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Kinder und Armut: Was macht Familien arm?

Anne Lenze

/ 11 Minuten zu lesen

Trotz guter Konjunktur steigt die Kinderarmut in Deutschland. Über zwei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 sind auf staatliche Grundversorgung angewiesen. Betroffen sind vor allem Kinder von Alleinerziehenden und aus Familien mit mehr als drei Kindern. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes erklärt die wachsende Kinderarmut nicht, sagt die Sozialstaatsrechtlerin Anne Lenze. Sie sieht eine wichtige Ursache im Sozialversicherungssystem, das Eltern benachteilige.

Eltern werden doppelt belastet, findet die Sozialstaatsrechtlerin Anne Lenze. Sie zahlen Sozialversicherungsbeiträge und leisten einen generativen Beitrag, indem sie Kinder erziehen und damit das Sozialversicherungssystem in seiner jetzigen Form am Leben halten. Diese Doppelbelastung trage zur Kinderarmut bei. (© picture-alliance/dpa)

Besonders Kinder aus alleinerziehenden Familien sowie aus Familien mit drei und mehr Kindern gelten als arm. Wobei Armut auf zweierlei Arten gemessen werden kann. Nach dem in der Europäischen Union gängigen relativen Armutsbegriff werden Menschen als arm bezeichnet, die über weniger als 60 Prozent des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen. Im Jahr 2015 lagen Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren unterhalb der Armutsschwelle, wenn sie im Monat weniger als 1.225 Euro an Einkommen hatten. Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren lag diese Grenze bei 1.978 Euro. Besonders betroffen von Armut waren Alleinerziehende (43,8 %), Familien mit drei und mehr Kindern (25,2 %), Erwerbslose (59 %), Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5 %) sowie Ausländer (33,7 %) .

Eine andere, sozialrechtliche Messung von Armut blickt auf die Zahl der Menschen, die in Deutschland von der staatlichen Grundsicherung leben . Im Jahr 2015 lebten fast zwei Millionen Kinder in Deutschland von Hartz IV. Bezogen auf alle Kinder unter 18 Jahre waren dies 14,7 Prozent. Trotz guter Konjunktur und ständig steigender Beschäftigtenzahlen erhöhte sich dieser Anteil, denn im Jahr 2011 waren es noch 14,3 Prozent . Im Juni 2017 waren über zwei Millionen (2.063.507) Kinder unter 18 Jahren auf Hartz IV angewiesen. Damit stieg die Kinderarmut erneut. Dabei spielt auch die Zahl der nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge eine Rolle.

Auch nach dieser Art der Armutsmessung sind Kinder in zwei Familienkonstellationen besonders betroffen: Von allen Kindern in staatlicher Grundsicherung leben 50 Prozent in alleinerziehenden Familien und 36 Prozent in Familien mit drei und mehr Kindern. Außerdem wächst die Mehrheit der Kinder, die von Hartz IV leben, über einen längeren Zeitraum in Armut auf: Von den betroffenen Kindern im Alter von 7 bis unter 15 Jahren bezogen 57,2 Prozent drei und mehr Jahre lang Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) .

Bei den Alleinerziehenden kommt hinzu, dass sie in circa der Hälfte aller Fälle vom anderen Elternteil keinen Unterhalt für ihre Kinder beziehen und auch der staatliche Unterhaltsvorschuss in vielen Fällen bislang nicht griff . Dieser war bislang doppelt begrenzt: auf maximal sechs Jahre und längstens bis zum 12. Geburtstag. Das bedeutet, dass Alleinerziehende, die allein ihre Kinder erziehen und deshalb unter erschwerten Bedingungen einer Erwerbsarbeit nachgehen können, auch noch mehr Einkommen als Singles erwirtschaften müssen. Denn sie müssen auch noch den monetären Unterhalt ihrer Kinder abdecken. Eine Verbesserung der Situation ist seit dem 1. Juli 2017 eingetreten. Denn der Unterhaltsvorschuss wurde ausgeweitet: Er gilt seitdem bis zum 18. Lebensjahr ohne maximale Bezugsdauer.

Dies war ein nötiger und wichtiger Schritt. Denn je länger Kinder in Armut leben, desto negativer sind die Folgen für ihre Entwicklung und ihre Bildungschancen. Sie haben häufig kein eigenes Zimmer, keinen Rückzugsort für Schularbeiten, essen kaum oder gar kein Obst und Gemüse. Verglichen mit Kindern in gesicherten Einkommensverhältnissen sind arme Kinder häufiger sozial isoliert, gesundheitlich beeinträchtigt und ihre gesamte Bildungsbiografie ist durch die Armut deutlich erschwert . Das heißt, dass sie zum Beispiel häufiger eine Klasse wiederholen oder seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten. Die Kinder selber erfahren diese Armut ganz konkret und erleben, dass sie nicht die gleichen Teilhabechancen haben wie Kinder aus besser gestellten Familien .

Ursachen für die Kinderarmut? Der Arbeitsmarkt allein liefert keine Antwort

Die gängige Lösung im Kampf gegen die Kinderarmut besteht heute darin, Eltern in Arbeit zu bringen. Seit spätestens 2007 kommt eine neue Familienpolitik in Deutschland zum Tragen. Deren Leitbild ist es, durch die Kombination von Elterngeld und dem Ausbau der Krippenbetreuung sicherzustellen, dass Mütter frühzeitig ins Erwerbsleben zurückkehren – am besten nach dem ersten Lebensjahr des Kindes . Offensichtlich ist, dass dieses Leitbild am ehesten von Eltern mit einem oder zwei Kindern zu erfüllen ist, während andere Lebenskonstellationen oft an den neuen Ansprüchen scheitern und damit ein besonderes Armutsrisiko tragen. Dies sind zum einen Familien mit mehr als zwei Kindern, aber auch Alleinerziehende, die im Alltag regelmäßig die Erziehung ihrer Kinder allein bewältigen müssen.

Richtig ist, dass die Armutsquote von Paarfamilien, in denen beide Eltern berufstätig sind, am niedrigsten ist. Trotzdem gibt es einige besorgniserregende Befunde, die Anlass geben, nach weiteren Ursachen für Kinderarmut zu suchen. Denn:

  • Die Kinderarmut ist seit den 1960er-Jahren stark gestiegen, obwohl Eltern und Gesellschaft immer weniger Kinder zu versorgen haben.

  • Die Kinderarmut ist gestiegen, obwohl immer mehr Mütter erwerbstätig sind.

  • Die Kinderarmut ist gestiegen, obwohl die Zahl der Arbeitslosen in den vergangenen Jahren erheblich gesunken ist.

  • Die Kinderarmut steigt selbst in Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg mit einer besonders guten Beschäftigungslage .

Es muss also noch andere Gründe für die zunehmende Kinderarmut geben als allein die Entwicklung des Arbeitsmarktes.

Die Sozialversicherungskosten wurden kollektiviert – die Kosten für Kinder blieben privatisiert

Mit der Einführung der Gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1889 und erst recht mit der Großen Rentenreform von 1957, die ein existenzsicherndes Rentenniveau etablierte, wurde die Alterssicherung vollständig kollektiviert. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Kinder eine wichtige Altersvorsoge.

Seitdem gilt ein kollektiver Generationenvertrag: Pflichtbeiträge werden von den aktuell Erwerbstätigen eingezogen, die noch im selben Monat für die Absicherung der Rentner, der Kranken und der Pflegebedürftigen ausgeschüttet werden (Umlageverfahren). Diese Leistungen sind davon unabhängig, dass man eigene Kinder erzogen hat. Die Sozialversicherung schuf damit erstmalig auch eine Versicherung gegen die ökonomischen Folgen von Kinderlosigkeit, ohne dass die Kinderlosen für diesen Effekt einen Sonderbeitrag zahlen mussten. (Siehe hierzu auch das Dossier "Interner Link: Rentenpolitik")

Noch im Vorfeld der Großen Rentenreform wurde befürchtet, dass diese Regelung Kinderlosigkeit ökonomisch belohnen könnte. Deshalb lautete der Vorschlag des Erfinders der dynamischen Rente, Wilfried Schreiber, dass neben den Altersrenten auch eine Jugendrente eingeführt werden solle, um die Kosten für die Erziehung der nachwachsenden Generation ebenfalls zu vergesellschaften . Dies soll jedoch vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer mit dem Satz abgelehnt worden sein: "Kinder kriegen die Leute immer."

Heute wissen wir, dass dies ein Irrtum war: Deutschland zeichnet sich aktuell durch eine konstant niedrige Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau und eine der weltweit höchsten Rate an lebenslang Kinderlosen aus . Dies hat dazu geführt, dass:

  • immer weniger abhängig Beschäftigte immer mehr alte Menschen in den Bereichen Alterssicherung, Gesundheitsversorgung und Pflegebedürftigkeit unterstützen müssen;

  • dass die Sozialversicherungsausgaben exorbitant gestiegen sind (von 24,4 Prozent im Jahr 1960 auf 39,75 Prozent im Jahr 2016 ) und absehbar weiter steigen werden;

  • dass die Löhne und Gehälter der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten so stark belastet sind, dass von einem Durchschnittseinkommen von 35.000 Euro heute keine vierköpfige Familie mehr existieren kann , erst recht nicht in städtischen Ballungsgebieten mit hohen Mieten;

  • dass Kinderlose Wettbewerbsvorteile auf allen relevanten Märkten haben, vor allem auf dem Wohnungsmarkt, dem Arbeitsmarkt und dem Konsumgütermarkt. Sie können sich insgesamt einfach mehr leisten, weil sie ihr Einkommen mit niemandem teilen müssen.

Familienarmut ist damit auch eine Folge der sozialstaatlichen Entscheidung, die Versorgung der Kranken und Pflegebedürftigen sowie der Rentner vollständig dem Kollektiv der Versicherten aufzuerlegen und die Kosten der Kindererziehung weiterhin überwiegend privat bei den Familien zu belassen.

Eltern werden somit doppelt belastet. Sie leisten einen generativen Beitrag, indem sie Kinder erziehen und damit überhaupt das Sozialversicherungssystem in seiner jetzigen Form am Leben halten. Zusätzlich leisten sie einen finanziellen Beitrag, indem sie Beiträge in die Sozialversicherungen einzahlen. Dies ist ein Strukturfehler des deutschen Sozialstaats, der zur Kinderarmut beiträgt.

Familienpolitische Leistungen: weniger als es scheint

Gegen diese Sichtweise werden gern die hohen Ausgaben von 200 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen in Stellung gebracht . Die tatsächliche Höhe der Ausgaben ist jedoch umstritten. Es geht um die Frage, welche Leistungen am Ende der Familienförderung zugeschlagen werden – oder eben nicht . Nach Einschätzung des Familienbundes der Katholiken werden lediglich 39,1 Mrd. Euro an "echter" Familienförderung ausgegeben . (Siehe hierzu auch den Artikel "Interner Link: Familienpolitische Leistungen". Der Autor skizziert hier verschiedene Modelle der Berechnung familienpolitischer Leistungen.)

Strukturell ist dazu zu sagen, dass Familien durch steuerfinanzierte Leistungen gar nicht entlastet werden können, weil sie die an sie ausgeschütteten Leistungen selber mitfinanzieren. Zum einen entrichten Familien Einkommenssteuern, aber vor allem auch Verbrauchssteuern. Diese sind für Familien besonders belastend, weil sie auch auf die Ausgaben für Kinder Mehrwertsteuern entrichten. Diese unsozialen Verbrauchssteuern, die besonders Familien und Geringverdiener belasten, die den größten Teil ihrer Einkünfte für das tägliche Leben ausgeben müssen, haben in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Mittlerweile finanziert sich der Staat knapp zur Hälfte aus Verbrauchssteuern . Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass Familien die familienpolitischen Leistungen zu 43,6 Prozent selber finanzieren . Die scheinbar großzügige Familienförderung in Deutschland verdeckt zudem, dass Probleme noch an ganz anderer Stelle entstehen, nämlich bei der Belastung der Familien mit Sozialabgaben.

Gleichheitsrechtlicher Ausgleich zwischen Eltern und Kinderlosen

Es war das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das 2001 mit seiner Entscheidung zur Pflegeversicherung eine verfassungswidrige Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen in der Sozialversicherung festgestellt hatte. Das Gericht hat aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ("Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.") den Grundsatz abgeleitet, dass die Kindererziehung als ein generativer Beitrag für diejenigen sozialen Sicherungssysteme der Gesellschaft zu bewerten ist, die auf das Nachwachsen einer ausreichenden jungen Generation angewiesen sind. Die kindererziehenden Versicherten sicherten die Funktionsfähigkeit der Pflegeversicherung nicht nur durch Beitragszahlung, sondern auch durch die Betreuung und Erziehung von Kindern . Ausdrücklich gab das BVerfG dem Gesetzgeber auf, "die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen" .

Der Gesetzgeber hat das Urteil zwar für den Bereich der gesetzlichen Pflegeversicherung umgesetzt, indem Versicherte ohne Kinder einen geringfügig höheren Versicherungsbeitrag entrichten als versicherte Eltern. Er hat jedoch eine Übertragung für die wesentlich wichtigeren Bereiche der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung abgelehnt , obwohl die verfassungsgerichtlichen Grundsätze hierfür evident sind .

Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 30. September 2015 die Entlastung von Eltern bei den Abgaben zur Renten- und Krankenversicherung mit Hinweis auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für verfassungsrechtlich nicht zwingend gehalten und die Klage einer Familie mit drei Kindern auf Beitragsreduktion abgewiesen . Gegen dieses Urteil wurde beim BVerfG Verfassungsbeschwerde erhoben . Es wird sich zeigen, ob das BVerfG seine Grundsätze aus dem Pflegeversicherungsurteil von 2001 auch auf die Renten- und Krankenversicherung übertragen wird.

Beitragsentlastung als Kern einer modernen Familienpolitik

Um Eltern tatsächlich zu entlasten, muss mindestens ein Beitrag in Höhe des (steuerlichen) Existenzminimums von Kindern von der elterlichen Beitragsbemessungsgrundlage zur Sozialversicherung abgezogen werden. Dies wäre gegenwärtig ein Betrag von 238 Euro pro Kind und Monat. Dieser Betrag kann bei berufstätigen Eltern je zur Hälfte vom Einkommen abgezogen werden und bei Alleinverdienern zur Gänze. Alleinerziehende, die vom anderen Elternteil keinen Kindesunterhalt erhalten, könnten ebenfalls den gesamten Betrag von der Bemessungsgrenze abziehen. Schließlich würde auch keine unsoziale progressive Entlastungswirkung eintreten, da in allen Fällen der gleiche Betrag vom zu versteuernden Einkommen abgezogen wird. Die sinkenden Sozialversicherungsbeiträge für Eltern müssten von denjenigen Versicherten kompensiert werden, die gegenwärtig keine Unterhaltspflichten für Kinder tragen.

Diese würde die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Menschen mit und ohne Unterhaltspflichten gegenüber Kindern berücksichtigen. Kinderlosigkeit ist demnach keine moralische, sondern eine sozio-ökonomische Kategorie, die auch auf diejenigen zutrifft, deren Kinder erwachsen sind und auf eigenen Füßen stehen. Die Umverteilung unter den Sozialversicherten würde die ökonomischen Folgen der Kinderlosigkeit ein Stück weit den Kinderlosen zuordnen .

Professor Dr. Anne Lenze ist Professorin für das "Recht der sozialen Sicherung" im Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt. Außerdem berät sie den Ausschuss für Arbeit und Soziales im Bundestag.