Dem liegen unterschiedliche Prozesse zugrunde:
Zum einen vollzieht sich die Europäisierung über die absichtsvolle Wahrnehmung und Ausfüllung der im EG-Vertrag für die europäischen Institutionen vorgesehenen Kompetenzen. Dies geschieht im Kern in Übereinstimmung mit der dort festgeschriebenen Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Dieser Weg wird mit Zustimmung der Mitgliedstaaten beschritten, die einschlägige Entscheidungen im Rat oder im Ministerrat treffen.
Die absichtsvolle Wahrnehmung und Ausfüllung der Kompetenzen erfolgt vor allem auf drei Wegen:
durch die Wahrnehmung von Kompetenzen im Bereich der Prävention, sowohl bei der Rechtsetzung als auch bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten;
mit der Etablierung eines neuen Regulierungsmodus in der Gesundheitspolitik, nämlich der offenen Methode der Koordinierung;
mit dem Versuch zur Schaffung eines europäischen Marktes für Gesundheitsdienstleistungen durch eine europäische Rechtsetzung.
In der Wahrnehmung – und häufig: der weiten Interpretation – dieser Zuständigkeiten kommt auch das Bestreben der Europäischen Kommission zum Ausdruck, das eigene Aktionsfeld auf das Gebiet der Gesundheitspolitik auszuweiten.
Zum anderen beruht der Bedeutungszuwachs Europas auf nicht beabsichtigten Folgen der europäischen Marktintegration. Hintergrund dieser Entwicklung sind Widersprüche zwischen europäischem Marktrecht und dem Sozialrecht der Mitgliedstaaten. So sah das deutsche Krankenversicherungsrecht lange Zeit eine Beschränkung der Leistungsinanspruchnahme auf solche Leistungsanbieter vor, die einen Versorgungsvertrag mit den deutschen Krankenkassen haben. Offenkundig widerspricht diese Bestimmung dem freien Verkehr von Dienstleistungen im europäischen Binnenmarkt, denn damit werden andere Leistungsanbieter vom Zugang zur Versorgung von Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Grundsätzlich gilt in der EU der Anwendungsvorrang europäischen Rechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten. Daher greift das europäische Marktrecht zunehmend auf das nationale Sozialrecht, auch das Gesundheitsschutz- und das Krankenversorgungsrecht, über. Anders als die oben erwähnte Entwicklung vollzieht sich dieser Prozess häufig gegen den Willen der Mitgliedstaaten (Greer 2006). Von herausragender Bedeutung ist dabei der Europäische Gerichtshof (EuGH). Er entscheidet bei Rechtstreitigkeiten über die Anwendbarkeit von Sozial- oder Wettbewerbsrecht zwischen den unmittelbar Beteiligten oder bei Klagen der Europäischen Kommission gegen einzelne Mitgliedstaaten. Die Urteile des EuGH konkretisieren das europäische Recht ("Richterrecht") und sind unmittelbar verbindlich. Die europäische Integration vollzieht sich also zu einem erheblichen Teil durch die Rechtsprechung des EuGH, die das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht konkretisiert.
Für die deutsche Gesundheitspolitik sind Widersprüche zwischen Sozial- und Wettbewerbsrecht vor allem in folgender Hinsicht von Bedeutung:
für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversicherung,
für die Rolle von Krankenkassen und Kollektivverträgen bei der Steuerung der gesetzlichen Krankenversicherung,
für die Vergabe öffentlicher Aufträge im Gesundheitswesen.
In den folgenden Lernobjekten wird zunächst die Gestaltung einer europäischen Gesundheitspolitik behandelt, anschließend werden die unbeabsichtigten Folgen der Marktintegration dargestellt.