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Neue Alterskultur

Margaret Heckel

/ 8 Minuten zu lesen

Der demografische Wandel eröffnet Menschen über 50 neue Perspektiven. Sie leben länger als je zuvor und können nochmal etwas ganz Neues anfangen, auch beruflich. In den USA gibt es schon nahezu zehn Millionen Menschen, die in der Mitte des Lebens einen neuen Beruf erlernen und ausüben.

Neue Alterskultur (© Martin Brombacher )

2014 war das Jahr der 50. Geburtstage: Nie zuvor und vielleicht auch nie mehr danach werden so viele Männer und Frauen in Deutschland innerhalb eines Jahres diesen runden Geburtstag feiern. Sie sind der geburtenstärkste Jahrgang, den es hierzulande gab. Und sie haben im statistischen Schnitt noch sehr viele Geburtstage vor sich: 36 weitere für Frauen, 31,5 weitere für Männer.

Das ist beachtlich – und doch nichts im Vergleich zu ihren Kindern und Enkeln, die im 21. Jahrhundert geboren wurden und noch werden. Von denen wird mindestens jeder dritte, vielleicht sogar jeder zweite seinen 100. Geburtstag feiern. Darin liegen zahlreiche Herausforderungen, aber auch gewaltige Chancen. Vor allem brauchen wir ein neues Bild vom Altern. Zu viele Menschen glauben noch, dass es ab dem 50. Geburtstag abwärts geht. Mit dem Leben. Mit der Karriere. Mit der Gesundheit. Mit dem Glück.

Ab 50 sind wir glücklicher als in der Jugend

Das aber ist ein Trugschluss, wie einige neue Studien zeigen. Ganz im Gegenteil deuten sie daraufhin, dass viele Menschen ab 50 glücklicher und zufriedener werden. Die Glückskurve stellte sich als "U"-Form heraus, mit einem statistischen Tiefpunkt im Alter von 46. Auch die Lebenszufriedenheit ist im Alter noch weit höher als in der Phase der frühen Erwachsenenzeit.

Hinzu kommt der demografische Wandel. Für Menschen um die 50 eröffnen sich neue Perspektiven: Durch den sich in Zukunft kontinuierlich verschärfenden Facharbeitermangel werden sie auf dem Arbeitsmarkt immer gefragter. Wer als Firma attraktiv sein will, muss in Zukunft flexible Arbeitszeitmodelle anbieten, die dem einzelnen Arbeitnehmer weit mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten als früher einräumen.

Kein Bereich der Personalpolitik wird sich so stark ändern wie der Umgang mit älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Schon in wenigen Jahren wird es keine Frage mehr sein, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis weit ins sechste Lebensjahrzehnt geschult und fortgebildet werden. Altersgemischte Teams werden normaler sein.

In den Fabriken werden Arbeitsabläufe, Fließbänder und Maschinen so optimiert, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so körperschonend wie nie zuvor arbeiten können – egal, ob sie alt oder jung sind. Es wird noch immer Bereiche harter körperlicher Arbeit geben, doch die Unternehmen werden sie schon aus Eigeninteresse so weit wie nur irgend möglich reduzieren oder, wo dies nicht möglich ist, automatisieren.

Der immer wieder als Beispiel angeführte Dachdecker wird nach seinem 50. Geburtstag in andere Tätigkeiten hineinwachsen – egal, ob in die Büroarbeit, in die Beratung von Kunden oder die Ausbildung anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch wenn er nicht mehr auf dem Dach steht, wird er im Arbeitsleben bis an die Schwelle des 70. Geburtstages gebraucht werden.

Ältere werden gebraucht

Dieses "Gebraucht-Werden" beschreibt einen Paradigmenwechsel, dessen Bedeutung man kaum überschätzen kann. Er löst ein Vierteljahrhundert ab, in dem ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Politik, der Wirtschaft und den Medien oft als ersetzbar, nicht belastbar und verbraucht beschrieben wurden.

Noch gibt es nur wenige Unternehmen, die offensiv Angebote für ihre älter werdende Belegschaft machen. Noch seltener gibt es Vordenkerinnen und Vordenker, die ganz konsequent Schlüsse aus der heute weit längeren Lebensspanne des Menschen ziehen.

