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Faszination Lokaljournalismus Eröffnungsrede von Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, beim Forum Lokaljournalismus 2012 am 28. März in Bremerhaven

/ 16 Minuten zu lesen

Weder im Lesermarkt noch in der Fol­ge dann im Wer­bemarkt werden die Zeitungen be­stehen, wenn die Men­schen sie nicht haben wollen. Deshalb sind wir gut beraten, wieder mehr über Inhalte und Qualität zu reden. Da­rüber, wel­che Karten der Lokaljour­na­lismus hier auf der Hand hat, welche Trümpfe er aus­spielen kann – viel­leicht auch, welche ihm entglit­ten sind, weil die Welt sich verändert hat.

Sehr geehrter Herr Ditzen-Blanke, lieber Herr Dr. Lübben,

gegen Ende unseres 19. Forums Lokaljournalismus in Waiblingen hat sich ein Zeitungsmacher einmal Luft gemacht. Er habe genug von Zeitungskon­gressen, in denen es hauptsächlich um Facebook und Twitter gehe. Er sprach sicher so manch seiner Kolleginnen und Kollegen aus der Seele. Ich möchte sein Wort zum Ausgangspunkt meiner heutigen Überlegungen machen.

Keine Sorge - oder auch kein voreiliger Beifall: Ich will nicht dafür plädieren, in den kom­menden zwei Tagen Facebook und Twitter auszuklam­mern. Das wäre weltfremd ange­sichts des Veränderungsdrucks, der vom Internet und gerade auch von den Sozialen Netzwerken auf alle Medien ausgeht. Aber ich wünsche mir ein Forum, in dem wieder mehr über Inhalte und handwerkliche Qualität ge­sprochen wird; in dem wieder diskutiert und gestritten wird über redaktionelle Strategien zur Bewälti­gung der gro­ßen politisch-gesellschaftlichen Themen, die uns umtrei­ben.

Ich habe das Gefühl: Wenn Sie dies tun, dann lösen Sie den fast hypnotisierten Blick von den unheimlichen Gefahren digitaler Netzent­wicklungen zumindest ein wenig und können die neuen Möglich­keiten besser in den Blick neh­men. Dann sollten Sie bitte auf der anderen Seite auch nicht mehr stän­dig auf von Jahr zu Jahr geringere Papiermengen schielen, die aus den Ro­tationen kommen.

Etwas Anderes sollte Ansporn sein: Noch nie waren die Reichweiten der Zeitungen so hoch wie heute. Es ist eine spannende Erkennt­nis, die der BDZV kürzlich verbreitet hat: 36,3 Prozent der regel­mäßigen Internetnutzer lesen ihre Zeitung im Web. Zu den 48 Mil­lio­nen Le­sern der gedruckten Aus­gaben kommen 25,5 Milli­onen Unique User in einem durch­schnitt­lichen Monat hinzu. Für mich als politischer Bildner ist das eine gute Nachricht.

Natürlich weiß ich, dass Sie das nicht so unbeschwert sehen können. Die Frage nach dem Erlös- und Geschäftsmodell der Zeitungen ist damit nicht beantwortet. Man könnte das Ende der Deister- und Leine­-Zeitung nach 125 Jahren als Menetekel an die Wand malen. Es wird wohl nicht das letzte Traditionsblatt sein, das sich ins Zeitungsmuse­um verab­schiedet. Ande­re bleiben im Rahmen von Konzernstrukturen nur als Markenrelikte übrig – bekannte Hüllen ohne charakteristischen Inhalt.

Die ganze Branche beobachtet mit Argusaugen, ob die New York Times mit ihrem Online-Abonnement oder der Guardian mit sei­ner Kostenlos-Philo­so­phie am Ende erfolgreich sein wird. Und es ist auch nicht tröstlich, dass in Deutsch­land Spiegel Online aufgrund seiner immensen Reichweite und glänzenden Reputation über Werbung gerade mal genug Geld verdient, um keine roten Zahlen zu schreiben. Vielleicht wissen wir über diese Fragen beim kommen­den Forum 2013 mehr. Es deutet sich ja an, dass auf ziem­lich breiter Front mit der Paywall experimentiert werden wird. Ich drücke die Daumen.

