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Grußwort für die Tagung "Bürger begehren. Technologische Innovationen als gesellschaftliche Herausforderung" | Presse | bpb.de

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Grußwort für die Tagung "Bürger begehren. Technologische Innovationen als gesellschaftliche Herausforderung"

/ 13 Minuten zu lesen

Selbstbewusste Bürger in der Technologiebewertung – ein Ziel für die politische Bildung

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Münch, sehr geehrter Herr Dr. Geisler, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Papier, meine sehr verehrten Damen und Herren,

wie stark und mit welch ungeheurer Geschwindigkeit Technik unser Leben, unseren Alltag zu verändern vermag, zeigt ein Blick auf die jüngste Geschichte der I- und-K-Technologien. Vor 15 Jahren war es nur eine technisch interessierte Minderheit, die mit dem Begriff Internet etwas anfangen konnte. Heute ist es eine verschwindend kleine Minderheit, deren Leben und Arbeit nicht wesentlich von E-Mails, URLs und Social Media bestimmt werden. Die Frage ist, was für Konsequenzen sich daraus für unsere Zukunft ergeben. Steuern wir angesichts der Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit von Google, Microsoft oder Apple und angesichts staatlicher Vorratsdatenspeicherung auf ein Zeitalter totaler Transparenz zu? Auf eine Zukunft, die keine Anonymität und keine Privatsphäre mehr kennt oder zulässt? Manche haben auch die Sorge, dass wir durch die Möglichkeit der Ortung von Handys und die Einführung von RFID-Tags, also Funketiketten, in den neuen Personalausweis, jederzeit auffindbar seien.

Diese technischen Möglichkeiten werfen zu Recht die Frage auf, ob wir das alles so wollen oder wo wir der Transparenz Grenzen setzen sollten. Dies ist eine zutiefst politische Diskussion und damit ein wichtiges Thema für die politische Bildung.

Die I-und-K-Technologien sind gegenwärtig nur die im Wortsinne augenscheinlichsten Entwicklungen. Was geschieht eigentlich in der Biotechnologie, was in der Gehirnforschung oder Nanotechnologie? Welche Perspektiven eröffnet die synthetische Biologie, in der Bio-, Nano- und Informationstechnologie zusammengeführt werden?

All diese Technologiefelder eröffnen ungeheure Möglichkeiten, bergen aber auch Risiken und Nebenwirkungen für Mensch, Umwelt, Gesellschaft und Politik, die es zu ermitteln gilt und über die wir nachdenken müssen. Schließlich geht es immer auch um das Selbstverständnis des Menschen. Die gesellschaftlichen Technologiediskurse in den vergangenen zwei Jahrzehnten drehten sich neben der Erörterung der jeweiligen Chancen und Risiken deshalb immer auch um die folgenden Fragen:

  • Dürfen wir alles, was wir können?

  • Wollen wir wirklich alles, was möglich ist?

  • Gibt es im Umgang mit der Natur und/oder der Menschenwürde Grenzen/rote Linien, die wir nicht überschreiten dürfen?

In der Beantwortung dieser Fragen sollten wir allerdings folgende Punkte berücksichtigen:

  1. Wissenschaftlicher Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Wenn wir es nicht tun, tun es andere und wir haben die Wettbewerbsnachteile.

  2. Jede neue Technologie ruft Ängste und Bedenken hervor, die man ernst nehmen, von denen man sich jedoch nicht grundsätzlich abschrecken lassen sollte – anderenfalls wären auch die Eisenbahn, das Telefon oder das Auto nie erfunden worden. Technologischer Fortschritt führt eben in vielen Fällen zu gesellschaftlichem Fortschritt und mehr Freiheit des Einzelnen.

