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Die Finanzierung des Gesundheitswesens in den Niederlanden | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Die Finanzierung des Gesundheitswesens in den Niederlanden

Thomas Gerlinger

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Die "Universität Medisch" in Rotterdam (flickr/Roel) Lizenz: cc by-nc-sa/2.0/de

Ausgaben und Ausgabenentwicklung

Wie in vergleichbaren europäischen Ländern auch haben sich die Ausgaben für Gesundheit in den Niederlanden seit den 1970er-Jahren erhöht. Der Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt stieg von 7,1 Prozent im Jahr 1975 auf zwölf Prozent im Jahr 2011 (Trading Economics 2012, Eurostat). In Deutschland wurden im selben Jahr 11,1 Prozent des BIP für Gesundheit aufgewendet (Eurostat 2012). Im Jahr 2011 stiegen die jährlichen Gesundheitsausgaben auf 4.307 Euro pro Kopf an. In der Europäischen Union werden nur in Dänemark und Luxemburg mehr Geld pro Kopf ausgegeben.

Der Ausgabenanstieg zwischen Mitte der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre war Ausgangspunkt für verschiedene Reformvorhaben mit dem Ziel, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zu dämpfen. Die Kostendämpfungspolitik basierte lange Zeit auf einer restriktiven staatlichen Steuerung der Versorgungskapazitäten. Es wurde sowohl die Zahl der Allgemeinkrankenhäuser reduziert als auch die Menge der Akutbetten. Als kostensenkendes Merkmal erweist sich die niedrige Einweisungsquote zum stationären Sektor. Die Einweisungen zur akutstationären Versorgung liegen bei einem Anteil von 10,2 Prozent der Bevölkerung und damit etwa acht Prozent unter dem Durchschnittswert vergleichbarer europäischer Länder.

Im Durchschnitt konsultiert der Niederländer 5,7 mal im Jahr einen Arzt - das ist seltener als der Durchschnitt der OECD-Länder. (Externer Link: OECD, Stand: 2009) Der überwiegende Teil aller Arztkontakte wird durch die hausärztliche Versorgung abgedeckt. Um so überraschender erscheint es, dass die knapp 9.000 Allgemeinärztinnen und -ärzte (Stand: 2011) in den Niederlanden nur 3,4 Prozent der gesamten Ausgaben für Gesundheit und Pflege verursachen (2002). Der Krankenhaussektor vereinigt 24,4 Prozent der Ausgaben auf sich. Der größte Ausgabenanteil entfällt auf den Bereich der "Social Care". Dazu zählen verschiedenen Leistungsbereiche wie zum Beispiel Alten- und Pflegeheime sowie ambulante Pflegeangebote, aber auch die Behandlung und Betreuung psychisch Kranker. Die Niederlande haben – bezogen auf die Bevölkerungsgröße – europaweit den größten Anteil von Alten- und Pflegeheimen. Insgesamt nimmt der Bereich der "Social Care" 37,2 Prozent aller Ausgaben in Anspruch.

Die drei Säulen der niederländischen Krankenversicherung

Der Anteil öffentlicher Mittel (aus Steuern und Sozialversicherungen) an den gesamten Gesundheitsausgaben lag in den Niederlanden im Jahr 2002 bei 63 Prozent. Das ist im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedsstaaten ein niedriger Wert. In Deutschland wurden etwa 75 Prozent der Ausgaben aus öffentlichen Quellen bestritten, in Großbritannien lag der Wert bei 82 und in Schweden bei 85 Prozent. Die Ursache für den großen Anteil privater Finanzierungsquellen liegt in der Ausnahmestellung, die den privaten Krankenversicherungen in den Niederlanden zukommt. Eine private Krankenvollversicherung existiert in der EU ansonsten nur noch in Deutschland, dort deckt sie allerdings einen kleineren Versichertenkreis ab. Mit der Gesundheitsreform von 2006 wurden in den Niederlanden die ehemals gesetzlichen Krankenversicherungen in privatrechtliche Organisationen transformiert. Damit ist der Anteil privater Finanzierungsquellen noch einmal deutlich gestiegen. 2009 wurden mehr als drei Viertel der gesamten Gesundheitsausgaben von den Sozialversicherungen übernommen, neun Prozent kamen vom Staat. (Externer Link: Eurostat 2013)

Das niederländische System der Krankenversicherung beruht auf drei Säulen, die für die Finanzierung unterschiedlicher Leistungsbereiche zuständig sind (siehe Abbildung "Drei Säulen der Krankenversicherung in den Niederlanden").

Quelle: Eigene Darstellung
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Die erste Säule stellt die Pflegeversicherung dar (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten – AWBZ). Die AWBZ geht in ihren Leistungen über den Versorgungsumfang der deutschen Pflegeversicherung hinaus. Sie dient der Absicherung gegen besonders schwere gesundheitliche Risiken wie zum Beispiel der Langzeitpflege, langwieriger beziehungsweise dauerhafter Behinderungen oder psychiatrischer Erkrankungen. Die AWBZ ist eine "Volksversicherung", das heißt, jede Einwohnerin und jeder Einwohner der Niederlande ist hier pflichtversichert. Sowohl Arbeitnehmerinnen und -nehmer als auch Selbstständige leisten einen an der Höhe ihres Einkommens orientierten Beitrag. Der Beitragssatz lag im Jahr 2013 bei 12,65 Prozent des Arbeitsentgeltes (Sociale Verzekeringsbank 2013). Die AWBZ besitzt für die Finanzierung des niederländischen Gesundheitssystems eine große Bedeutung. Im Jahr 2003 wurden etwa 41 Prozent aller Gesundheitsausgaben durch die Pflegeversicherung abgedeckt.