Was wir heute schon sagen können: Weder im Lesermarkt noch in der Fol­ge dann im Wer­bemarkt werden die Zeitungen be­stehen, wenn die Men­schen sie nicht haben wollen. Deshalb sind wir gut beraten, wieder mehr über Inhalte und Qualität zu reden. Da­rüber, wel­che Karten der Lokaljour­na­lismus hier auf der Hand hat, welche Trümpfe er aus­spielen kann – viel­leicht auch, welche ihm entglit­ten sind, weil die Welt sich verändert hat.

Wenn weniger Menschen bedrucktes Papier kaufen, auf dem vorwiegend Neuigkeiten vom Vortag zu lesen sind, ist es Zeit sich darüber Gedanke zu machen, welchen informativen Mehrwert der Lokaljournalismus schaffen kann, statt in einer Vortagsaktualität zu verharren. Wie müs­sen die Geschichten aussehen, die die Nachrichten vom Vor­trag im lokalen Kontext deuten, hinterfragen und weiterdenken? Wie können wir den On­line- sowie den Offline-Kanal mit nachhaltigen, kreativen, mutigen und bürger­nahen Inhalten als Forum attraktiv machen? Oder um die Kurzformel zu ver­wenden: Wie können wir den Lesern wieder die Fa­szination Lokaljourna­lismus vermitteln, von der wir alle überzeugt sind?

Ich denke, das lässt sich nicht von den Machern trennen. Die Frage heißt auch: Wie können Lokalredakteure und -redakteurinnen sich wieder auf ihre alten Qualitäten Faktentreue, Fachwissen und Vermitt­lungskompetenzen besin­nen, welche neuen Qualitäten sollten sie sich aneignen?

Der Lokaljournalismus braucht Menschen, die für eine Aufgabe brennen. Die den Journalismus wieder stärker als Beru­fung, auch als politi­schen Beruf begreifen – nicht weil sie die Welt revolutionie­ren wollen wie einst die 68er, wohl aber, weil sie für demokratische Verhältnisse und zi­vilisierte Konfliktaustragung eintreten möchten.

Solche Journalisten und Journalistinnen sind das Fundament der Lokalzeitung – Journalis­ten und Journalistinnen, die mit Herz und Verstand ihre Arbeit machen, solide re­cherchieren, hartnäckig prüfen, kritisch auswählen, glasklar analysieren und intelligent kommen­tie­ren. Ohne pro­fessionelle Journalisten und Journalistinnen gäbe es eine verlässliche Öffent­lichkeit nicht, nur Nachrichtenchaos und Informationswillkür. Die PR könnte trium­phieren.

So weit sind wir nicht: An eindrucksvollen Beispielen kann die „dreh­schei­be“ immer wieder zeigen, wie stark die Rolle der Lokalredak­tionen noch ist: als Mitgestalterin des de­mokrati­schen Gemeinwesens und Teil des gesell­schaftlichen Wandels. Vom ehemaligen Bundesprä­sidenten Horst Köhler stammt der Satz: „Guter Lokaljournalismus lädt die Menschen ein, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ Treff­ender lässt sich kaum sagen, was etwa das "Oberbayerische Volksblatt" in seiner Serie "Was mich freut – was mich ärgert" konkret umgesetzt hat. Die kleinen und großen, die berechtigten und auch die grundlosen Sorgen der Men­schen ernst nehmen und zum Thema machen, öffentliche Diskurse zum lokalen Geschehen anschieben, organisieren und dokumentieren – das ist immer noch die ertragreichste Strategie des Lokaljournalismus.

Alle Redaktionen ha­ben ihre Qualitäts-High­lights, die die Faszination Lokaljournalismus immer wieder aufblitzen lassen. Die tagtägliche Zeitungslektüre hingegen – online wie offline - ist oftmals für Leser und Leserinnen gepflegte Langeweile.

Kennzeichen: sich täg­lich wiederholende Routine gleicher Themenzu­sammenset­zung, an­lassbezogener Terminjournalismus, mangelnde Re­cherche und fehlen­der Hintergrund, PR-getriebene Themen­aus­wahl und so weiter … Kritik, die nicht auf mei­nem Mist gewachsen ist. Das kommt von Ihnen! Das steht in den Dokumentationen der Se­minare und Ta­gungen un­seres Jour­nalistenprogamms früherer Jahre - Selbst­kritik in einer Zeit, als alle noch in dem Glau­ben lebte, die digitale Sturmflut könnte die Funda­mente lo­kaler Zeitungen nie bedro­hen.

