicklung – nicht mehr das gemeinsame Deutsch, sondern eine von der Bundesrepublik schon wesentlich verschiedene Sprachvariante gesprochen (und nicht nur im 'Neuen Deutschland´ geschrieben)." (Schmidt 1992, 27) In der Vorbemerkung zu Band 4 des WdG hieß es deshalb: "Für den Lexikographen werden die sprachlichen Divergenzen zwischen der DDR und der BRD vor allem in der Veränderung der Bedeutungen, im Aufkommen neuer Wörter und im Zurückgehen alter Bildungen fassbar." (WdG, Bd.4, I) Die Bedeutungsdifferenzierungen ergeben "sich aus einer Veränderung der den Bedeutungen zugrundeliegenden Begriffe einschließlich deren Wertung ..." (ebenda, I).

Worin bestand nun aber das DDR-typische der sprachlichen Einheiten und gab es auch eine Differenzierung auf der grammatischen und syntaktischen Ebene? Alle dahingehenden Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass es einige Abweichungen oder Auffälligkeiten gab, aber keine andere Grammatik oder Syntax. Auffallend ist der im öffentlichen Sprachgebrauch der Medien dominante Nominalstil in Form von vielen Substantivierungen und aneinandergereihten Genitivketten. Dieser Stil ist auf russisches Vorbild zurückzuführen und steht für die Übernahme des russischen Strukturmodells in diesem Bereich der Syntax . Ein Beispiel für gängiges Zeitungsdeutsch in der DDR: "Hannelore P. ...Elektrikerin in der Volkswerft Stralsund, Mitglied der Kreisleitung Stralsund der SED, Mitglied der Zentralen FDJ-Leitung der Werft, Bezirkstagsabgeordnete, Trägerin der Artur-Becker-Medaille in Bronze und Gold, Mitglied eines Kollektivs der DSF."

Auch der Einfluss des Russischen auf den Wortschatz war nicht unerheblich, aber: "Direkte Entlehnungen, bei denen das Formativ und damit die fremde phonetische, grafische und morphologische Gestalt übernommen wurden, sind im Wortschatz der DDR äußerst selten zu finden." (Hartinger 2007, 27) Beispiele dafür waren Sputnik, Natschalnik und Subbotnik. Häufiger waren da schon die indirekten Entlehnungen wie Lehnübersetzungen (Fünfjahrplan, Wandzeitung, Haus des Volkes), Lehnübertragungen (Pionierleiter, Maschinen-Ausleih-Station), Bedeutungsentlehnungen (Aktiv, Kollektiv) oder Hybridbildungen (Jugendbrigade, Kollektivprämie), die aus einheimischem und fremden Wortmaterial zusammengesetzt waren. Der Fokus richtet sich demzufolge auf den Bereich der Lexik und nicht den der Grammatik und Syntax.

3. Jugendobjekt und Mumienexpress – Darstellung des spezifischen DDR-Wortschatzes



Der DDR-Wortschatz zeichnete sich durch eine Polarisierung des Sprachgebrauchs aus. Es existierte eine – nicht immer strikte – Trennung zwischen dem offiziellen und privaten Sprachregister. "Dieses code-switching zwischen Alltagssprache und offiziellem Sprachgebrauch gilt inzwischen ebenso wie die Veränderungen im Wortschatz als typisches Merkmal der Sprachsituation in der DDR."

Berlin, September 1978: Egon Krenz zeichnet die Kosmonauten Sigmund Jähn und Waleri Bykowski mit der Ehrenmitgliedschaft in der FDJ aus (© Bundesarchiv, Bild 183-T0922-132 / Fotograf: Hubert Link)