Die zweite Säule des Versicherungssystems wird seit der Reform des Jahres 2006 durch die eigentliche Krankenversicherung (Zorgverzekeringswet – ZVW) gebildet. Die ZVW stellt eine Basisversicherung dar, mit der alle wesentlichen Leistungen der Akutversorgung abgesichert werden. Damit alle Bürgerinnen und Bürger der Niederlande über diesen Versicherungsschutz verfügen, wurde eine Versicherungspflicht eingeführt, die sich auf einen gesetzlich definierten Standardtarif bezieht. Die Rahmenbedingungen der Versicherung werden durch den Gesetzgeber gestaltet, die konkrete Umsetzung obliegt jedoch privatrechtlich organisierten Versicherungsunternehmen. Die privaten Versicherungen sind dazu verpflichtet, jeder Einwohnerin und jedem Einwohner, auf Wunsch eine Versicherung anzubieten (Kontrahierungszwang).

Die Finanzierung der ZVW geschieht über zwei Arten von Prämien. Zum einen erhebt jede Versicherung eine pauschale Prämie, die jede/jeder Versicherte ab 18 Jahren unabhängig von der Höhe des eigenen Einkommens entrichten muss. Im Jahr 2011 betrug die durchschnittliche jährliche Prämie 1.140 Euro (Sociale Verzekeringsbank 2013). Bedürftige erhalten einen staatlichen Zuschuss in Höhe von maximal 400 Euro. Etwa 6,5 Millionen Niederländerinnen und Niederländer haben Anspruch auf diese staatliche Unterstützungsleistung. Die Pauschale soll circa 50 Prozent des Finanzbedarfs der Krankenversicherung abdecken. Der zweite Finanzierungsbestandteil ist eine einkommensabhängige Prämie in Höhe von 7,75 Prozent (2013) des Bruttoeinkommens (ebd.), die bis zu einem Jahreseinkommen von 50.853 Euro (2013) (ebd.) berechnet wird und oberhalb dieser Grenze gedeckelt ist. Dieser Prämienbestandteil wird vom Arbeitgeber abgeführt. Selbstständige zahlen einen ermäßigten Satz von 4,5 Prozent ihres Bruttoeinkommens.

Die verschiedenen Finanzierungsbestandteile fließen in einen neu geschaffenen Krankenversicherungsfonds (siehe Abbildung), dessen Konstruktion dem ab dem Jahr 2009 wirksamen Gesundheitsfonds in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ähnelt. Auch der niederländische Staat zahlt in diesen Fonds ein, um damit aus Steuermitteln die Krankenversicherung für Kinder unter 18 Jahren zu finanzieren, für die kein Beitrag zu entrichten ist. Aus dem Fonds erhalten die Versicherungen eine Kopfpauschale für jede Versicherte und jeden Versicherten, die nach dem Gesundheitszustand differenziert wird. Damit wirkt im Finanzierungssystem ein Risikostrukturausgleich, der verhindern soll, dass Kassen mit überdurchschnittlich vielen "schlechten Risiken", das heißt mit Versicherten mit schweren oder chronischen Erkrankungen, im Wettbewerb benachteiligt werden.

Quelle: Eigene Darstellung
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Private Zusatzversicherungen bilden die dritte Säule der niederländischen Krankenversicherung. Sie haben in den vergangenen Jahren eine zunehmende Bedeutung erlangt, weil durch verschiedene Maßnahmen des Gesetzgebers eine Reihe von Leistungen aus dem Katalog der anderen Versicherungssysteme ausgegrenzt wurden. So können zum Beispiel Zahnersatz, Hörgeräte, Physiotherapie oder alternative Behandlungsformen grundsätzlich nur durch eine private Zusatzversicherung abgesichert werden. Der Abschluss einer solchen Versicherung ist freiwillig. Mittlerweile haben jedoch etwa 95 Prozent aller Versicherten eine private Krankenzusatzversicherung abgeschlossen.

Die verschiedenen Versicherungssegmente decken nicht die gesamten Behandlungskosten ab. Sowohl bei stationären Behandlungen als auch bei den Arzneimittelkosten und bei der Physiotherapie müssen Zuzahlungen geleistet werden. Diese wurden im Rahmen der Kostendämpfungspolitik seit Beginn der 1980er-Jahre eingeführt beziehungsweise erhöht. So gibt es seit 1983 eine Rezeptgebühr auf Arzneimittelverschreibungen für alle Pflichtversicherten. Die Höhe der gesamten Zuzahlungen, die eine Versicherte oder ein Versicherter pro Jahr leisten muss, sind allerdings "gedeckelt" und dürfen im Jahr einen bestimmten Bertrag nicht übersteigen. Schätzungen aus dem Jahr 2001 gingen davon aus, dass neun Prozent aller Gesundheitsausgaben in den Niederlanden durch privat zu leistende Zuzahlungen erbracht wurden.

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Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.