Hat sich das in der neuen Konkur­renzsituation auf breiter Front gebessert? Ich habe den Eindruck: NEIN. Das Gesamtan­gebot ist weit entfernt da­von, Leser und Leserinnen für das Produkt Zeitung online wie offline wirklich zu begeistern.

Ich weiß: Wo immer Sie Inhalte neu justieren wollen, bekommen Sie Ärger – beim Verein, beim organisierten Sport, bei Kommunalpolitikern, bei der Ge­schäftswelt und und und …. Können sich Lokalzeitungen heute noch leisten, Leser und Leserinnen zu verär­gern, Abos oder gar Werbekundschaft aufs Spiel zu setzen? Andererseits glau­be ich nicht, dass die selbst auferlegten Berichterstattungspflichten und Selbstzensuren weiter­führen. Alle möglichen Anspruchsgruppen mit ihren gewohnten Inhalten zu bedienen klingt für mich nach keinem zukunftsfähigen Konzept.

Die Mischung macht's: Es müssen keineswegs immer die großen gesellschaftlichen Debatten sein, die das Agendasetting der Lokalredaktion bestimmen ( – auch wenn sie natürlich das Herz des politischen Bildners höher schlagen lassen...). Aber diese Schlüssel­the­men müss­en eben auch sein. Die inhaltlich-konzeptio­nel­le Diskussion über deren Umsetzung in den lokalen und regionalen Medien ist vielleicht in letzter Zeit ein wenig zu kurz ge­kommen.

Wie kann der Lokaljournalismus zum Beispiel Bewusstsein für die Herausforderung des 21. Jahrhunderts schaffen: den „Klimawandel“? Themen­ausgaben "Klima und Um­welt" bei der Rhein-Zeitung, die großen Klimaserien der Volksstimme, der Braunschweiger Zei­tung, des General-Anzeiger, der Waiblinger Kreis­zeitung - das sind alles beachtliche Leistungen. Es ist auch innovativ, wenn Redakteure und Redakteurinnen mit der Thermoka­mera der Energiebilanz von Gebäuden nachspüren. Und es ist hilfreich, wenn Redaktionen unter dem Motto "Klima­wandel - was tun?" Tipps geben, was der Einzelne tun kann. Na­türlich spiegeln sich die Aktivitäten engagierter Bürger und Bürgerinnen und lokalen Initiativen in der Zeitung wider. Aber dass sie alle eine Plattform bekommen, dass sie Inhal­te mitgestalten, dass hier wirklich ein Gespräch der Bürger und Bürgerinnen untereinander über existen­zielle Themen zustande käme – dafür gibt es zu wenige Beispiele.

Bei anderen Themen sieht es ganz ähnlich aus. „Die Berichterstattung über den Alltag der Menschen mit Migrationshintergrund ist in den meis­ten Zeitungen noch immer kein selbst­verständlicher Teil des täglichen The­menangebotes“, hat Ilka Desgranges vom Deutschen Presserat vor ei­nigen Jahren resümiert. Das gilt auch 2012 noch. Es fehlt nicht an schö­nen Ge­schichten und Serien. Viele Zeitungen sind im Streit über den Moscheen­bau tapfer in die Bresche gesprungen. Der Negativismus bei der Darstellung der Themen Migration und Integra­tion wurde weiter abgebaut – kaum allerdings die Islamophobie!

Was sind unsere Maßstäbe für gelunge­ne Integration? In der Exper­ten­dis­kussion ist neben das Konzept Integration inzwischen das Kon­zept Di­versity getreten. In den lokalen Medien spiegelt sich das kaum wider. Die Jour­nalisten und Journalistinnen – nicht nur die lokalen – könnten die Debatte bereichern, wenn sie diese Dinge stärker re­flek­tierten und ihre Schlussfolgerungen zögen. Wenn sie den Problemen, Sorgen und Nöten mehr auf den Grund gingen, wenn sie auf diese Men­schen zugingen, um ih­nen eine Plattform anzubieten und ihr Vertrauen zu gewinnen.