3.1 Offiziell geprägter und propagierter Wortschatz

Neben der Alltagssprache existierte eine von Partei und Medien propagierte Sprache. Diese prägte weitgehend die offizielle und institutionelle Kommunikation und wurde insbesondere von den Vertretern der Partei- und Staatsmacht eingeführt und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens kontrolliert. Die sprachliche Entwicklung der sogenannten allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit wurde demnach bewusst gesteuert. Entgegen tritt uns dieser Sprachgebrauch überwiegend in den Leitartikeln der Zeitungen, Kommentaren der Parteiorgane, den Parteidokumenten des Politbüros der SED. Er ist wegen seiner schriftlichen Form sprachwissenschaftlich gut zu analysieren. Zu dem von offizieller Seite geprägten und propagierten Wortschatz gehörten:


  1. neue Lexeme und Wortgruppenlexeme wie Neuerer, Dienstleistungskombinat, Dispensairebetreuung, Kinderkombination (kurz Kiko), Betriebskollektivvertrag, Personenkennzahl, gesellschaftliche Gerichte, öffentlicher Tadel, Kommunale Wohnungswirtschaft, mit denen Gegenstände oder gesellschaftliche Vorgänge bezeichnet wurden. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein Wort/eine Wortgruppe und mithin das Denotat (Sache, Gegenstand) "auf der jeweils anderen Seite bekannt ...und gelegentlich gebraucht [wurden]" , da sie nur sprachtypisch für die Kommunikationsgemeinschaft DDR waren.

  2. Neubenennungen, die aus politisch-ideologischen und wertenden Gründen geprägt wurden, um bereits vorhandene Benennungen zu ersetzen. In diese Gruppe gehörten DDR-Prägungen wie Sekundärrohstoffe für Altstoffe, Dreiraumwohnung für meist nur eine 2 1/2-Zimmer-Wohnung, Feierabendheim für Seniorenheim, Bürger im höheren Lebensalter für Rentner. Diese Lexeme hatten in Ost und West eine (fast) gleiche Bedeutung, aber die damit verbundene Nebenbedeutung (Konnotation) war eine andere. Manchmal bekamen die Wörter auch eine neue Bedeutung, wie es bei dem Lexem Dokument der Fall war. Dokument sollte das Wort Pass ersetzen. Ob Neubenennung oder Neubedeutung, die neu geschaffenen Lexeme sollten bei den Sprachteilnehmern eine positive Wertung auslösen. Bei dem Lexem Dokument und dem Syntagma Bürger im höheren Lebensalter ist es nach meinen Recherchen nicht gelungen, den gewünschten offiziellen Sprachgebrauch auf die Alltagssprache zu übertragen, bei den drei anderen schon. Des Weiteren gehörten in diese Gruppe DDR-Eigenprägungen, mit dem Ziel, vorhandene Westbenennungen nicht verwenden zu müssen wie zum Beispiel Schallplattenunterhalter (kurz SPU), Stadtbilderklärer oder Zellstofftaschentuch sowie DDR-Prägungen mit dem Ziel einer (vermeintlichen) Verwissenschaftlichung, z. B. Facharbeiter für Be- und Verarbeitung von Körner- und Hülsenfrüchten, Gliedermaßstab. Wörter wie Erntekapitän oder Schlenki waren angeblich vom Volk erfunden, aber eigentlich von offizieller Seite geprägt.

  3. Neubedeutungen für DDR-spezifische Sachverhalte, mit denen sprachliche Benennungslücken geschlossen werden sollten. Bei bestimmten Wörtern entwickelte sich eine DDR-spezifische Bedeutung, die neben die alte trat. Dies war zum Beispiel bei den Lexemen Patenschaft, Bürgschaft oder Pionier der Fall. Die Formative existierten in beiden deutschen Kommunikationsgemeinschaften, Bedeutungen und/oder Konnotationen waren jedoch unterschiedlich. Die neue Bedeutung erschloss sich meist nur, wenn man über ein DDR-geprägtes gesellschaftliches Hintergrundwissen verfügte.

  4. DDR-spezifische Wörter, neben denen eine bundesdeutsche Synonymvariante existierte, z. B. Kaderleiter vs. Personalleiter, Polylux vs. Overheadprojektor, Kaufhalle vs. Supermarkt, Werktätiger vs. Arbeitnehmer, Kosmonaut vs. Astronaut, DNS vs. DNA. Die DDR-spezifische Bedeutung wurde vom DDR-Alltag bestimmt. Nach dem Mauerfall hat die bundesdeutsche Variante die DDR-typischen Synonyme zum größten Teil verdrängt.