Stehen wir also vor einer Zukunft, deren Entwicklung eine Eigendynamik entwickelt hat? Oder können wir sie immer noch selbst gestalten bzw. bestimmen, wohin der Weg geht? Wissenschaft und Technologie weisen nicht nur eine hohe Prägekraft für die gesellschaftlicher Entwicklung auf, sondern sind zugleich selbst von gesellschaftlichen Interessen, Trends und Entscheidungen abhängig. Wissenschaft und Technologieentwicklung vollziehen sich nicht naturwüchsig oder aufgrund unbeeinflussbarer Sachlogiken, sondern sind determiniert von divergierenden Interessen, von Gewinnerwartungen, von ethischen Wertentscheidungen, von finanziellen Förderungen, von Gesetzen und Verordnungen, deren Zustandekommen und Gestalt wiederum von den genannten Einflüssen abhängig ist. Wissenschafts- und Technologieentwicklung vollzieht sich in einem komplexen und kontinuierlich sich weiterentwickelnden Wechselverhältnis mit der Gesellschaft. Wissenschaftliche und technische Innovationen sind zugleich Produkte und Gestalter gesellschaftlich-politischer Entwicklung.

Die Folge ist eine neue Form von Wissenserzeugung, die wissenschaftstheoretisch als Modus II bezeichnet wird: Es existieren keine dominanten Akteure mehr, die Wissen quasi von oben nach unten weiterleiten und dabei – einer unaufhaltsamen alternativlosen eigenen Logik folgend – die Richtung und den Gang der Dinge bestimmen. Wissen entwickelt sich stattdessen in einem kontinuierlichen Diskurs innerhalb und zwischen unterschiedlichen Netzwerken. Die permanente Interaktion, der Transfer in Diskursmodellen wird quasi zu einer Pflichtaufgabe und zum Gestaltungsmerkmal des Wissenschaftsbetriebes. Dies führt zwangsläufig zu einer veränderten Governance. Bei den Entscheidungen über die jeweils einzuschlagenden Pfade von Wissenschaft und Technik sind dann Fragen wie die folgenden zentral:

  • Wer entscheidet (mit)?

  • Wer gestaltet die Entwicklung und mit welcher Legitimation?

  • Wessen Interessen werden mit welchem Gewicht einbezogen?

  • Welche Werte prägen die Entscheidungen?

Wissens- und Technikproduktion sind also mithin politische Handlungs- und Entscheidungsfelder. Sie beinhalten – und das darf nicht ausgeblendet werden – politische Machtfragen, die nur in einem demokratischen Prozess entschieden werden sollten, wenn wir und nicht in die Orwell'sche Falle begeben wollen: Alle Menschen sind gleich. Manche sind gleicher.

Vor dem hier skizzierten Hintergrund sind Forschungs- und Technologieentwicklung ein zunehmend bedeutsamerer Gegenstand einer politischen Bildung, die zukunftsbezogen Informationen vermittelt und deren Ziel es ist, die Bürgerinnen und Bürger in der Erkenntnis und Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen zu unterstützen. Die Auseinandersetzung der politischen Bildung mit Naturwissenschaft und Technik unterscheidet sich vor diesem Hintergrund wesentlich von einem traditionellen Verständnis öffentlicher Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Anwendungen. Sie kann sich nicht, wie etwa in Popularisierungsstrategien z.B. in Public Understanding of Science angelegt, in Form einer Kaskade vollziehen, indem – ganz im Sinne der Plotin'schen Emanationstheorie – vom spezialisierten Experten das Wissen über unterschiedliche Vermittlungs-, Anschauungs- und Erfahrungswege hinab zu den aufnahmebereiten Laien fließt. Vielmehr sind ein öffentliches Verständnis und eine angemessene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Natur- und Technikwissenschaften nur in Formen des Diskurses – also kommunikativen Handelns – möglich.

Es sei dabei durchaus erst einmal dahingestellt, ob sich das dann in Deliberation erschöpft oder in Chantal Mouffes alternatives Paradigma des politischen Kampfes. Wir können abwägen, uns entscheiden zwischen Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken – sowohl von wissenschaftlichen Entwicklungspfaden als auch von technologischen Großprojekten. Wir können – zumindest im Grundsatz – individuell und kollektiv herausfinden, was wir auf keinen Fall oder eher nicht wollen und den Verzicht auf die dann entfallenden Vorteile, Möglichkeiten und Annehmlichkeiten akzeptieren. Das beschriebene Wechselverhältnis zwischen Technik und Gesellschaft ist gestaltbar. Damit eröffnet sich prinzipiell auch die Möglichkeit zum Risikomanagement, privat, ökonomisch und politisch. Die Herausforderung besteht dann darin, die vielfältigen Alternativen zu erkennen, Entscheidungskriterien zu entwickeln und Entscheidungsprozesse zu organisieren und zu moderieren. Das klingt gar nicht so schwer, ist aber angesichts ungemein zunehmender Komplexität, Beschleunigung und Interessenkollisionen in der Regel höchst kompliziert.

