Historischer Hintergrund und Parteiensystem
Das Wahlrecht ist immer auch politisches Recht. Es kann für den Erfolg oder Misserfolg der politischen Parteien entscheidend sein. 1949 sah man die Bundesrepublik schon auf der "Fahrt in Richtung Weimar", doch dann führten unter anderem Anpassungen des Wahlrechts zu einem Drei-Parteien-Parlament. Eine Geschichte schwieriger Kompromisse.
Grundsätzlich handelte es sich bei diesem Wahlrecht, das nur für die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag 1949 Gültigkeit besaß, um ein Verhältniswahlrecht, das man jedoch mit dem Prinzip der relativen Mehrheitswahl verknüpfte: So wurden rund 60 Prozent der – ohne Überhangmandate – 400 Abgeordnetensitze (plus "Abgeordnete" aus Berlin, die eingeschränktes Stimmrecht besaßen) in 242 Wahlkreisen und 158 Mandate (rund 40 Prozent) über Listen der Parteien in den damals elf Ländern der drei Westzonen vergeben. Im Gegensatz zu allen späteren Wahlen hatten die Wählerinnen und Wähler nur eine einzige Stimme, mit der sie gleichzeitig ihren Direktkandidaten und die Landesliste seiner Partei unterstützten. Von größerer Bedeutung war aber bereits bei dieser Wahl der Teil der Stimmen, der die Parteienpräferenz zum Ausdruck brachte, da der Bundestag schon damals nach dem Verhältnis der Zweitstimmen der Parteien besetzt wurde und die erreichten Direktmandate einer Partei von den ihr zustehenden Mandaten abgezogen wurden. Im Unterschied zum heutigen Wahlrecht wurden die bei der Mandatsvergabe ausschlaggebenden Zweitstimmen der Parteien bis zur Wahlrechtsänderung von 1956 nur innerhalb der einzelnen Länder und nicht im Gesamtgebiet der Bundesrepublik summiert, bevor die Stimmenanteile der Parteien nach dem Verfahren von d´Hondt in Mandate umgerechnet wurden. Das hatte zur Folge, dass keine so genaue Repräsentation wie nach der neuen Methode erreicht werden konnte, da für jedes der elf Länder Rundungen bei der Umrechnung vorgenommen werden mussten und ein Ländergrenzen überschreitender Ausgleich der Stimmenanteile nicht möglich war.
Ein anderes Merkmal des bundesdeutschen Wahlgesetzkompromisses war die Einführung einer Sperrklausel, die das Eindringen von Splitterparteien in den Bundestag verhindern und so die Gefahren eines reinen Verhältniswahlrechts mindern sollte. Hierbei war es besonders schwierig, diese Hürde in angemessener Höhe anzulegen, denn eine hohe Hürde würde auch relativ große "Splitterparteien" und damit ganze Bevölkerungsgruppen vom politischen Prozess ausschließen, was die Stabilität des Systems gefährdet hätte. Eine zu niedrig gelegte Schranke hätte andererseits ihren Sinn nicht erfüllen können, Systemstabilität durch Parteienkonzentration zu gewährleisten. Der Parlamentarische Rat legte daher 1949 eine Fünfprozenthürde fest, die allerdings nur in einem Bundesland übersprungen zu werden brauchte.
Gleichzeitig war jedoch auch schon eine Umgehung dieser Hürde vorgesehen, um das Entstehen neuer Parteien nicht allzu sehr zu erschweren: Auf Parteien, die 1949 bei den ersten Bundestagswahlen immerhin ein Direktmandat in einem Land erreichten, sollte die Fünfprozenthürde nicht angewendet werden, und sie sollten mit allen erreichten Zweitstimmen an der Verteilung der Mandate beteiligt werden. An dieser Sperrklausel, die sich in der Höhe von fünf Prozent der gültigen Stimmen bewährt hat, hat man (trotz bisweilen heftiger Diskussion um eine Verzerrung des Wählerwillens) bis heute festgehalten. Das lag auch daran, dass sich eine Parlamentsmehrheit, die die Höhe der Sperrklausel durch einfaches Gesetz erhöhen könnte, dem Vorwurf aussetzen würde, sich kleinerer Parteien auf diese Weise bewusst zu entledigen, um die eigene Macht zu sichern.
Die ersten Bundestagswahlen bestätigten zunächst den Eindruck, dass sich das Parteiensystem der Bundesrepublik auf der "Fahrt in Richtung Weimar" (Ferdinand A. Hermens) befand. Die CDU/CSU wurde knapp vor der SPD zur stärksten Parteigruppierung. Beide zusammen erreichten nur knapp 60 Prozent der Stimmen. Neben CDU/CSU, SPD und FDP wurden Abgeordnete von weiteren sieben Parteien in den Deutschen Bundestag gewählt.