  5. Nicht vordergründig politisch-ideologisch, aber sehr frequentierte Lexeme. Es handelte sich um Lexeme, die in der DDR fast gebetsmühlenartig gebraucht wurden, z. B. allseitig, sozialistisch, Planvorgaben, komplex, operativ, Bruderpartei. Ebenso gehören hierhin Lexemverbindungen wie immer + Komparativ oder noch + Komparativ, mit denen von offizieller Seite ein hohes Maß an schon Erreichtem konstatiert wurde, was gleichzeitig mit dem Aufruf verbunden war, auf diesem Niveau nicht stehen zu bleiben. Dieses in den Medien und von den SED-Funktionären ständig wiederholte sprachliche Muster, mit dem die DDR-Bevölkerung aufgefordert wurde, ihr Handeln zum Wohle des ganzen Volkes ständig zu erhöhen, brachte wegen der an sich schon unsinnigen und gar nicht mehr steigerungsfähigen Forderungen (immer optimalere Planerfüllung, immer planmäßigere Steigerung der Arbeitsproduktivität, immer schnellere Erfolge auf dem Dienstleistungssektor) nicht den gewünschten Motivationserfolg. Nach dem gleichen Muster fungierte auch das Muster noch + Komparativ, das ebenfalls zum aktiven Handeln im Sinne der SED auffordern sollte. Beispiele wie noch lückenlosere Erfolge auf dem Sektor des Bauwesens oder durch den Einsatz neuer Schlüsseltechnologien werden wir noch besser produzieren waren aber wenig glaubhaft und die ständige Wiederholung solcher Appelle führte eher dazu, dass die Bevölkerung sie gar nicht mehr wahrnahm.

  6. Offizielle Benennungen, die Eingang in die DDR-Alltagskommunikation fanden. Eine Vielzahl von neuen Benennungen fand ihren Weg in die Alltagskommunikation. Diese Lexeme wurden von den Kommunikationsteilnehmern ohne inneren Widerstand und ohne negative Konnotation benutzt, denn man referierte auf DDR-relevante Sachverhalte, für die nur offiziell propagierte Benennungen existierten: Ehekredit, Abschnittsbevollmächtigter (ABV), sozialpolitische Maßnahmen, Elternaktiv. Nachweisen kann man das u. a. an dem 1984 erschienenen zweibändigen "Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache" (HdG). Es hatte sich die Aufgabe gestellt, den Wortschatz der letzten 30 Jahre darzustellen (etwa von 1952 bis 1984) und beschrieb "das gegenwärtige Deutsch, den heute sprachüblichen Bereich des Wortschatzes." Im Hinblick auf die kommunikative Spezifik des DDR-Wortschatzes versuchte es, sich stärker als das WdG zu profilieren.



Es wies den ideologiegebundenen Wortschatz – zu dem in erster Linie Lexeme zählten, die den ideologisch-philosophischen, den gesellschaftlich-politischen oder den politisch-ökonomischen Bereich angehörten, klar aus und beschrieb ihn vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus. Dieser Wortschatz beeinflusste die Kommunikation auch in der Alltagssprache und wurde demzufolge mit seinen vielfältigen Nuancen beschrieben. Das HdG präsentierte den Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache also aus der Sicht und daher legitimerweise mit den Wertungen einer spezifischen Kommmunikationsgemeinschaft DDR, was aber nicht hieß, dass das Wörterbuch eine Art Kompendium der DDR-Lexik war. Beschrieben wurden die darstellbaren Unterschiede der in der DDR oder der BRD gebräuchlichen Lexeme, so dass sich "für den Benutzer deutlich die Zugehörigkeit des Denotats zu sozialistischen oder kapitalistischen Verhältnissen, zum Gesellschaftsgefüge der DDR oder der BRD bzw. der deutschsprachigen kapitalistischen Staaten" ergab. Beispielsweise wurden deshalb die Lexeme Entwicklungshelfer und Hausbesetzung mit dem Zusatz /in der BRD/ gekennzeichnet, das Lexem Hausbuch dagegen bekam den Zusatz /in der DDR/, da man es für DDR-typisch hielt. Bei vielen anderen DDR-typischen Lexemen fehlte dieser Zusatz, da sowohl Lexikographen als auch die Wörterbuchnutzer diese Lexeme als sprachüblich empfanden. Beispiele für ungekennzeichnete Lexeme sind u. a. Brigade, Broiler, Kollektiv, Kollektivbewusstsein, Kollektiverziehung, Patenbetrieb, Pionierauftrag. Wenn man also DDR-typische Lexeme im HdG sucht, muss man über soziokulturelles Hintergrundwissen verfügen, um auch die nicht gekennzeichneten, von der Kommunikationsgemeinschaft als akzeptiert geltenden, DDR-Wörter erfassen zu können.