Eine davon ist Laura L. Carstensen, die Leiterin des Center on Longevity (Zentrum für langes Leben) der Stanford University in Kalifornien. "Wir sollten unsere Leben so planen, dass die Menschen mit 50 noch einmal aufbrechen. Sehen Sie es als ein "50:50-Modell", schreibt sie in ihrem Buch "Long, Bright Future". Die ersten 50 Jahre eigneten wir uns "eine Fülle an Wissen und sozialem Know-how an, um es die nächsten 50 Jahre an unsere Umgebung und die Gesellschaft zurückzugeben".

Wir brauchen eine "neue Landkarte des Lebens", meint die US-amerikanische Anthropologin Mary Catherine Bateson, die bis 2010 das Institut für interkulturelle Studien in New York geleitet hat und in Harvard und an der Georg-Mason-Universität unterrichtet hat. Die Landkarte zu füllen könnte analog zur Erfindung der Adoleszenz vor über hundert Jahren geschehen: Bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kinder als "Mini-Erwachsene" wahrgenommen. Sobald sie arbeiten konnten, waren sie keine Kinder mehr, sondern Erwachsene.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich mit den Jahren des Lernens und der Ausbildung etwas Neues in diese Abfolge schob: die Adoleszenz, eine Phase des Erwachsenwerdens, die gut eine Dekade umfassen konnte und heute auch umfasst.

Der britische Soziologe Peter Laslett hat schon 1989 vier Lebensphasen beschrieben: Als erste die der Kindheit und Jugend, danach das Erwachsensein und die berufliche Karriere und am Schluss das erneute Abhängigsein im hohen Alter und der kommende Tod. Dazwischen aber gebe es eine neue Phase zwischen dem Ende der elterlichen Pflichten sowie dem vermeintlichen Höhepunkt der beruflichen Karriere und dem Einsetzen der letzten Phase.

Laslett nennt diese neue Phase das "Dritte Alter". "Es ist eine Zeit, wo Individuen sich von den praktischen Notwendigkeiten der mittleren Jahre befreien können und noch Jahrzehnte vom hohen Alter entfernt sind. Es ist eine Gelegenheit für neue Entdeckungen, für Lernen und persönliches Wachstum, für vielleicht die wichtigsten Beiträge zu seinem eigenen Leben."

Eine "Gelegenheit für neue Entdeckungen, für Lernen und persönliches Wachstum": Noch gibt es für das, was im englischen Sprachraum Middle Age (das "mittlere Alter") genannt wird, keinen wirklich guten deutschen Begriff. Und doch gibt es schon weit mehr als nur zaghafte Versuche, diese Phase mit kreativen Ideen für ein längeres Leben zu füllen. Arbeiten, Wohnen, Leben, Freizeit: Überall haben sich Kreative, Unerschrockene und Innovative aufgemacht, diese Landkarte des langen Lebens zu beschreiben. Sie sind dabei, das Alter neu zu entdecken und neu zu definieren.

Menschen können bis ins hohe Alter lernen

Ältere Studierende an der Universität: Das menschliche Gehirn bleibt bis ins hohe Alter lernfähig. (© picture-alliance/dpa)

Die Erfahrungen und Qualitäten einer zahlenmäßig starken und gut ausgebildeten Generation um die 50 werden auch morgen gefragt sein. Dazu müssen wir mit vielen Mythen über das Alter aufräumen. Eine der schlimmsten davon findet sich in der Volksweisheit "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr". Das ist Unsinn, wie wir heute wissen. "Das menschliche Gehirn bleibt bis ins hohe Alter veränderbar", sagt auch Ursula Staudinger, die früher an der Jacobs University Bremen forschte und inzwischen das Columbia Aging Center an der Columbia University in New York leitet. Sie ist überzeugt davon, dass Ältere "im sozialen Miteinander die verlässlicheren und stabileren Menschen sind." Sie seien imstande, ebenso viel wie die Jungen zu lernen, aber sie lernten anders.

So hat die Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach beispielsweise eine Pflegelehrerin eingestellt, die Über-40-Jährige bei ihrer Ausbildung zu "staatlich geprüften Hauswirtschafterinnen" begleitet. Dass Frauen nach der Familienphase noch einmal eine Ausbildung machen und Unternehmen die Möglichkeit dazu eröffnen, ist in Deutschland noch absolut ungewöhnlich.