Welche politischen Konflikte ausgelöst werden können, haben wir beispielhaft an den Debatten und Entscheidungen zur Stammzellforschung und zur Präimplantationsdiagnostik erlebt. Sehr viel häufiger erleben wir allerdings die Vermeidung von Debatten. Stattdessen beobachten wir den Versuch der möglichst unhinterfragten politischen Durchsetzung technologischer Innovationen oder Projekte. Die Verlockung, Tatsachen zu schaffen und damit Sachzwänge zu kreieren, die einen anderen als den eingeschlagenen Weg unmöglich machen, mag groß sein, führt aber oft zu viel größeren Konflikten. Die grüne Gentechnologie oder die gestern Abend und heute Morgen ausführlich diskutierten Projekte Stuttgart21 und der Flughafenausbau in München sind aktuelle Beispiele, deren Facetten Vorboten gesellschaftlicher Polarisationen sind.

Neben konkreten Risiken wie beispielsweise bei der Atomenergie gibt es in Wissenschaft und Technologie auch perspektivische Risiken – aber natürlich auch Chancen –, die nur abstrakt weil noch im Entwicklungsstadium befindlich sind. Hierzu gehört die Kombination verschiedener bekannter Technologien oder die Entwicklung neuer Wissenschaftsbereiche einschließlich ihrer potenziell missbräuchlichen Anwendung. Welche neuen Formen von Bewusstsein ergeben sich aus der Vereinigung von Neurowissenschaften und Informations- und Kommunikationstechnologien und welche Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten haben Mensch und Gesellschaft? Welche Potenziale liegen in der synthetischen Biologie, in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie zusammengeführt werden und in der der Mensch nicht mehr nur Artefakte schafft oder natürliche Prozesse manipuliert, sondern selbst zum Schöpfer neuen Lebens wird – mithin bislang göttliche Eigenschaften für sich zu reklamieren beginnt? Werden die Schöpfungen der Robotik weiterhin dem Menschen unangenehme oder aufgrund von Alter und Krankheit nicht mehr mögliche Tätigkeiten abzunehmen oder ist die Vision selbst handelnder, vom Menschen nicht mehr kontrollierbarer Maschinen gar nicht so abwegig? Und was geschieht, wenn die hier nur angedeuteten wissenschaftlich-technischen Potenziale zum Instrumentarium autoritärer Regime oder Terroristen werden?

Fragen wie diese sollten – wie Wolf-Michael Catenhusen gestern, immer wieder betont und begründet hat – im Planungsstadium einer Entwicklungslinie gestellt und entschieden werden – nicht reaktiv im Nachhinein. Technik darf sich nicht „ereignen“, sondern muss idealtypisch im Diskurs zwischen Wissenschaft, Anwendern und Gesellschaft entwickelt/ausgehandelt werden. Die Realität ist dies leider noch nicht, aber es bleibt ein anzustrebendes, normatives Ziel in einer sich deliberativ verstehenden Demokratie.

Gefragt ist deshalb ein individuelles wie kollektives Risikomanagement, das auf Information und einer Balance zwischen Interessen und ethischen Wertentscheidungen gegründet ist. So nachvollziehbar dieser schlichte Anspruch klingt, so schwer einzulösen ist er angesichts der inhaltlichen politisch-ethischen Komplexität einerseits und der enormen Beschleunigung des Lebens andererseits. Dass dieses Risikomanagement nicht auf die Ebene der Spezialisten und politisch-ökonomischer Entscheidungsträger begrenzt bleibt, sondern möglichst viele Menschen daran teilhaben können, die vielleicht nicht aktiv beteiligt, aber sehr wohl betroffen sind, ist ein unverzichtbares Ziel. Dass möglichst viele der sogenannten Laien sich trauen, ihren Anspruch auf Partizipation einzufordern und wahrzunehmen, ist ein zentrales Ziel politischer Bildung. Wir brauchen selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger, die sich in den gesellschaftlichen Willensbildungsprozess einbringen und in die politischen Konflikte einmischen. Sie dafür zu qualifizieren, sie dabei zu unterstützen, ist Aufgabe und Ziel politischer Bildung. Denn der Kern politischer Bildung ist nicht die Wirtschafts- oder Regierungs-PR, sondern reflektiertes Bewusstsein, politische Abwägung und Aktivierung – und das kann nur in Bildungsprogrammen angeeignet werden.

