Zur Wahl gestellt: die Parteien
Für die demokratische Willensbildung und für den Wahlakt sind Parteien unersetzbar. Sie sind einer der wichtigsten Faktoren der politischen Meinungsbildung. Doch Parteien stoßen auf Kritik, seit es sie gibt: Als Mittler zwischen politischem System und Bürgern sind sie oft überfordert - denn sie haben viele Funktionen gleichzeitig zu erfüllen.Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Parteiendemokratie: Für die demokratische Willensbildung sind Parteien unverzichtbar, für den Wahlakt unersetzbar. Damit ist kein Monopolanspruch verbunden, denn die Parteien sind Mitwirkende bei der politischen Willensbildung, aber nicht deren alleinige Trägerinnen. Parteien beeinflussen nur als ein Faktor neben anderen, beispielsweise den Medien, die Meinungsbildung der Menschen. Politische Parteien sind stets auch Ausdruck sowie Trägerinnen gesellschaftlicher Konflikte. Sie konkurrieren bei Parlamentswahlen um Wählerstimmen.
Eine Schlüsselfunktion kommt den Parteien jedoch beim Wahlvorgang zu, denn bei den Wahlen stehen in der Bundesrepublik primär die Parteien und ihre Spitzenkandidaten im Mittelpunkt, weniger einzelne Abgeordnete. Es gehört zu einem zentralen Kennzeichen der Parteien, die sich als wichtige Mittler oder "Transmissionsriemen" (Carl Böhret, 1988) zwischen Bevölkerung und Staat definieren, dass sie sich regelmäßig zur Wahl stellen. Damit unterscheiden sie sich von Interessengemeinschaften, Vereinen, Verbänden und Bürgerbewegungen. Diese sind den Parteien rechtlich nachgeordnet. In Artikel 2, Absatz 1 des Parteiengesetzes heißt es dazu: "Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Mitglieder einer Partei können nur natürliche Personen sein."
Die Parteien mussten sich das Privileg ihrer Sonderstellung im parlamentarischen System erst erarbeiten. In der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 wurden Parteien nicht erwähnt. Die deutsche Staatsrechtslehre wies ihnen einen Platz als außerhalb des Staates stehende gesellschaftliche Vereinigungen zu. Artikel 130, Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung erwähnte zwar Parteien, aber nur im negativen Sinn: "Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei." Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, ein Expertengremium der Länder zur Vorbereitung des Grundgesetzes, berücksichtigte nach dem Zweiten Weltkrieg bereits in seinem ersten Entwurf von 1948 ausdrücklich die Parteien. Unter dem Schutz der Besatzungsmächte hatte sich auf Landesebene ein Parteiensystem herausgebildet, das die politische Diskussion in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kanalisierte. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren sich über die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien einig. Der Parlamentarische Rat schließlich einigte sich auf die Formulierungen, die in Artikel 21 des Grundgesetzes enthalten sind (Satz 4 in Absatz 1 wurde 1983 geändert).
Artikel 21 des Grundgesetzes weist damit den Parteien die Aufgabe zu, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, gewährleistet ihre jeweilige Gründungs- und Betätigungsfreiheit, fordert gleichzeitig innerparteiliche Demokratie und öffentliche Rechenschaftslegung. Der Artikel bietet darüber hinaus auch die Möglichkeit des Parteienverbots. Näheres sollte der Gesetzgeber durch ein Bundesgesetz regeln. 18 Jahre lang ließ dieses Gesetz auf sich warten. Erst die erste Große Koalition von CDU/CSU und SPD sah sich 1967 in der Lage, ein Parteiengesetz zu verabschieden. Damit sind die Parteien im Staatsrecht der Bundesrepublik fest verankert.
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Parteien
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
(3) Das Nähere regeln Bundesgesetze.
- Personalbeschaffung: Parteien wählen Personen aus und präsentieren sie bei Wahlen zur Besetzung politischer Ämter.
- Interessenartikulation: Parteien formulieren öffentliche Erwartungen und Forderungen von gesellschaftlichen Gruppen und Kräften an das politische System.
- Programmfunktion: Parteien integrieren unterschiedliche Interessen in eine Gesamtvorstellung von Politik, in ein politisches Programm, für das sie um Zustimmung und um Mehrheit werben.
- Partizipationsfunktion: Parteien
stellen eine Verbindung her zwischen den Bürgerinnen und Bürgern sowie dem politischen System; sie ermöglichen politische Beteiligung von Einzelnen und Gruppen.
- Legitimationsfunktion: Indem Parteien die Verbindung herstellen zwischen Bürgerinnen und Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen sowie dem politischen System, tragen sie zur Verankerung der politischen Ordnung im Bewusstsein der Menschen und bei den gesellschaftlichen Kräften bei.
Dabei zeigte sich auch häufig eine Vermischung und eine Gleichsetzung von Parteien-, Politik- und Demokratieverdrossenheit. Vier Schwerpunktbereiche der Kritik sollen kurz angedeutet werden:
- Der erste Bereich umfasst die Kritik an der Finanzierung der Parteien. Der öffentliche Beitrag in Form von Steuergeldern erscheint vielen als zu hoch. Die zusätzliche Möglichkeit, Spenden anzunehmen, eröffnet Spielräume für Korruption. Die Transparenzgebote sind dabei nur schwer zu überprüfen. Die Rechenschaftsberichte der Parteien an den Bundestagspräsidenten schützen nicht vor Missbrauch, wie die Parteispendenskandale der großen Volksparteien deutlich machen.