Nachdem neue Parteien ab 1950 keiner Zulassung durch die Alliierten mehr bedurften und sich das Parteienspektrum zu zersplittern begann, versuchte man diesem Prozess entgegenzuwirken, indem man mit der Wahlrechtsreform von 1953 die Fünfprozentklausel auf das ganze Bundesgebiet bezog, womit für das Überspringen dieser Hürde bedeutend mehr Stimmen notwendig waren als zuvor bei einer Fünfprozenthürde innerhalb eines einzigen Bundeslandes. Als diese Maßnahme allein nicht den gewünschten Erfolg zeigte und sich das Parteienspektrum nur langsam konzentrierte, beschloss der Bundestag 1956 auch die zur Umgehung der Fünfprozentklausel nötige Anzahl der Direktmandate von einem auf drei zu erhöhen und somit die Hürde nochmals anzuheben. Das Bundeswahlgesetz von 1956 gilt in seinen Grundzügen unverändert bis zum heutigen Tag.
1953 setzte bereits eine erste Konzentration innerhalb des Parteiensystems ein. Als "Wahlwunder" wird in der Literatur häufig der triumphale Wahlsieg der Union 1953 bezeichnet. Mit 45,2 Prozent der Stimmen erreichte die Union eine knappe absolute Mehrheit der Mandate. Bis zu Beginn der sechziger Jahre hielt dieser Konzentrationstrend an. Die vielen kleineren Parteien wurden durch die CDU/CSU aufgesogen. Die Sozialdemokratie konnte ihre Stimmenanteile parallel kontinuierlich ausbauen.
Im vierten Bundestag von 1961 gab es nur noch drei Fraktionen: CDU/CSU, SPD und FDP. Neben den gesellschaftspolitischen Veränderungen und den Erfolgen der ökonomischen Aufbaujahre wird gemeinhin auch der Einführung der Fünfprozentklausel, also einer Variante des Verhältniswahlrechts, die Verantwortung für diesen Konzentrationsprozess zugebilligt.
Als 1966 die erste Große Koalition zustande kam, war eine realistische Chance für eine Wahlrechtsreform gegeben. Sie war Teil der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und CDU. Die Kontroverse über die Wahlrechtsfrage wurde zudem durch neue Ergebnisse der Wissenschaft gefördert. Die Bedingungen für die Einführung der Mehrheitswahl schienen aus Sicht der großen Parteien günstig. Alles deutete auf einen Erfolg einer Wahlrechtsreform hin. Der Bundesinnenminister berief einen Beirat für die Wahlrechtsreform ein. Dieser legte im Jahr 1968 seine Empfehlungen vor. Sie liefen eindeutig auf die Einführung der relativen Mehrheitswahl hinaus.
Der Aufschrei der FDP aber, die sich in ihrer Existenz bedroht sah, blieb nicht ungehört. Sie prangerte an, dass die Wahlrechtsreform bloß ein Mittel zur Ausschaltung der unbequemen kleinen Partei sei und sprach vom "Ende der Freiheit". Zudem wurden negative Folgen bei der Einführung der Mehrheitswahl vorhergesagt. Eine Verstädterung der SPD und eine Verländlichung der CDU/CSU wären wahrscheinlich gewesen. Als schließlich wissenschaftliche Untersuchungen der SPD keinerlei Machtchancen bei einer Einführung der Mehrheitswahl prophezeiten, unterstützte sie das Vorhaben nicht weiter und die Wahlrechtsreform unterblieb.
Viele Argumente für die Einführung der Mehrheitswahl verloren in den siebziger Jahren ihre Gültigkeit. 1969 kam es zum Regierungswechsel in Bonn. Bis dahin hatte man daran gezweifelt, ob auf der Basis des Verhältniswahlrechts überhaupt ein Regierungswechsel zustande kommen könne. Die kontinuierlich zunehmende Stimmenanzahl der SPD (1972 schaffte sie es, mehr Stimmen auf sich zu vereinigen als CDU/CSU) und die Umorientierung der FDP von der Union zur Sozialdemokratie ermöglichten den "Machtwechsel". Schließlich erwies sich das bundesdeutsche Wahlsystem als krisenfest. Trotz schlechter Konjunktur und zunehmender Arbeitslosigkeit war es nicht zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft gekommen.