Konzeptionell können in diesem Zusammenhang folgende Ziel- und Handlungsdimensionen politischer Bildung benannt werden, die auch und gerade für die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Entwicklungen und technologischen Projekten Gültigkeit – mithin also ein Curriculum, ein kleiner Bildungskanon von T-Folgenabschätzung im Kontext politischer Reflexion – haben:

  1. Sachanalyse und Komplexitätsreduktion: Fachinformationen sollten die inhaltlichen Sachzusammenhänge sowie die politisch-gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Zusammenhänge erschließbar und nachvollziehbar machen.

  2. Entschleunigung: Formate und didaktische Arrangements sollten bewusst das medial und zeitgeistbedingte Tempo reduzieren und Raum für Informationsvermittlung, Reflexion und Dialog bieten – Stichwort: Open Space.

  3. Entwicklung von Kompetenzbewusstsein: Bürgerinnen und Bürger sollen befähigt werden, eigene Urteile zu fällen und Handlungsspielräume einschließlich ihrer Grenzen zu erkennen. Sie sollen ermutigt werden, Position zu beziehen, und erfahren, dass sie mit dem eigenen Engagement erfolgreich sein können.

  4. Interessen, Potenziale und Bündnispartner identifizieren: Es geht darum, die eigenen und die ihnen entgegenstehenden Interessen zu erkennen, inhaltlich-politische Gestaltungspotenziale zu erkennen und Bündnispartner bei der Verfolgung eigener Ziele und Interessen zu finden.

  5. Strategien politischen Handelns und Initiierung von Selbstorganisation/Empowerment und Kompetenzen: Einerseits geht es darum, vorhandene lokale oder regionale Handlungsmöglichkeiten strategisch auf die komplexen übergeordnetem Zusammenhänge zu beziehen und andererseits um eine Art neuer Institutionenkunde, die vor allem die Mitwirkungsmöglichkeiten in Initiativen und Nichtregierungsorganisationen umfasst. Hierzu gehört auch die Einbeziehung der Möglichkeiten von netzbasierter Kommunikation, von Foren oder sozialen Netzen.

Technologiepolitische Kontroversen sind immer auch ethische Kontroversen, da sie häufig das gesellschaftliche Normen- und Wertgefüge tangieren. Ethik kann dabei verstanden werden als methodisch geführte Auseinandersetzung über die Wertgrundlagen des menschlichen Handelns. Die Frage nach den grundlegenden Werten der in einer Gesellschaft zusammenlebenden Menschen ist kein Fall für Spezialisten, sondern kann nur in einem gesellschaftspolitischen Diskurs erörtert und entschieden werden. Damit kommt den Bürger- beziehungsweise Laienbeteiligungsverfahren eine wesentliche Bedeutung zu. Sie haben eine ergänzende Funktion zu den bereits bestehenden Experten- und Stakeholder-Diskursen: Gerade wenn die Chance genutzt wird, zum Beispiel durch problemorientierte statt technikinduzierte Herangehensweisen, Erfahrungen aus dem lebensweltlichen Alltag nicht nur der Beteiligten, sondern auch der Betroffenen zuzulassen, kann der öffentliche Diskurs um Technikbewertung und -entscheidung in Bewegung gesetzt werden, meine Damen und Herren. Hier liegt ein wichtiger didaktischer Ansatzpunkt für die politische Bildung. Gerade technische Laien können in ethischen Bewertungsfragen ein hohes Kompetenz- und Selbstbewusstsein entwickeln, mit dem sie wissenschaftliche Projekte hinterfragen und sich in die Debatte einmischen können.

