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Vor 75 Jahren: Das Massaker von Oradour-sur-Glane | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 75 Jahren: Das Massaker von Oradour-sur-Glane

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Am 10. Juni 1944 töteten Angehörige der SS-Division "Das Reich" im französischen Dorf Oradour-sur-Glane 642 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Die Mehrzahl der Täter wurde nie zur Verantwortung gezogen.

Der französische Ort Oradour-sur-Glane wurde nach dem Massaker an der Zivilbevölkerung weitgehend zerstört. Die Ruinen sind heute eine Mahn- und Gedenkstätte. (© picture-alliance, All Canada Photos)

In Deutschland ist das zentralfranzösische Dorf Oradour-sur-Glane vielen Menschen kein Begriff. In Frankreich dagegen kennt den Ort fast jeder: Hier verübten Soldaten der Waffen-SS am 10. Juni 1944 ein Massaker an der unbewaffneten Zivilbevölkerung. 642 Dorfbewohner wurden ermordet, unter ihnen 245 Frauen und 207 Kinder. Es war ein durch die Nationalsozialisten als "Vergeltungsaktion" bezeichneter Massenmord als Reaktion auf den wachsenden französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung.

Massaker in Tulle und Oradour-sur-Glane

Am 6. Juni 1944 waren alliierte Streitkräfte in der Normandie gelandet (Interner Link: D-Day). Die in Südwestfrankreich stationierte 2. SS-Panzer-Division "Das Reich" wurde deshalb nach Norden verlegt. Auf ihrem Weg zur Front begingen die SS-Männer mehrere Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung.

In der Stadt Tulle erhängten Mitglieder der Einheit am 9. Juni 1944 99 Zivilisten. Dort hatten sich in den Tagen zuvor Partisanen gegen die deutschen Besatzer zur Wehr gesetzt. Sowohl deutsche Soldaten als auch französische Widerstandskämpfer fielen in den Kämpfen. Der französische Widerstand erhoffte sich nach dem D-Day eine landesweite Signalwirkung von den Guerilla-Aktionen gegen die Deutschen. Die deutschen Besatzer antworteten mit brutaler Gewalt.

Einen Tag später erreichte die SS-Division den Ort Oradour-sur-Glane. Der Offizier Adolf Diekmann ließ die Bewohner auf dem Marktplatz zusammentreiben. Die Männer wurden in fünf Gruppen unterteilt und in Scheunen eingesperrt. Dort eröffneten SS-Angehörige das Feuer auf sie, danach wurden die Scheunen in Brand gesetzt. Frauen und Kinder wurden in die Dorfkirche gesperrt. Die Soldaten zündeten eine Rauchbombe am Altar. Als einige der Eingeschlossenen versuchten, sich vor dem beißenden Qualm in Sicherheit zu bringen, wurden sie erschossen. Anschließend wurde das Kirchengebäude in Brand gesteckt.

Nur wenige Einwohner von Oradour überlebten. Nach dem Massaker plünderten die SS-Soldaten die Wohnhäuser und steckten das Dorf in Brand. Die Überreste des alten Dorfes wurden nach dem Krieg als Mahnmal erhalten. Der Ort wurde in den 1950er-Jahren in direkter Nähe neu aufgebaut.

Unzureichende juristische Aufarbeitung

Kaum ein Verantwortlicher wurde für das Massaker in Oradour juristisch zur Verantwortung gezogen. Zu einem größeren Prozess kam es lediglich 1953 vor einem Militärgericht in Bordeaux, als 21 SS-Angehörige – sieben aus Deutschland und 14 aus dem Elsass – zu langjährigen Haftstrafen beziehungsweise zum Tode verurteilt wurden. Im Elsass sorgte das Urteil für einen Eklat, weil die SS dort junge Männer zwangsrekrutiert hatte. Deshalb wurden die elsässischen Täter von der französischen Nationalversammlung amnestiert. Auch die deutschen Täter wurden bis 1959 aus französischer Haft entlassen.

Adolf Diekmann, der die Mordaktion als Sturmbannführer befahl, starb am 29. Juni 1944 bei Kämpfen in der Normandie. Heinz Lammerding, der als Generalleutnant hauptverantwortlich für die Massaker der SS-Division "Das Reich" war und in dessen Verantwortungsbereich die Massaker in Tulle und Oradour fielen, tauchte nach dem Krieg bis 1958 unter. In Abwesenheit wurde er von einem französischen Gericht zum Tode verurteilt. Anschließend lieferte ihn Deutschland aber nicht an Frankreich aus. In Deutschland kam es zu keinem gerichtlichen Verfahren gegen Heinz Lammerding. Denn der zwischen Deutschland und den Westmächten geschlossene Überleitungsvertrag sah vor, dass Kriegsverbrecher, die bereits von den Alliierten verurteilt wurden, nicht mehr von einem deutschen Gericht belangt werden konnten. Heinz Lammerding arbeitete als Bauunternehmer in Düsseldorf und starb 1971.

Erst 1975 wurde ein Zusatzabkommen zum Überleitungsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich ratifiziert, das Ermittlungen der westdeutschen Justiz im Falle bereits bestehender französischer Urteile möglich machte. Die Vereinbarung wurde in den Medien als "Lex Klarsfeld" bezeichnet: Das deutsch-französische Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld hatte in den Jahren zuvor unermüdlich darauf hingewiesen, dass viele Kriegsverbrecher in Westdeutschland unbehelligt blieben. Tatsächlich machte das Zusatzabkommen neue Prozesse möglich, zum Beispiel gegen den Gestapo-Juristen Kurt Lischka. Für die Haupttäter von Oradour kam es jedoch zu spät.

Verurteilung in der DDR

In der DDR wurde ein Täter vor Gericht gestellt: SS-Obersturmführer Heinz Barth war am Massaker in Oradour beteiligt und wurde 1983 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er wurde 1997 wegen seines schlechten Gesundheitszustandes aus dem Gefängnis entlassen und starb 2007.

Zuletzt hatte die Staatsanwaltschaft Dortmund im Jahr 2014 Anklage gegen einen Mann erhoben, der an dem Massaker in Oradour beteiligt gewesen sein soll. Zu einen Prozess kam es nicht. Das Landgericht Köln hatte die Eröffnung eines Verfahrens mangels Beweismitteln abgelehnt.

Erinnerung in Frankreich und Deutschland

Im Jahr 1999 eröffnete der französische Staatspräsident Jacques Chirac eine neu gestaltete Mahn- und Gedenkstätte in Oradour. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt besuchte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck im Jahr 2013 die Mahn- und Gedenkstätte in Oradour. In seiner Rede sagte er: "Wenn ich heute in die Augen derer blicke, die von diesem Verbrechen gezeichnet sind, kann ich hier in Oradour sagen: Ich teile die Bitterkeit darüber, dass Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt blieben. Sie ist meine Bitterkeit."

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