Doch die Sozialholding profitiert ungemein von ihrem innovativen Weg: Die Motivation der älteren Auszubildenden sei außergewöhnlich, sagt Geschäftsführer Helmut Wallrafen-Dreisow. Der Altersschnitt seiner ungewöhnlichen "Lehrlinge" liegt bei 45, eine Auszubildende war bei Lehrbeginn bereits 57 Jahre alt.

Mit 50 noch mal einen neuen Beruf lernen

Was Älteren in Deutschland noch an Selbstbewusstsein fehlt, entwickelt sich weit stürmischer in den USA. Für all jene, die ihre Karriere noch einmal neu starten wollen, gibt es dort den Begriff der "Encore-Berufe". "Encore" heißt übersetzt "Zugabe", kann aber auch vom französischen "noch" abgeleitet werden, bedeutet dann also "noch ein Beruf, noch eine Karriere". Popularisiert wird der Begriff von der Nichtregierungsorganisation Encore.org, deren Direktor Marc Freedman als einer der prominentesten Vorkämpfer für den Gedanken der "Encore-Karrieren" gilt. Ihm ist auch wichtig, dass das Wort "core", also "Herz, Seele" in dem Begriff steckt.

Zehn Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner hätten in der Mitte ihres Lebens bereits eine neue Karriere begonnen, vor allem in Bereichen wie Erziehung, der Umwelt, Gesundheit und sozialen Diensten, sagt Freedman. Nicht wenige davon haben sich selbstständig gemacht. Wie das Magazin Newsweek im August 2010 berichtete, gründen Über-55-Jährige fast doppelt so oft erfolgreiche Firmen wie 20- bis 34-Jährige.

Dies beeinflusst den Arbeitsmarkt der Zukunft. Denn die These, dass die Produktivität und Innovationsfähigkeit einer alternden Gesellschaft quasi wie ein Naturgesetz rückläufig sei, ist nach Ansicht der deutschen Altersforscherin Ursula Staudinger nicht zu halten. Thomas Zwick vom Institut für Wirtschaftspädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München teilt diese Meinung und macht sich daher für altersgemischte Teams stark: "Altersgemischte Teams steigern die Produktivität sowohl für ältere als auch für jüngere Arbeitnehmer, wenn sie geschickt zusammengesetzt sind."

Demgegenüber stehen Untersuchungen der Technischen Universität Dresden zum Sinn und Unsinn altersgemischter Gruppenarbeit in Organisationen, in der auch negative Effekte hoher Altersheterogenität beobachtet wurden – etwa ein schlechteres Gruppenklima und weniger Kommunikation. Zudem können Missverständnisse durch unterschiedliche Wahrnehmungen entstehen und Probleme im betrieblichen Ablauf verursachen. Eine Gruppe um die Logopädin Monika Rausch an der Europäischen Fachhochschule in Brühl führt zum Aspekt der Kommunikation in altersgemischten Teams derzeit eine mehrjährige Untersuchung durch. Rausch will sichtbar machen, welche Prozesse bei der Kommunikation zwischen Jungen und Alten ablaufen und wie sie auf die Beteiligten wirken.

Klassische Dreiteilung wird verschwinden

James Vaupel, einer der bekanntesten Altersforscher weltweit und Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, ist sich sicher, dass es die klassische Dreiteilung "Ausbildung, Arbeit, Rente" in Zukunft für die wenigsten geben wird. "Heute in Deutschland geborene Kinder werden mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent 100 Jahre alt. Es scheint mir klar, dass die meisten davon nicht schon mit 60 oder 65 Jahren in Rente gehen wollen – sondern viel später. Sie werden vermutlich mehr Jahre ihres Lebens arbeiten wollen, dafür aber weniger Stunden pro Woche. Dann hätten Sie zum Beispiel mehr Zeit für die Erziehung ihrer Kinder und für ihre lebenslange eigene Weiterbildung". Deshalb geht es bei der Formulierung eines neuen Bildes des Alterns auch um die Zukunft der Millionen von Kindern und Jugendlichen, die heute in Europa aufwachsen.

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Margaret Heckel, geb. 1966; Studium der Volkswirtschaft (MA) in Heidelberg und Amherst/USA, Politikchefin der Financial Times Deutschland, Welt und Welt am Sonntag; derzeit: freie Journalistin und Autorin mit dem Schwerpunkt Demografie; Externer Link: www.margaretheckel.de