Folgen der Arbeitslosigkeit
Die Wirkung der Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen wird in den ökonomischen Lehrbüchern überwiegend ausgeblendet. Ökonomen interessieren sich primär für die ökonomischen Ursachen, gesamtfiskalischen Kosten und makroökonomischen Folgen der Arbeitslosigkeit, weniger für ihre individuellen Folgen. Viele Zweige der Arbeitsmarktforschung befassen sich seit Jahrzehnten mit den Folgen für Menschen.Die individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Arbeitslosigkeit werden allerdings in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Forschungszweigen beleuchtet, auch wenn festzustellen ist, dass es auch hier noch viele Forschungslücken gibt. Die Mehrzahl der Studien kommt aus den Bereichen der gesundheitspsychologischen und sozialmedizinischen Forschung.
Mögliche individuelle Folgen der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit, sind u.a. psychologische und gesundheitliche Probleme, Entqualifizierung (Entwertung der bisher erlangten Qualifizierung), gesellschaftlich-kulturelle und soziale Isolation (Stigmatisierung), familiäre Spannungen und Konflikte, Schuldgefühle, Aggressivität und trotz Grundsicherung relativer Verarmung. Zwischen den meisten genannten Folgen besteht dabei ein sehr enger Zusammenhang.
Die Folgen von Arbeitslosigkeit beschränken sich nicht auf die Arbeitslosen selbst. Auch für nahe Angehörige kann Arbeitslosigkeit eine gravierende Beeinträchtigung von Wohlstand, Selbstachtung, sozialem Ansehen und Lebenschancen bedeuten. Selbst bei Beschäftigten werden Arbeitsvermögen, Leistung, Solidarität und Krankenstand beeinflußt.
Daneben ist Arbeitslosigkeit auch ein Problem für die gesamte Gesellschaft. Gesamtgesellschaftliche Folgen der Arbeitslosigkeit sind u.a. Verlust von Steuern und Sozialabgaben, hohe Kosten für Arbeitslosengeld I und II, Verlust der Kaufkraft des Einzelnen und damit Reduzierung der Binnennachfrage, Anstieg der Kriminalität, politische Instabilität sowie weitere Kosten zur Behebung bzw. Linderung der individuellen Folgen.
Im Folgenden werden kurz einige Forschungsergebnisse zu den individuellen Folgen der Arbeitslosigkeit vorgestellt. Anschließend werden Berechnungen des IAB zu den gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit präsentiert.
Die Arbeitslosen von Marienthal
Das Thema "Folgen der Arbeitslosigkeit" ist nach wie vor untrennbar mit einer der bekanntesten "klassischen" soziologischen Untersuchungen verknüpft, den "Arbeitslosen von Marienthal." In Folge der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 hatten fast alle Bewohner eines Dorfes in der Nähe von Wien durch den Konkurs des einzigen Industriebetriebes ihren Arbeitsplatz verloren. Eine Gruppe von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern führte vor Ort umfangreiche Erhebungen durch (siehe Jahoda / Lazarsfeld / Zeisel in Zum Weiterlesen). Der Forschungsbericht zählt nach wie vor zu den Klassikern der empirischen Sozialforschung. Er war zugleich die erste moderne empirische Untersuchung der psychosozialen Wirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit. Die zentralen Ergebnisse der Studie lauteten:Arbeitslosigkeit führt zu Mutlosigkeit und Hilflosigkeit und reduziert deshalb eine aktive Herangehensweise an Probleme. Das Nichtstun beherrschte den Tag, insbesondere unter den Männern. Armut war stark verbreitet. Der Gesundheitszustand der Kinder von arbeitslosen Eltern war im Durchschnitt deutlich schlechter, als der Gesundheitszustand der Kinder von Eltern, die noch Arbeit hatten. Der Rhythmus des Lebens wurde bestimmt vom 14-tägigen Auszahlungstermin der Arbeitslosenunterstützung. Die Forscher haben die arbeitslose Gemeinschaft daher als "müde Gemeinschaft" beschrieben.
Arbeitslosigkeit und Gesundheit
Die häufigsten Untersuchungen zu Folgen der Arbeitslosigkeit befassen sich mit der Thematik "Gesundheitliche Folgen von Arbeitslosigkeit". Dass Gesundheitsrisiken und Gesundheitsprobleme bei Arbeitslosen vermehrt auftreten, wird dabei durch zahlreiche nationale wie internationale Forschungsarbeiten belegt. Unklar bleibt dabei aber zunächst die Richtung des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Diesbezüglich gibt es zwei grundlegende Thesen: Arbeitslosigkeit führt zu erhöhtem Krankheitsrisiko (Kausalitätshypothese), Krankheit führt zu einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko (Selektionshypothese). Durch die Komplexität des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit lassen sich die jeweiligen Wirkungsrichtungen nur selten klar voneinander trennen. Es gibt aber viele Hinweise darauf, dass beide Thesen richtig sind: Einerseits dass die Wettbewerbschancen kranker Arbeitnehmer schlechter als die gesunder sind und sich damit das Risiko des Arbeitsplatzverlustes erhöht und andererseits dass anhaltende Arbeitslosigkeit den Gesundheitszustand verschlechtert.In einer jüngeren Studie (Lange/Lampert; siehe Zum Weiterlesen) gaben von kurzzeitarbeitslosen Männern jeder fünfte und von langzeitarbeitslosen Männern jeder Dritte an, dass Einschränkungen der Gesundheit mit ein Grund für die Arbeitslosigkeit sind. Bei den Frauen sind diese Anteile geringer (16 und 12 Prozent). Gleichzeitig gaben ein Fünftel der langzeitarbeitslosen Frauen und Männer an, ihr Gesundheitszustand habe sich während der Arbeitslosigkeit verschlechtert. Allerdings sehen 10 % ihre Gesundheit durch die Arbeitslosigkeit als verbessert an. Letzteres lässt darauf schließen, dass vorher gesundheitsbelastende Berufe ausgeübt wurden.
Von den in dieser Untersuchung erfassten Krankheiten kamen bei arbeitslosen Männern insbesondere chronische Bronchitis, Rückenschmerzen, Depression, Bluthochdruck und Schwindel häufiger vor, bei den Frauen verstärkt Asthma, Rückenschmerzen, Depression, Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte und Schwindel. Besonders häufig waren bei Frauen wie bei Männern die Nennungen für Depressionen.
i
Aktuelle Krankenkassendaten
- Arbeitslose Männer verbringen mehr als doppelt so viele Tage im Krankenhaus als berufstätige Männer
- Arbeitslose Frauen verbringen 1,7-mal so viele Tage im Krankenhaus wie berufstätige Frauen
- Die Sterblichkeit steigt kontinuierlich in Abhängigkeit von der vorausgehenden Arbeitslosigkeitsdauer
- Es wurden Hinweise darauf gefunden, dass Arbeitslosigkeit ursächliche Auswirkungen auf die Entwicklung schwerer Krankheiten hat.
Auch die Ergebnisse des Dritten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung von Mitte 2008 belegen, dass Arbeitslosigkeit und Gesundheit vielfältig miteinander verknüpft sind: Gesundheitlich eingeschränkte und erwerbsgeminderte Arbeitnehmer tragen ein höheres Risiko, entlassen zu werden, bleiben überdurchschnittlich lange arbeitslos und haben geringere Chancen der beruflichen Wiedereingliederung. Der Verlust des Arbeitsplatzes und fortdauernde Arbeitslosigkeit können gesundheitsbezogenes Verhalten negativ beeinflussen und die Verstärkung sowie Entstehung gesundheitlicher Probleme, sowohl psychosozialer als auch physischer Art bewirken.
Im Bereich der gesundheitlichen Folgen von Arbeitslosigkeit liegen nicht zuletzt in Deutschland auch deswegen vergleichsweise viele Informationen vor, weil es innerhalb der Bundesagentur für Arbeit einen Ärztlichen Dienst gibt.
Die Arbeitsvermittler und Berufsberater der Bundesagentur für Arbeit können diesen einschalten, um gesundheits- und leistungsbezogene Fragen für Arbeitsuchende u.a. zur Vermittlungsfähigkeit, zur Berufseignung oder zur Eignung von Maßnahmen zu klären. Im Jahr 2001 wurden für Arbeitslose 391.826 ärztliche Gutachten erstellt. Davon wurden 322.278 Gutachtenverfahren mit Krankheitsdiagnosen abgeschlossen. Die am häufigsten diagnostizierten Krankheiten waren "Krankheit des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes" sowie "Psychische und Verhaltensstörungen". Zusammen decken diese beiden Krankheitsarten zwei Drittel aller Erstdiagnosen ab.
Arbeitslosigkeit und Sucht
Auch in den Statistiken der Suchtkranken sind Arbeitslose überproportional häufig vertreten. Rund 40 % der Erwachsenen, die im Jahr 2001 eine Entwöhnungsbehandlung wegen Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten oder sonstigen Drogen beendet hatten, waren (nach Angaben des Verbands der deutschen Rentenversicherungsträger) vor der Antragstellung arbeitslos gemeldet. Nach den Aufzeichnungen der ambulanten Einrichtungen sind von den männlichen Alkoholklienten rund 27 Prozent arbeitslos gemeldet oder nicht erwerbstätig. Bei den Frauen beträgt dieser Anteil sogar 38 Prozent. Ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Quote von Alkoholkonsumenten konnte in der Arbeitslosenforschung bislang aber nicht festgestellt werden. Bei schon vorhandenen Konsummustern von Arbeitslosen wurde aber in einigen Studien eine Intensivierung der Alkoholaufnahme beobachtet. Aus Sicht der Suchtkrankenhilfe gilt Arbeitslosigkeit als eines der größten Probleme bei der (Re-)Integration vormals Alkohol- und Drogenabhängiger.Individuelle finanzielle Folgen
Arbeitslosigkeit ist mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden, vor allem für unqualifizierte Arbeitnehmer, deren geringes Einkommen es ihnen nicht erlaubte, Ersparnisse zu machen. Eine starke Akzentuierung der Armut mit der Dauer der Erwerbslosigkeit ist in allen Ländern der Europäischen Union zu beobachten.
In einer repräsentativen Untersuchung Anfang der 1980er Jahre gaben 31 % der befragten Arbeitslosen und 44 % der Langzeitarbeitslosen an, sehr große finanzielle Schwierigkeiten in Folge der Arbeitslosigkeit zu haben.
Arbeitslosigkeit ist auch der empirisch wichtigste Einzelüberschuldungsfaktor. Es handelt sich hier um ein kritisches Lebensereignis, das in vielen Fällen schwer vorhersehbar ist, weshalb sich der Haushalt hierauf nur schwer einstellen kann. Mit länger andauernder Arbeitslosigkeit steigt das Überschuldungsrisiko weiter an.
Die Armutsrisikoquote von Arbeitslosen ist laut dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit 43% mehr als dreimal so hoch wie die der Gesamtbevölkerung (13%).
Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit
Zu den gravierenden Wirkungen für die Betroffenen treten noch makroökonomische Kosten hinzu. So wird häufig betont, dass ein hoher Arbeitslosenstand den sozialen Frieden gefährde (steigende Armut und Kriminalität) und die Widerstände in der Bevölkerung gegenüber dem Strukturwandel (Risikoscheu und Ausländerfeindlichkeit) tendenziell erhöhe. Beides ist mit erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden.
Der Abbildung ist die Schätzung der Kosten der Arbeitslosigkeit im Jahr 2004 zu entnehmen. Allerdings sind viele Kostenfaktoren nicht inbegriffen, beispielsweise die Kosten für die aktive Arbeitsmarktpolitik, arbeitsmarktbedingte Frühverrentungen und soziale Hilfen und Dienstleistungen. Ferner sind schwer zu schätzende Folgekosten, die zum Beispiel durch Dequalifizierungsprozesse oder zunehmende gesundheitliche Gefährdung entstehen, nicht berücksichtigt. Die gesellschaftlichen Gesamtkosten der Arbeitslosigkeit werden daher in der Abbildung der gesamtfiskalischen Kosten unterzeichnet. Nach einer Faustformel entlasten 100.000 Arbeitslose weniger den Staat um 2 Mrd. Euro.