    3.2 Der nicht-offizielle, meist nur mündlich wiedergegebene Wortschatz

Parallel zum offiziellen Sprachgebrauch bildete sich als Gegenpart eine nicht-offizielle Sprache heraus, aus der in Folge der politischen Ereignisse ein wahrhaft oppositioneller Diskurs in vielfältigen Erscheinungsformen entstand. Die Herausbildung einer "anderen" Sprache in der DDR ist darauf zurückzuführen, dass vor allem in den letzten Jahren die Kluft zwischen der gesellschaftlichen Realität und deren Versprachlichung in der offiziellen und institutionellen Kommunikation immer größer wurde. Aus der Ablehnung dieser sprachlichen Darstellung der Realität, die von der Bevölkerung des Landes ganz anderes erfahren wurde, und aus sich in diesem Zusammenhang herausbildenden 'sprachlichen Selbstverteidigungsmechanismen', entstand der Gegenpol zum offiziell propagierten Sprachgebrauch. Die DDR-Bevölkerung entwickelte ihren eigenen kritischen, witzig-sarkastischen Alltagswortschatz, durch den sie sich, mehr oder weniger bewusst, vom offiziellen Sprachgebrauch abgrenzen konnte. Der eigene Sprecherstandpunkt und Wertungen wurden durch die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel ausgedrückt, die sich wie folgt beschreiben lassen:

  1. Neue Lexeme bzw. neue Bedeutungen, besonders in Tabubereichen, die Benennungslücken schlossen. Dazu gehören u. a. Lexeme wie blaue Fliesen, Mumienexpress, falten gehen oder Tal der Ahnungslosen. Es gab aber auch Lexeme, die ihren Ursprung im nicht offiziellen Sprachgebrauch hatten und über die Verbreitung der Medien Eingang in die offizielle Sprache fanden, wie Babyjahr oder endversorgt.

  2. Parallelbenennungen zu bestimmten (offiziell propagierten) Benennungen, z. B. Mauer statt antifaschistischer Schutzwall, Rotlichtbestrahlung statt Parteiversammlung, umrubeln statt Geld umtauschen, rabotten statt arbeiten.

  3. Von der Bevölkerung geprägte Benennungen, die vorwiegend mündlich wiedergegeben wurden, z. B. die vielen Synonyme für das Ministerium für Staatssicherheit (langer Arm, Firma, Stasi, Horch und Guck ...) oder für den Trabant (Trabbi, Rennpappe, Asphaltblase, Karton de Blamage, Leukoplastbomber ...) oder Wörter wie Arbeiter- und Bauernschließfächer, Wohnklo mit Kochnische, Erichs Krönung und Kaderwelsch. Alle diese Wörter waren treffend, witzig und zeugten vom unerschöpflichen sprachlichen Einfallsreichtum der DDR-Bürger.

4. DDR-Wortschatz – nur noch Geschichte?



Zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit stellt sich die Frage, ob überhaupt etwas blieb von diesem speziellen Sprachgebrauch. Der DDR-Wortschatz unterliegt, genauso wie der übrige deutsche Wortschatz, einem Archaisierungsprozess, der ausgelöst wird durch die Verringerung des kommunikativen Bedarfs. Lexeme mit hoher Gebrauchsfrequenz für das Kommunikationsgebiet DDR (Thälmannpionier, Nomenklaturkader, LPG, Straße der Besten, Delikat, Intershop) werden zu Archaismen da sie nicht mehr der Gebrauchsnorm entsprechen oder ihre Denotate weggefallen sind; dies betrifft besonders den ideologisch-philosophischen, den gesellschaftlich-politischen oder den politisch-ökonomischen Bereich. Bei diesen Lexemen ist der Prozess des Veraltens besonders schnell fortgeschritten, sie gelten schon jetzt als veraltet und werden wahrscheinlich bald ganz aus dem Sprachgebrauch verschwinden. Bei Parallelbenennungen für die (fast) gleichen Denotate, wie Kollektiv vs. Team, Plaste vs. Plastik, Dreiraumwohnung vs. 3-Zimmer-Wohnung, erschließt sich die vorhandene konnotative Bedeutung der genannten Lexempaare oft nur noch über ein bestimmtes soziokulturelles Hintergrundwissen, denn das umfasst erst die kommunikativen Rahmenbedingungen eines Lexems. Das Vorhandensein dieses Wissens kann einerseits "die Ausprägung von Konnotationen bedingen ..., andererseits [können] Konnotationen auf soziokulturelles Hintergrundwissen verweisen."

Der übrige durch die Alltagskommunikation beeinflusste DDR-Wortschatz bleibt solange im kommunikativen Gebrauch, solange noch eine Generation vorhanden ist, die diesen DDR-spezifischen Wortschatz kennt, versteht, auch (aktiv) benutzt; man spricht hier vom veraltenden Wortschatz. Der Archaisierungsprozess geht langsam vor sich, einige Lexik überlebt und wird in den gesamtdeutschen Wortschatz aufgenommen (Grüner Pfeil) oder von einem Teil der Sprachteilnehmer weiterhin benutzt (Kaufhalle, Plast(e), Polylux). Natürlich erkennt man einen Ostdeutschen daran, dass er in der Kaufhalle statt dem Supermarkt einkauft und dort eine Plast(e)tüte und keine Plastiktüte verlangt. Man sollte ihn oder sie deshalb nicht in die Schublade 'ehemaliger DDR-Bürger' einordnen. Diskriminierung erfolgt auch manchmal über das Wort. Aber: " ... Hinter dem Wort steht das 'Ich', der Mensch. Erst wenn der Mensch geht, geht auch das Wort – oder anders gewendet: Greift man die Worte an, dann bleibt das nur scheinbar oberflächlich, es verletzt!"

In einer demokratischen Gesellschaft sollte das nicht vorkommen, denn eine Sprache lebt durch ihre Sprecher, die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist und die sich nichts vorschreiben oder von irgendjemandem zwangsweise verordnen lassen. Solche Indoktrinationen waren schon immer zum Scheitern verurteilt, wie man an der Herausbildung einer nicht offiziellen Sprache in der DDR gut zeigen kann. Man kannte zwar die offiziellen Verlautbarungen, konnte aber zwischen offiziell und nichtoffiziell switchen. Das nicht offizielle Wort für einen vom DDR-System hundertprozentig überzeugten Bürger war rote Socke, der Interzonenzug hieß Mumienexpress und seinen Ehrendienst ableisten hieß schlicht bei der Fahne sein. Welche sprachliche Kreativität steckt hinter der Prägung des Wortes Bück- oder Bück-dich-Ware und wem war es kein innerer Parteitag, wenn man Partei- und Staatsführung wieder mal, wenn auch nur mit sprachlichen Mitteln, ausgetrickst hatte. Mögen ehemalige DDR-Bürger etwas von ihrer sprachlichen Kreativität in die neue Realität einbringen und nicht nur einfach rübergemacht sein.

Sekundärliteratur


Fix, Ulla (1996): Rituelle Kommunikation im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR und ihre Begleitumstände: Möglichkeiten und Grenzen der selbstbestimmten und mitbestimmten Kommunikation in der DDR. In: Lerchner, Gotthard (Hrsg.): Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende.2., durchgesehene Aufl., Frankfurt am Main u. a., S. 3-99.

Fix, Ulla/Barth, Dagmar (2000): Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR. Inhalte und Analysen narrativ-diskursiver Interviews. Frankfurt am Main.

Fleischer, Wolfgang (1988): Wortschatz der deutschen Sprache der DDR: Fragen seines Aufbaus und seiner Verwendungsweise. Leipzig.

Hartinger, Anne-Katrin (2007): "... geschlossen im Klassenverband". DDR-typische Lexik in der Nachwende-Literatur. In: Kühn, Ingrid (Hrsg.): Wittenberger Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur. Bd. 5. Frankfurt/Main.

Hartung, Diana (1995): Zur semantiktheoretischen Beschreibung soziokulturellen Hintergrundwissens. In: Pohl, Inge/Ehrhardt, Horst (Hrsg.): Wort und Wortschatz. Beiträge zur Lexikologie. Tübingen, S. 77-85.

Hellmann, Manfred (1980): Deutsche Sprache in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. In: Althaus, Hans-Peter/Henne, Helmut/Wiegand, herbert Ernst (Hrsg.): Lexikon der Germanistischen Linguistik. Bearb. u. erw. Aufl. Tübingen, S. 519-527.

Schmidt, Hartmut (1992): Sprachhistorische Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein Rückblick. In: Roloff, Hans-Gerd (Hrsg.): Jahrbuch für Internationale Germanistik 14/2. Bern/Berlin/Frankfurt a.M., S. 8-31.

Solms, Hans-Joachim (2001): Martin Luther und die deutsche Sprache. In: Kühn, Ingrid (Hrsg.): Ost-West-Sprachgebrauch – zehn Jahre nach der Wende. Opladen, S. 35–49).


Wörterbücher

HdG (1984): Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. von einem Autorenkollektiv unter d. Leit. von Günter Kempcke. 2 Bdn., Berlin.

Schröder, Marianne/Fix, Ulla (1997): Allgemeinwortschatz der DDR-Bürger – nach Sachgruppen geordnet und linguistisch kommentiert. Heidelberg.

WdG (1961-1977): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. von R. Klappenbach und W. Steinitz. 6 Bde., Berlin 1978.

Wolf, Birgit (2000): Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin

Fussnoten

Fußnoten

  1. vgl. Hartung 1995, 78

  2. Laut Definition des WdG sind das "Wörter, die in den letzten Jahrzehnten, besonders seit 1945 in der deutschen Sprache neu aufgekommen sind." (Vorwort, S. 014)

  3. Das WdG markiert mit dem Kennwort 'Neuprägung' die "Wörter und Redewendungen, die ...aus schon bestehenden Wörtern neu geschaffen" wurden. (ebenda, S. 014)

  4. Mit Neubedeutung werden schon existierende Wörter bezeichnet, die eine neue, zusätzliche Bedeutung angenommen haben. (vgl. ebenda, S. 014)

  5. zitiert aus: Ostseezeitung, 20.4.1976, Nr. 94, Seite 3.

  6. Lehnübersetzung, d. h. Wort-für-Wort-Übersetzung, in diesem Fall aus dem Russischen.

  7. Lehnübertragung, d. h. eine freie Bildung des Sprachmaterials nach dem fremden Vorbild.

  8. Hartinger 2007, 21

  9. Hellmann 1980, 523

  10. WdG 1984, Vorwort

  11. WdG 1984, XIV

  12. Hartung 1995, 78

  13. Solms 2001, 36f.

Dr. Birgit Wolf-Bleiß promovierte an der Akademie der Wissenschaften Berlin mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Semantik und Lexikographie. Sie arbeitet am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Lexikographie, Kognitive Linguistik sowie Sprachkultur und Sprachwandel. Im Jahr 2000 wurde ihr Buch "Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch" veröffentlicht.