Am Rande bemerkt: Die noch viel zu wenigen Journalisten und Journalistinnen aus den Mi­grantengruppen, wer­den das allein nicht richten. Nein, es ist die Gesamtheit der Lokalredaktion, die gefordert ist – auch in ih­rem Mut, unbequemen Themen beharrlich nachzu­gehen. In ihrem Willen, Lokaljournalismus für alle zu machen und nicht zum Sprachrohr derer zu machen, die die Zeit gerne zurückdre­hen würden.

Da bleibt dann Gegenwind nicht aus. Aber ist das nicht bei allen Themen so, bei denen die Gesell­schaft um den Konsens ringt? Die Redaktionen der bei­den Stuttgarter Zeitungen haben da harte Erfahrungen gesammelt. Es war be­wundernswert, mit welchem Aufwand und Ideen­reichtum sie die Aus­ein­an­dersetzungen um Stuttgart 21 be­gleitet haben. Wie sollen sich Lokalre­dak­teure und -redakteurinnen verhalten, wenn ein Riss durch ihre Leserschaft geht? Wenn die einen mit heißem Herzen für und die anderen erbittert gegen den Wind­kraft­park, die neue Stromtrasse oder die Biogasanlage kämp­fen? Wie po­sitio­niert sich die Lokalredaktion im Umgang mit den so genannten Wutbür­gern und -bürgerinnen?

Eine notwendige Diskussion. Aber ich denke, dass sie im Kern gar nicht ent­scheidend ist. Die Zeitung kann sich gut be­gründet einsetzten für oder gegen etwas. Wichtig ist die Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit, in der sie das eine oder das andere tut. Sie kann ge­nauso gut be­gründet sagen: Wir sehen gute Argumente auf beiden Sei­ten und geben den Argumenten beider Konfliktparteien Raum. Stefan Kläsener, Chefre­dakteur der West­falenpost, hat es so de­finiert: „Entscheidend ist, dass die Zeitung ak­tiv in das Gesche­hen ein­greift – nicht parteiisch, aber themenführend. Entscheidend ist, dass wir nicht Getriebene fremder Argumente sind – seien es die der Bürgerinitia­tiven oder die der Lobbyisten. Ent­scheidend ist, dass wir jedes Argument, das in die Waagschale geworfen wird, überprü­fen.“

Viele Zeitungsmacher und -macherinnen gehen noch davon aus, dass ihr Medium offline wie online ernst und wichtig ge­nommen wird, weil das 200 Jahre lang so war. Von dieser traditionellen Glaubwürdigkeit ist ja auch immer noch viel übrig. Aber es wächst eine Gene­ra­tion heran, für die das nicht mehr selbstverständlich ist.

Wenn Lokalredaktionen hier die Nase vorne behalten wollen, sollten sie meiner Meinung nach drei Problem­felder beackern:

1. Sie sollten ihr Verständnis des Lokalen hinterfragen

Gibt es den lokalen Raum eigentlich noch so, wie es ihn früher ge­geben hat? Ein Medium, das „Nähe“ seit 200 Jahren zur Basis seines Er­folges gemacht hat, muss darüber nachden­ken: Ist „Nähe“ noch in glei­cher Wei­se räum­lich abgegrenzt wie in den vergangenen Jahrzehn­ten? Darauf hat beim 19. Forum Lokaljournalismus in Waiblingen Jens Lönnecker hingewiesen – ein Ge­danke, den Sie nach meiner Überzeugung bei der Diskussion über den Theme­n­mix des Lokal­journalismus im Auge behalten sollten.

Immer mehr Menschen verbringen große Teile ihres Tages im Netz. Das ist für mich der Kern dessen, was wir begreifen müs­sen. Den Zugang zum Internet tragen wir per Tablet oder Smartphone ständig und überall mit uns herum. Jeden Moment können wir faszinierende Dinge abrufen und erle­ben, die da­durch immer mehr in unser reales Le­bens ein­fließen. Kommunikation in Echtzeit, jeder kann seine Meinung in die Welt hinaus po­saunen, sich beschweren, Antworten fordern. Aus der vermeintli­chen Anonymität der eigenen digitalen Existenz heraus wächst noch der ängstlichste Zeit­genosse als Superkritiker und Wutbürgerin über sich hinaus. Wir sollten darüber nachdenken, wie die Entgrenzung der Mög­lichkeiten die Menschen verän­dert, ihr Selbstbewusstsein, ihre An­spruchshaltung – und was das für das journalistische Produkt bedeutet.