- Der zweite Kritikpunkt betrifft die unterstellte Ämterpatronage und den Machtmissbrauch. Die Parteien durchdringen die Staatsorgane, indem sie deren personelle Zusammensetzung weitgehend bestimmen. In öffentlichen Einrichtungen wird bei der Vergabe von Stellen – folgt man diesem Argument – mehr auf das richtige Parteibuch als auf die Fähigkeiten geachtet. Der Einfluss der Parteien erstreckt sich damit auf Bereiche, für die sie weder nach dem Grundgesetz noch nach den Regeln des Regierungssystems zuständig sind. Gefordert wird eine Zurückdrängung der Parteien, eine Beschneidung ihrer Macht. Dies könnte nur durch eine Stärkung der direkten Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger in Form von plebiszitären Mitentscheidungsrechten auch auf Bundesebene geschehen.
- Eine dritte Richtung der Kritik stört sich an der mangelnden Repräsentanz der Parteien durch ihre Mitglieder. Verglichen mit dem großen Einfluss der Parteien in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sind nur wenige Wählerinnen und Wähler Parteimitglieder. Zurzeit sind etwa vier Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland Mitglieder politischer Parteien. Hinzu kommt, dass nur ein Bruchteil davon innerparteilich aktiv tätig ist. Es stellt sich die Frage, wie so Wenige mehrheitlich akzeptable Konzepte für die Gesamtstaatsführung erarbeiten und verwirklichen können.
- Ein letzter Aspekt betrifft die innerparteiliche Demokratie sowie die Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für Wahlen. Das Recht der Kandidatennominierung, so wird dabei argumentiert, üben die Funktionäre aus. Die Wählerinnen und Wähler könnten nur zwischen vorgelegten Listen entscheiden. Muss das Wahlrecht oder auch die Amtsdauer von Repräsentanten verändert werden, um die innerparteiliche Demokratie zu stärken und die direkteren Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auszuweiten?
Grundsätzlich bleibt zu fragen, ob es überhaupt andere denkbare Möglichkeiten in einer modernen, komplexen und parlamentarischen Demokratie gibt, die Einheit zwischen Volk und Staat herzustellen.
Wer sich mit dieser Frage beschäftigt, wird schnell zu der Antwort gelangen, dass die Allgegenwart der Parteien in allen Bereichen des politischen und des gesellschaftlichen Lebens eine Voraussetzung ist, um moderne Willensbildung und Entscheidungsfindung zu garantieren. Dazu müssen die Parteien in einem permanenten Kommunikationsprozess mit der Bevölkerung stehen. Sie können als "Mehrzweckagenturen" (Elmar Wiesendahl, 1980) relativ unabhängig von ökonomischen Gesichtspunkten agieren und lassen sich nicht zur Klientel bestimmter Gruppierungen machen. Sie sind nur den Parteimitgliedern sowie ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber in der Pflicht. Das Bundesverfassungsgericht hielt in seinem Grundsatzurteil zur Parteienfinanzierung 1992 ausdrücklich fest: "Die vom Grundgesetz vorausgesetzte Staatsfreiheit der Parteien erfordert nicht nur die Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit vom Staat, sondern auch, dass die Parteien sich ihren Charakter als frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen bewahren."
Dazu ist jedoch ein gewandeltes Verständnis der Volksparteien erforderlich. Wer sie allzu sehr auf die Funktionen der Interessenartikulation und der Interessenbündelung einengt, wird über den Kanon der traditionellen Parteienschelte in der Mediendemokratie nicht hinauskommen. Wer sie jedoch auf ihre aktive Rolle als Regierungs- und Oppositionspartei festlegt und daran ihre Funktion bemisst, wird zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen. Denn wer sonst als die politischen Parteien wirbt und streitet mit einem je eigenen Politikangebot um die Mehrheit in der Wählerschaft? Sie setzen das professionell um, was auch bei den Bürgerinnen und Bürgern an unterschiedlichsten Interessen und Bedürfnissen vorliegt. Wenn die Wählerschaft mit der Umsetzung nicht einverstanden ist, kann das auch damit zusammenhängen, dass angesichts der Globalisierung der Problemstrukturen eindeutige – keinesfalls schnelle – Lösungsmöglichkeiten für Probleme meist nicht mehr existieren. Am Ende bleibt immer der Akt der Wahl, um die Konstellation zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien zu verändern.
Gefordert sind jedoch auch die Parteien. Um den Trend des Mitgliederschwundes zu brechen, sind veränderte Formen innerparteilicher Willensbildung notwendig. Studien zeigen, dass ein besonderer Typ von Parteimitgliedern auf dem Vormarsch ist, dem es weniger um eine soziale Einbindung als um die Mitgestaltung der gemeinsamen Überzeugungen geht.
Die Parteien sind auf die freiwillige Mitarbeit der Mitglieder nicht nur in Wahlzeiten angewiesen. Sie mobilisieren die Wählerinnen und Wähler, kommunizieren mit ihnen und übersetzen politische Themen unabhängig vom konkreten Wahltermin. Die Bundesrepublik ist als Parteiendemokratie konzipiert. Das ergibt nur Sinn, wenn sich die einzelnen Parteien wandlungsfähig zeigen. Ansonsten droht eine politische Krise.
Bisher hat sich das Parteiensystem als durchaus flexibel erwiesen. Neue Wählerströmungen ließen sich in die großen Volksparteien integrieren. Veränderte Koalitionsmodelle lockerten starre Konstellationen auf. Neue Parteien wie Bündnis 90/Die Grünen oder die Linke konnten sich im Parteiensystem etablieren. Angleichungsmechanismen zwischen den Parteien hängen ursächlich mit dem gemeinsamen Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit zusammen. Die Beobachtung des Medien- und Meinungsmarktes gewinnt vor diesem Hintergrund zunehmend an Bedeutung für den Parteienwettbewerb.
Auszug aus: Karl-Rudolf Korte: Wahlen in Deutschland, Zeitbilder. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2009