Links und PDF-Dokumente
- Ärztlicher Dienst der Bundesagentur für Arbeit
- Dritter Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung
Zum Weiterlesen
Bach, Hans-Uwe / Spitznagel, Eugen (2006): Unter der Oberfläche - Die wahren Kosten der Arbeitslosigkeit. In: IAB-Forum, Nr. 1, S. 48-52.Bach, Hans-Uwe / Spitznagel, Eugen (2003): Gesamtfiskalische Modellrechnungen: Was kostet uns die Arbeitslosigkeit? IAB Kurzbericht 10; Nürnberg. http://doku.iab.de/kurzber/2003/kb1003.pdf
Brinkmann, Christian (1984): Die individuellen Folgen langfristiger Arbeitslosigkeit. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung; Heft 4; S. 454-473.
Büchtemann, Christoph F.: Die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit als soziale Erfahrung. In: Politische Bildung, Jg. 2/1979, S. 38-74
Elkeles, T. (1999): Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit und Gesundheit, in: Sozialer Fortschritt 6, S. 150-155
Frese, Michael (1994): Psychische Folgen von Arbeitslosigkeit in den fünf neuen Bundesländern: Ergebnisse einer Längsschnittstudie. In: Montada, L. (Hrsg.): Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit; S. 193-231. Frankfurt.
Henkel, Dieter / Zemlin, Uwe (Hrsg.) (2008): Arbeitslosigkeit und Sucht. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Frankfurt am Main.
Hollederer, Alfons (2003). Arbeitslosigkeit und Alkohol: Für einen nüchternen Umgang mit Suchtkranken. IAB Materialien 1/2003.
Hollederer, Alfons (2003): Arbeitslos – Gesundheit los – chancenlos? IAB Kurzbericht Nr. 4; Nürnberg.
Jahoda, Marie (1983). Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Weinheim/Basel.
Jahoda, Marie / Lazarsfeld, Paul F. / Zeisel, Hans (1975): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie; Frank/Main.
Kates, N. / Greif, B. S. / Hagen, D. Q. (1990): The psychosocial impact of job loss. Washington.
Kieselbach, T. / Wacker, A. (Hrsg.). (1995): Bewältigung von Arbeitslosigkeit im sozialen Kontext. Programme, Initiativen, Evaluationen (2. Aufl.). Weinheim.
Klein, G. / Strasser, H. (Hrsg.). (1997). Schwer vermittelbar. Zur Theorie und Empirie der Langzeitarbeitslosigkeit. Opladen.
Lange, C. / Lampert, T. (2005): Die Gesundheit arbeitsloser Frauen und Männer. Erste Auswertungen des telefonischen Gesundheitssurveys 2003. In: Bundesgesundheitsblatt 11/2005; S. 1256-1264.
Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/forschungsprojekt-a333-dritter-armuts-und-reichtumsbericht.pdf?__blob=publicationFile.
Strittmatter, Franz Josef (1992): Langzeitarbeitslosigkeit im Wohlfahrtsstaat: zu ihren Auswirkungen auf soziale Systeme und den Verarbeitungsstilen der Betroffenen. (Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 157), Nürnberg.
Winefield, H. (1995): Unemployment: its psychological costs. In: Cooper. C. L. / Robertson, I.T. (Hrsg.): International Review of Industrial and Organizational Psychology (Vol. 10, S. 169-212. Chichester: Wiley.
Zempel, Jeannette / Bacher, Johann / Moser, Klaus (Hrsg.) (2001): Erwerbslosigkeit: Ursachen, Auswirkungen und Interventionen. (Psychologie sozialer Ungleichheit, 12), Opladen.