Die Wirtschaft tut das längst: Sie bekommt massiv zu spü­ren, was es heißt, live mit fordernden, kritischen Kunden und Kundinnen konfrontiert zu sein. Manche versu­chen es mit Ab­schotten – doch es zeigt sich, das sich das rächt. Ande­re öffnen sich für den anstren­genden Dialog - bis hin zur Einbezie­hung der Kundinnen und Kunden in die Produktent­wicklung.

Die Politik steht im gleichen Lernprozess noch ziemlich am Anfang. Sie sieht, dass sich wieder mehr Menschen, vor allem Jugendliche, um ge­sell­schaftli­che und politische Fragen kümmern - über das Netz. 31 Prozent der in der Shell-Studie be­fragten Jugendli­chen können sich vorstellen, sich im Inter­net oder über Twitter kurzfris­tig über Aktionen zu informieren und dort mitzumachen. Aber gerade mal 17 Prozent würden in einer Partei oder poli­ti­schen Gruppe mitarbeiten wollen.

Bodo Hombach, ehemaliger Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, hat es so aus­gedrückt: „Der Souverän wartet nicht mehr auf den nächsten einsa­men Moment in der Wahlkabine. Er will auch unterwegs genauer wissen, wie und wohin der Hase läuft. Das ist Trend (…). Die Ge­sellschaft der Zukunft ist eine Dialoggesellschaft...“ Es hat wenig Sinn, das Leben im Netz kulturkritisch dem „real life“ ge­gen­überzustellen. Wir müssen lernen: Das Netz hat die Le­benswelt für viele Menschen ausgeweitet – es hat die Welt tatsächlich kleiner ge­macht. Das globale Einkaufserlebnis im Netz tritt in Konkurrenz zum lokalen Einzelhan­del, der Live-Stream eines großen Rockkonzerts aus Australien lässt die örtliche Unterhaltungswelt verblassen und die riesige Fülle von Webinaren ist auf vielen Gebieten attraktiver als der Vortrag in der Volkshochschule.

Die Anziehungskraft der virtuellen Orte bedeutet nicht, dass die Gleichaltrigenclique, die Verei­ne, die Kneipe und die Disco entfallen. Das passt alles ganz gut nebenein­ander. Was wir unter „sozialem Umfeld“ verstehen, hat sich besonders für jüngere Men­schen verändert. Es findet in den sozialen Netzen in anderer Weise statt, als meine Generation das kannte.

Die reale Nähe und die digitale Nähe müssten sich im Lokaljournalismus zu einer neuen Form von „Nahwelt“ verbinden, die nicht nur räumlich, sondern emotional definiert ist. Jedes Thema ist auch ein lokales The­ma, hat die Ihnen vorausgehen­de Lokaljournalisten-Generation schon vor 25 Jahren in den Seminaren pos­tuliert und dafür vielfältige Modelle entwickelt. „Herun­terbrechen auf die loka­len Verhältnisse“ hieß die Devise. Aber geht das noch weit genug, die Spiegelung der großen Fragen unserer Zeit im Loka­len aufzusuchen und darüber hintergründig zu berichten?

Der umgekehrte Weg fällt Lokaljour­nalisten und -journalistinnen zu selten ein – danach zu fragen, wie lo­kales Geschehen, das Tun oder Lassen von Bürgern und Bürgerinnen, Politik und Wirtschaft mit den großen Fra­gen unserer Zeit zusammenhängt.

2. Sie sollten neu nach Ihrer eigene Rolle im lokalen Diskurs fragen

Ich beobachte mit Respekt, mit welchem Einsatz Zeitungsmacher und -macherinnen dafür kämpfen, einen Journalismus zu entwickeln, der den Heraus­forde­rungen des Web 2.0 gewachsen ist. Sie versuchen, in einen echten Dialog mit ihren Lesern und Leserinnen einzutreten, Zeitung gemeinsam mit ihnen zu machen, ohne sich anzubie­dern. Für einen solchen Ansatz hat die Braun­schweiger Zeitung schon 2009 den Lokaljournalisten­preis der Konrad-Adenauer-Stiftung er­halten.

Ich finde es spannend, wie stark und kreativ immer mehr Redaktio­nen das Instrumentarium des Netzes selbst für diesen Dialog und die Bin­dung der Leserschaft einsetzen. Die Redakteure und Redakteurinnen der Rhein-Zeitung etwa sind an allen Front auf Facebook, Twitter, Youtube und noch mehr Plattformen aktiv. Das findet Anerkennung selbst bei Zeitgenos­sen, die sich eigentlich von der ge­druckten Zeitung verabschiedet hat­ten.

Nach meiner Überzeugung ist das der Weg. Ich frage mich, ob er wirklich schon konsequent genug beschritten wird. 2012 haben die meisten Jour­nalisten und Journalistinnen das Internet verstanden. Für ihre praktische Arbeit an den lokalen Themen hat das aber meist nur insofern Konsequenzen, als dass eventuell Text­va­rianten für unterschiedliche Kanäle entstehen müssen. Wenn's hochkommt, macht man sich Gedanken über Audiovisuelles . Die Zei­tungen präsentieren stolz den Hausblogger auf der Website und den "Tweet des Tages" in der Zeitung. So­bald aber irgendwas im Netz nicht zum bis­herigen Geschäftsmodell passt, wird es bejammert, verbannt, ver­schwie­gen. Oder die Verleger denken gleich einmal über eine Klage nach.

Echtzeitjournalismus im Dialog mit den Leserinnen und Lesern ist ein Strang der Diskus­sion, die zu führen ist, Open Journalism, wie der Guardian das nennt. Das be­deutet: die Lokalmedien arbeiten nicht für eine unbekannte Le­serschaft da drau­ßen irgendwo, sondern stützen sich auch auf ihr Wissen, ihre Er­kennt­nisse, be­ziehen Leserinnen und Leser sogar in ihren Arbeitsprozess ein. Aus Ihren Rei­hen wird diese Form des Journalismus gerne verspottet, als irrelevant abgetan. Ich halte das für einen Feh­ler.

Journalistinnen und Journalisten müssen sich von ihrem hohen Ross herunter begeben: Sie sind es nicht mehr alleine, die heute die Agenda be­stimmen. So mancher Ihrer Leserinnen und Leser mischt mit im Konzert der Meinungs­bildung. Mancher Blogbeitrag, mancher Tweet entfaltet mehr Wir­kung als der Leitartikel in der Lokalzeitung. Gut recher­chieren und schrei­ben können reicht ein­fach nicht mehr. Wir brauchen Profi-Journalisten und -Journalistinnen, die willens und fähig sind zum Ge­spräch mit kritischen Le­serinnen und Lesern, sie müssen vertreten kön­nen, was sie tun. Sie müssen die Kritik und Gedanken ihrer Leserschaft ernst nehmen und aufgrei­fen, ohne dabei auf eigene Positionen und Anliegen zu ver­zichten.

Um keine Missverständnis aufkommen zu lassen: Leserbeteiligung in die­sem Sinne ist nicht die Zauberformel, sie löst nicht mit einem Schlag alle Probleme – schon deswegen nicht, weil sie immer Minderhei­ten anspricht und nicht die Masse . Aber es ist eine Fa­cette dessen, was neben der weltoffenen Themenpalette den Lokaljournalis­mus der Zukunft aus­ma­chen und ihn attraktiv machen kann. Alles beides zusammen reicht aber auch nicht, wenn die Basis nicht stimmt. Und damit sind wir beim dritten und wohl kritischsten Punkt:

3. Sie müssen mit Informationsqualität überzeugen

So wichtig es für die Leserinnen und Leser ist, ihre Themen aus neuer lokaler Perspektive erzählt zu finden und auf Wunsch auch eine Chance zum Dialog und Mit­wirken zu bekommen: Von journalisti­schen Angeboten er­warten sie in er­ster Linie Information und Orientierung, „keine virtuellen Kaffeekränz­chen“, wie Pierre Gehmlich kürzlich in der Zeitschrift „Message“ schrieb. Es sind die alten journalisti­schen Tugenden: akribische Recherche, soli­der Hintergrund, saubere Ana­lyse, Transparenz der Quellen. Und wenn dazu noch alles gut ver­ständlich, möglicher­weise sogar mit einem Hauch von Unterhaltsamkeit prä­sentiert ist - dann fasziniert die Zei­tung Leserinnen und Leser mit lokalen Ge­schichten.

Es geht mir nicht darum, dass Lokalzeitungen sich als Konkurrenz zu Blättern wie Zeit, FAZ, Spiegel oder Süddeutsche Zeitung verstehen. Von einem neuen Ver­ständ­nis des Lokalen her gedacht und im Dialog mit den Leserinnen und Lesern erstanden, könnten die lo­kalen Themen eine ganz andere Qualität haben. Eben eine spezifisch neue lokaljournalisti­sche Qua­lität, die zu definieren Ihre Sache ist.

Die Umsetzung al­lerdings er­fordert viel Aufwand – sie kostet Geld, keine Fra­ge. Hier schließt sich der Kreis. Durch ständige Kos­tensen­kung die Profitabi­lität erhalten zu wollen, ist langfristig eine Milchmädchen­rech­nung. Was das angeht, sehe ich die derzeitige Entwicklung in den deutschen Zei­tungshäusern mit gemischten Gefühlen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Einschnitte auf Kosten von Qualität gehen. Andererseits mag ich nicht in das Klagelied einstimmen, jede strukturelle Anpassung sei des Teufels. Die Zwei-Drei-Mann-Lokalredaktionen waren selten Vorposten des Quali­täts-Lokaljournalismus. Wenn es heute größere Zeitungshäuser mit über­örtlichen oder gar überregionalen Struktu­ren für Austausch und Ko­operation versuchen, muss das ebenso wenig der Anfang vom Ende sein. Warum sollten sich solche Strukturen im Zeitalter des interaktiven Web nicht kreativ nutzen lassen? Wieso kann man nicht dezentrales, auf viele Redak­tionen verstreutes Wissens-, Recherche- und schreiberisches Potential themenorientiert für lokale Geschichten nutzbar machen? Warum nicht auch das Wissen der Leser stärker nutzbar machen?

In unserer fleißig kommunizierenden, produzierenden und partizipierenden Gesellschaft ist journalistische Qualität nicht mehr alleine das Werk des ein­zelnen, an seinem Schreibtisch vor sich hin recherchierenden und schrei­benden Journalisten. Dialog, Kooperation und Austausch, so wie sie ihn hier im Lokaljournalistenprogramm ja bereits praktizieren, sollte den redak­tio­nellen Alltag prägen – auch über Redaktionsgrenzen hinaus. Die Zahl der Menschen wächst, die nicht nur über die verschiedenen Kanäle bespielt sein wollen, sondern von Fall zu Fall gerne auch einmal selbst mitspielen.

Nach meiner Meinung sollten die Zeitungen viel konsequenter ihre Ge­schäfts­modelle aufbrechen, radikaler ihre organisatorischen Strukturen hin­terfragen und mutiger ausprobieren, was geht und was nicht. Könnte es nicht beispielsweise sein, dass für den Erfolg im hyperlokalen Raum die heutigen Zeitungsunternehmen viel zu unbewegliche Tanker sind? Andere Branchen machen es vor, wie man in veränderten Märkten mit angepassten Business-Units agieren und erfolgreich sein kann.

Diese könnten mögli­cherweise sogar neue Erlösmodelle finden – bis hin zum Crowdfunding. Die Plattform Externer Link: Spot.us zeigt in den USA, dass dies auch im Journalismus funk­tionieren kann: Seit 2008 sammelt sie Monat für Mo­nat durch­schnittlich 7000 Dollar Spenden – Geld mit dem lokale Themen­vorschläge und Ge­schichten realisiert werden können.

Entscheidend ist für mich, was bei den Leserinnen und Lesern ankommt. Unsere Demokratie braucht so viel exzellenten, recherchestarken Lokaljournalis­mus, wie sie bekommen kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihren Beratungen während der nächsten zwei Tage eine große Portion Unverzagtheit und viele kreative Durch­brüche.

Viel Erfolg dabei und viele guten Gespräche!

- Es gilt das gesprochen Wort -

Fussnoten