Zu klären wäre in diesem Zusammenhang, ob und wie die öffentlichen Stakeholder, die wissenschaftlichen Experten und die zivilgesellschaftlichen Akteure besser zusammenwirken können, um den gesellschaftlich-diskursiven Boden politischer Entscheidungen im Bereich wissenschaftlich-technischer Entwicklungen und ihrer politischen und sozialen Folgen zu bestellen. Dabei sollen die Aktionsfelder nicht pauschal und populistisch legitimiert werden, sondern durch Komplexitätssteigerung positiv problematisiert werden.

Für die Zukunft der repräsentativen Demokratie mindestens ebenso wichtig ist aber die Frage nach der Akzeptanz und dem kompetenten wie selbstbestimmten Umgang der Menschen mit diesen Entwicklungen. Hierfür ist es unabdingbar, den Technologiediskurs gezielt um den Diskurs mit den technologischen und wissenschaftlichen Laien zu erweitern. Folgerichtig gerät die Frage nach der Wirksamkeit und Reichweite von Formaten der Bürgerbeteiligung im Kontext partizipativer Technikbewertungsverfahren in den Fokus der politischen Bildung. Unterschiedliche Formate auf Partizipation gerichteter demokratischer Technikfolgenabschätzung und -bewertung stellen einen konzeptionellen Zugang dar, der für die Beteiligten die Durchdringung der Materie, die eigene Positionierung und Handlungsmächtigkeit eröffnet.

Beispiele für eine partizipative und diskursive Technikbewertung gibt es in Deutschland bisher nur als ausgewählte Modellprojekte. In anderen Ländern, vor allem in der Schweiz, in Dänemark oder in den Niederlanden sind sie erheblich weiter verbreitet. Wir werden morgen Vormittag diese internationalen Erfahrungen diskutieren. Ansätze wie Bürgerkonferenzen, Szenariotechniken, Konsensuskonferenzen, Online-Konferenzen oder Diskurstagungen bieten vielfältige Ansatzmöglichkeiten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie wissenschaftliche Laien dazu qualifizieren, sich an der technologiepolitischen Debatte inhaltlich zu beteiligen, dass sie darin unterstützen, auf der Basis eigener Werthaltungen und Interessen eine Position zu entwickeln und in der Gruppe zu diskutieren, dass sie ihnen ein Gespräch ermöglichen mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen und Verantwortungsträgern in Politik, Wirtschaft, Administration und Medien und dass sie zur zielgerichteten politischen Aktion anregen und befähigen.

Ein wichtiges Desiderat von Bürgerbeteiligungsverfahren ist die fehlende institutionelle und formale Einspeisung der Ergebnisse von Partizipationsverfahren in den Prozess der politischen Willensbildung. Gelingt es nicht, Ergebnisse von Technikbewertungsverfahren und Bürgerdialogen so in den politischen Entscheidungsprozess einzuführen, dass die beteiligten Bürgerinnen und Bürger den berechtigten Eindruck gewinnen, ernst genommen zu werden und mit ihrem Engagement wirksam zu sein, werden sich die Konflikte um Projekte wie Stuttgart21 oder den Münchner Flughafen verschärfen.

Für die politische Bildung kann ein erster Schritt sein, auf der Fachebene unter Einbeziehung der internationalen Erfahrungen die politischen und pädagogischen Potenziale partizipativer Technikbewertungsverfahren zu erfassen und zu reflektieren, um sie anschließend in evaluierten Modellprojekten in das Angebotsspektrum politischer Bildung einzuführen.

Die Träger und Einrichtungen politischer Bildung können sich im Feld der Technologiepolitik und Technikbewertung ein Themenfeld erschließen, dessen politische und gesellschaftliche Relevanz dadurch an Profil gewinnt und gleichzeitig die Bedeutung der politischen Bildung auch für ganz „handfeste“ Themen jenseits von Demokratietheorien aufzeigt. Zu wünschen ist, dass ihre Träger und Einrichtungen sich stärker als bisher mit Neugier und Engagement auf das damit verbundene fachliche, pädagogische und politische Abenteuer einlassen.

Eine zunehmend wichtigere Rolle spielt auch in diesem Kontext das Internet. Nicht nur, dass es Sinnbild für die ungeheure Beschleunigung der technologischen Entwicklung ist, sondern es setzt auch neue Parameter für den gesellschaftlichen Diskurs und damit sowohl für die Strategien von Bürgerdialogen als auch für die konzeptionellen Zugänge politischer Bildung.

