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Vor 15 Jahren: Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 15 Jahren: Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater

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Am 23. Oktober 2002 wurde in Russland eine beliebte Musical-Inszenierung zum Ziel eines terroristischen Angriffs. 40 tschetschenische Kämpfer stürmten die Vorstellung "Nord-Ost" im Moskauer Dubrowka-Theater und nahmen mehr als 800 Zuschauer als Geiseln. Bei der Befreiungsaktion drei Tage später starben mindestens 130 Menschen.

Russische Elitesoldaten tragen nach Beendigung der Geiselnahme am 26.10.2002 durch das Gas betäubte Geiseln aus dem Moskauer Musical-Theater. (© dpa)

Im zweiten Akt, direkt nach der Pause, waren gerade die Tänzer auf die Bühne getreten, kostümiert in Fliegeruniformen. Da stürmte ein maskierter Mann auf die Bühne und schoss in die Luft. Einige Zuschauer hielten das für einen Teil der Inszenierung. Doch es war der Anfang einer Geiselnahme, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgte und den Fokus auf den zweiten Interner Link: Tschetschenienkrieg (1999-2009) lenkte. Einen Krieg, der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verschwunden war.

Von Seiten der russischen Behörden wurde der Krieg in Tschetschenien als "Anti-Terror-Regime" bezeichnet, eine Art innerer Kriegszustand, in dessen Folge die Sicherheitsorgane mit besonderen Vollmachten ausgestattet wurden. Jetzt schaute die Weltöffentlichkeit verstärkt auf den Krieg in der kaukasischen Republik, vor allem im Zusammenhang mit dem von den Vereinigten Staaten initiierten "Interner Link: War on Terror" ("Krieg gegen den Terrorismus").

Die Geiselnehmer forderten den sofortigen Abzug russischer Truppen aus Tschetschenien. Unter den Geiselnehmern waren auch schwarz gekleidete Frauen mit Sprengstoffgürteln – sogenannte Schachidinnen ("Märtyrerinnen"). Insgesamt 58 Stunden dauerte die Geiselnahme. Mit Klebeband wurden Bomben an den Sesseln des Theaters befestigt, auf der Bühne platzierten die Täter einen Sprengsatz, der allein ausgereicht hätte, um das Gebäude in die Luft zu sprengen.

Wie die Geiselnehmer es schafften unerkannt ihre Ausrüstung, bestehend aus 20 Pistolen, 18 Kalaschnikow-Gewehren, etwa 100 Granaten sowie über 100 Kilogramm Sprengstoff, nach Moskau zu schmuggeln ist bis heute ungeklärt. Die russischen Sicherheitsorgane erschienen durch die Tat in einem schlechten Licht. Nicht nur hatte der Geheimdienst FSB es offenbar versäumt, die massive Bewegung von gewaltbereiten Kämpfern zu beobachten und unterbinden zu lassen. Auch der Polizei waren die konkreten Vorbereitungen in Moskau entgangen.

Befreiungsaktion mit Folgen

Am 25. Oktober 2002, dem zweiten Tag der Geiselnahme, machten im Saal des Dubrowka-Theaters Gerüchte die Runde, der Kreml werde auf die Forderungen der Terroristen eingehen. Zeugen berichteten, dass die Schachidinnen daraufhin jubelnd durch die Reihen liefen. Tatsächlich setzten russische Sicherheitskräfte schon am frühen Morgen des 26. Oktober zur Räumung des Theaters an. Sie leiteten ein Betäubungsgas durch die Lüftungsschächte ein und stürmten den Saal. Sämtliche Geiselnehmer wurden von den angreifenden Spezialeinheiten noch im Theater getötet.

Die Bergung der Theatergäste erwies sich als schwierig, denn es gab nicht genügend Krankenwagen und Tragen. Einige Verletzte wurden auf dem Rücken liegend in Bussen abgesetzt, sodass ihre Köpfe nach hinten fielen und sie an ihrem eigenen Erbrochenen erstickten. Andere Berichte sprechen davon, dass die Ärzte nicht wussten, wie sie die Betäubten zu behandeln hatten, weil sie die Zusammensetzung des Gases nicht kannten. Von den 130 Zivilisten, die im Dubrowka-Theater starben, wiesen nur fünf Schusswunden auf.

Eine Geiselnahme mit Vorgeschichte

Es war nicht das erste Mal, dass tschetschenische Kämpfer versuchten, mit Guerilla-Aktionen gegen die russische Zivilbevölkerung politischen Druck auszuüben. Bereits während des ersten Tschetschenienkrieges, der von 1994 bis 1996 andauerte, hatte es eine folgenreiche Geiselnahme gegeben. Am 14. Juni 1995 stürmten tschetschenische Kämpfer ein Krankenhaus in der südrussischen Stadt Budjonnowsk und brachten dort über 1.000 Menschen in ihre Gewalt. Bei einer versuchten Befreiungsaktion wurden damals 120 Geiseln getötet.

Der damalige Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin vereinbarte mit den Kämpfern die Freilassung der noch lebenden Geiseln. Im Gegenzug stellte die russische Regierung erst einmal sämtliche Militäraktionen in Tschetschenien ein. Wochen später wurde ein – wenngleich brüchiger – Waffenstillstand unter der Schirmherrschaft der Interner Link: OSZE vereinbart.

Bis heute bleiben Fragen ungeklärt

Die Interner Link: Journalistin Anna Politkowskaja veröffentlichte sechs Monate später ein Interview mit einem Mann, der angab, einer der Geiselnehmer gewesen zu sein. Der Mann behauptete, dass die russischen Sicherheitsbehörden schon vorher von der geplanten Geiselnahme wussten. Ob das richtig ist, lässt sich heute nicht mehr herausfinden. Der angebliche tschetschenische Geiselnehmer starb bei einem Autounfall, und Anna Politkowskaja wurde 2006 ermordet.

Weiter ungeklärt ist auch, welche Zusammensetzung das Gas hatte, das in den Theatersaal eingeleitet wurde. Diese Information wird von der russischen Regierung als Staatsgeheimnis eingestuft.

Die Geiselnahme im Dubrowka-Theater blieb nicht die letzte. Am 1. September 2004 stürmten Tschetschenen in Beslan die "Mittelschule Nr. 1" und nahmen dort mehr als 1.100 Schüler, Lehrer und Eltern als Geiseln. Die Erstürmung des Gebäudes kostete mehr als 300 Menschen das Leben.

Erst 2009 wurde das sogenannte "Anti-Terror-Regime" in Tschetschenien aufgehoben. In der russischen Teilrepublik setzte Moskau mit Ramsan Kadyrow einen brutalen Herrscher zunächst als "Präsidenten" und später als "Oberhaupt" ein.

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Fussnoten

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