Welch politische Sprengkraft, welches politische Gestaltungs- und Mobilisierungspotenzial die internetbasierte Kommunikation zu spielen vermag, zeigt die international agierende Occupy-Bewegung. Wie stark sich neue Politikformen und Bewegungen aus selbstbewussten „Internetbürgern“ herausbilden, erleben wir gegenwärtig an den Erfolgen der Piratenpartei. Das Internet ist nicht mehr nur ein Medium, sondern hat politisches Gewicht. Die Erfolgschancen von Onlineformaten, ihre Inklusivität, Transparenz und Effektivität hängen dabei allerdings entscheidend von ihrem Design und ihrer Struktur ab. Dies reicht von der technischen Gestaltung über die Regelung des Zugangs und die Form und Qualität der Moderation bis hin zur institutionellen Einbindung.

In der politischen Bildung wird es darauf ankommen, eine komplementäre und kreative Kombination von personaler und netzbasierter Kommunikation zu entwickeln, in der sich Dialoggruppen einerseits persönlich treffen, andererseits zur Vor- und Nachbereitung unterschiedliche Formen der Internetkommunikation nutzen. Solche Crossover-Formate können zu neuen Angebotsformaten führen, die mediale und personale Kommunikation und Formate miteinander verknüpfen – zum Beispiel Internetforen und Seminarangebote. Darüber hinaus bietet das Internet umfangreiche didaktische und methodisch einzubindende Möglichkeiten zur Nutzung als Informations-, Recherche-, und Studieninstrument – eine Ressource, die auch in der politischen Bildung längst noch nicht ausgeschöpft ist.

Politische Bildung ist zwingend interdisziplinär. Ihre zentralen Bezugswissenschaften sind Politologie, Geschichte, Soziologie und Pädagogik, sowie mit Einschränkungen Ökonomie, Philosophie und die Rechtswissenschaft. Die politische Relevanz wissenschaftlich-technischer Entwicklungen und Innovationen erfordert aber eine Erweiterung dieses interdisziplinären Spektrums um Naturwissenschaften wie Biologie, Physik oder Informatik. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, entsprechende strategische und konzeptionelle Initiativen zu realisieren. Handlungsoptionen können kurzfristig in der Entwicklung von Fortbildungsangeboten und Arbeitsmaterialien sowie in Kooperationen mit Partnern aus dem Wissenschafts- und Technikbereich liegen.

Ziel dieser Bemühungen muss die didaktisch-methodische Entwicklung von neuen Veranstaltungsformaten und inhaltlichen Angeboten sein, die eine technologische Kompetenz, welche Technik in ihrem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang erfasst, zu fördern vermögen.

Erste Schritte können die Konzeptionierung und Realisierung von Modellprojekten sein, die in entsprechen Kooperationsverbünden auch – dem Gegenstand angemessen – die Kombination von personaler und Online-Kommunikation erproben. Übergeordnete Lernziele solcher Angebote zur Auseinandersetzung mit technologischen Innovationen können auf vier Ebenen angesiedelt sein:

  1. Relevanz: damit meine ich, die Folgen, Chancen und Risiken von technologischen Innovationsprozessen für das eigene Leben zu erkennen

  2. Bewertung: die Bürgerinnen und Bürger sollen die Kompetenz zur ethisch-politischen Beurteilung von Technik erlangen

  3. Positionierung: die Bürgerinnen und Bürger sollen eigene und fremde Interessen in technologiepolitischen Diskursen erkennen und benennen können

  4. Partizipation: sie sollen außerdem eigene Handlungsoptionen erkennen und Strategien zur Einmischung in technologiepolitische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse entwickeln

Wenn politische Bildung sich den Herausforderungen stellt, die die Naturwissenschaften und neue Technologien auf den Ebenen der Fachlichkeit, der Pädagogik und der Didaktik sowie der Organisation und Moderation der politisch-gesellschaftlichen Diskurse mit sich bringen, entspricht dies nicht nur ihrem Auftrag und Selbstverständnis, sondern eröffnet darüber hinaus Perspektiven für eine neue gesellschaftliche Bedeutung und Wirksamkeit.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten