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Volksgemeinschaft – Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933 | Presse | bpb.de

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Volksgemeinschaft – Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933 Rede von Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung zur Eröffnung der 4. Holocaustkonferenz in Berlin, 27. Januar 2013

/ 8 Minuten zu lesen

Sehr geehrter Herr Minister Dr. Friedrich,
sehr geehrter Herr Professor Wildt, sehr geehrter Herr Professor Welzer,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen der politischen Bildung!

In diesen Tagen stehen wir unter dem Eindruck zweier geschichtlicher Daten, die eminente historische Zäsuren in Erinnerung rufen. Beide berühren dabei nicht allein die deutsche Vergangenheit und das Selbstverständnis Deutschlands, sondern sie werden weit über die hiesigen Verhältnisse hinaus als das wahrgenommen, was sie waren und sind: Bedeutende geschichtsmächtig gewordene Markierungen in einem universellen historischen Gedächtnis.

Im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit im In- und Ausland steht einmal der heutige 27. Januar, der seit 1996 in Deutschland und seit einigen Jahren auch international als offizieller Gedenktag an die Opfer des Holocaust gilt und der auch Anlass unserer Veranstaltung ist: An diesem Tag Anfang 1945 befreiten Truppen der Sowjetischen Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Sodann schauen wir dieses Jahr auch in besonderer Weise auf den 30. Januar, auf jenen Tag im Jahr 1933 also, an dem Hitler zum Reichskanzler des Deutschen Reichs ernannt wurde und der somit den Beginn der NS-Herrschaft vor genau 80 Jahren in Erinnerung ruft. Im Akt unseres stets auf uns und auf unsere Gegenwart bezogenen Eingedenkens liegen zwischen dem symbolischen Tief- und Endpunkt der Diktatur und ihrem Beginn nur drei Tage, im Verlauf der Geschichte selbst aber vergingen zwischen ihnen lange zwölf Jahre.

Heute, morgen und übermorgen stehen weniger die düsteren politischen Ereignisse um diese Epochenzäsuren im Mittelpunkt als vielmehr die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse innerhalb der zwölf Jahre. Die Vorträge und Diskussionen auf unserer Konferenz und unser bewährtes Praxisforum, zu denen ich die Referentinnen und Referenten und alle Teilnehmer und Gäste sehr herzlich begrüßen darf, werden in den kommenden Tagen zur Bedeutung beider Gedenktage einige Aufschlüsse und Einsichten bringen. Ein zentrales Problem, das uns dabei beschäftigen soll, gilt dabei aber ihrer Verknüpfung: Wie können wir aus gewonnener historischer Einsicht und mit aufgeklärter Urteilskraft den Zusammenhang aus beiden Daten auf den Begriff bringen? Waren die grauenhaften Verbrechen des Nazi- Staates schon von Beginn an – also bereits im 30. Januar – angelegt? Wie wurde das Massenverbrechen gesellschaftlich in den ersten Jahren der NSDAP-Herrschaft – und in den Jahren davor – vorbereitet? Das bald folgende und beispiellose Ausmaß von Gewalt: wie kam es damals in die Menschen hinein, die Verbrechen begingen? Und – wenn wir hierüber neue wissenschaftliche Kenntnisse haben – wie können wir diese dafür nutzen, zu verhindern, dass eine ähnliche Eskalation und Kulmination von Destruktivität in Zukunft wiederkehrt? Und nicht zuletzt auch diese Frage: Wie können wir heute als Einzelne und als demokratische Gesellschaft insgesamt die provozierende Tatsache verstehen und in unser Geschichtsbild integrieren, dass es eben nicht nur den militärischen Mechanismus aus Befehl und Gehorsam bedurfte, um über Jahre hinweg die Vernichtung von Menschen zu betreiben, sondern dass hierzu viele einzelne Schritte der Ausgrenzung und Radikalisierung nötig waren und das dies in einer keineswegs gänzlich gleichgeschalteten Gesellschaft geschah, vielmehr in einem durchaus heterogenen und funktional hochdifferenzierten modernen Deutschland?

In solchen Verknüpfungen von Ergebnissen der neuesten wissenschaftlichen Forschung mit den Fragestellungen und Herausforderungen der an eine breitere Öffentlichkeit gerichteten politischen Bildung liegt das zentrale Aufgabengebiet der Bundeszentrale für politische Bildung.

Professor Norbert Frei, der Direktor des Jena-Centers für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, der gleich zu Ihnen sprechen wird, hat die Lehre, die vom 30. Januar 1933 ausgeht, einmal wie folgt formuliert: die alte Geschichtsdeutung aus der frühen Bundesrepublik, nach der der 30. Januar gleichsam intrigenhaft "das Ergebnis einer zuletzt im kleinsten Kreis arrangierten Machtübertragung gewesen" sei, sagt mehr über die junge Bundesrepublik als über den Beginn der NS-Zeit und müsse deshalb selbst historisiert werden, da sie von der eigentlichen Problematik dieses Datums ablenke. Stattdessen gelte es, sich der Herausforderung zu stellen, das "breite Unbehagen an der Demokratie und jene Gleichgültigkeit gegenüber politischer Freiheit" am Ende der Weimarer Republik und zu Beginn der 1930er Jahre wahrzunehmen. Nur aus dieser Demokratie-Skepsis und -ferne und aus Gleichgültigkeit heraus sei "die dann so rasche Hinwendung einer großen Mehrheit der Deutschen zu Hitler überhaupt nur zu erklären.“ (Frei, S. 105)

Die Hinwendung der großen Mehrheit zu Hitler und der damit einhergehende politische "Selbstverwandlungsprozess" (N. Frei) dieser Mehrheit steht im Fokus der folgenden drei Konferenztage. Diese Mehrheit wurde als "Volksgemeinschaft" von der Partei wie auch von vielen Zeitgenossen verklärt. Ihre Homogenisierung nach innen korrespondierte mit einer scharfen Grenzziehung nach außen, beide Seiten sind analytisch gar nicht voneinander zu trennen: Die „Volksgemeinschaft“ war auch eine aktive "Ausgrenzungsgemeinschaft", wer nicht zu ihr gehörte, hatte sehr rasch um Leib und Leben zu fürchten. "Volkstum", so wurde dieser Zusammenhang aus Homogenisierung und Ausgrenzung in der Zeitschrift "Nationalsozialistische Monatshefte" Mitte der 1930er Jahre definiert, "bedeutet das Eigenartige und damit Arteigene eines Volkes in bezug auf sich selbst und zugleich im Gegensatz zum Wesen eines fremden Volkes. (...) Man kann von Volkstum nicht reden, ohne vom Blut zu reden und vom Boden, aus dem es hervor wächst." (NS-Monatshefte, Nr. 7/1936, S. 682f.; zit. nach: Schmitz-Berning, S. 677) Und in einer Abhandlung über die Besonderheiten einer neuen, "völkischen" (d.h. nur auf die eigene "Volksgemeinschaft" bezogenen) Wissenschaft, heißt es 1940 über die Zukunft der Universitäten, Ziel ist die "Erhebung des völkischen Gedankens, besser gesagt des völkischen Bekenntnisses und Lebensgefühls zum allein bestimmenden Grunde des deutschen Staats- und Volkstumsaufbaues." (Ruge, S. 13) Weiter steht hier: "Die Bildungsstätten sollen zu Festungen wahrhaft deutschen Wesens werden." (ebd., 11) Im Zuge dieses Furors der "Volksgemeinschaft" nahm man geradezu begeistert den Kantschen Kategorischen Imperativ zurück, Ruge schrieb 1940 wörtlich: "Handle so, daß der Urgrund deines Handelns die Bejahung deines Volkstums als höchsten Wert erkennen lässt. (…) Das ist das Sittengesetz des vom völkischen Gedanken beherrschten Menschen." (ebd., 19)

Über die gewaltsamen Folgen eines so verstandenen neuen "Sittengesetzes“ der deutschen Volksgemeinschaft hat der Berliner Zeithistoriker Michael Wildt, der zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Harald Welzer heute die Einführung zum Konferenzthema halten wird, 2007 ein erschütterndes Buch geschrieben. Er beschreibt hier die – wie er es nennt – "Selbstermächtigung" zum Handeln, die aus der Verschmelzung von potestas und violentia abgeleitet werden konnte: in den Beschwörungen der neuen "Volksgemeinschaft" lag auch ein Aufruf zur Aktion, zum Handeln und zur Gewalt gegen Minderheiten beschlossen. Michael Wildt hat übrigens zuletzt auch hier bei uns in der Bundeszentrale zwei Hefte über den Nationalsozialismus in unserer renommierten Reihe "Informationen zur politischen Bildung" veröffentlicht; beide Ausgaben erfreuen sich größter Nachfrage und sind bereits kurz nach Erscheinen rund 1,5-millionenfach nachgefragt worden.

Ein letztes Wort über die Wahrnehmung des völkischen Furors und über die Reaktion auf diese Ausgrenzung durch jene, die seinerzeit nicht mehr Teil der "Volksgemeinschaft" waren, weil hierfür ideologische und pseudobiologische Begründungen gesucht wurden, die Staatsbürgerschaft als "äußerlich" entwerteten, dagegen Geburt und Herkunft als Kriterien absolut setzten und hierfür Theorien von unterschiedlichen "Rassen" glaubten und verbreiteten. Kaum jemand hat die Wirkung dieser Ausgrenzung von 1933 so unmittelbar berührend auf den Punkt gebracht hat, wie dies Hannah Arendt in einem Fernseh-Interview aus dem Oktober 1964 tat. In diesem Gespräch antwortete Arendt ihrem Gegenüber Günter Gaus auf die Frage, was ihr von 1933, dem Jahr, in welchem sie aus Deutschland ins Exil – zuerst nach Frankreich, später nach Amerika – fliehen musste, in Erinnerung geblieben sei, Folgendes:

"Man denkt heute oft, daß der Schock der deutschen Juden 1933 sich damit erklärt, daß Hitler zur Macht kam. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, daß das ein kurioses Mißverständnis ist. Das war natürlich sehr schlimm. Aber es war politisch. Es war nicht persönlich. Daß die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitteschön, nicht Hitler, um das zu wissen! (…) Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. (…) Und das habe ich nie vergessen." (Arendt, S. 322)

Nach drei vorangegangenen Konferenzen zu den Themen "Der Holocaust im transnationalen Gedächtnis" im Jahr 2006, "Täterforschung" im Jahr 2009 sowie dem Symposium "Helfer, Retter und Netzwerker des Widerstands" im Januar vor zwei Jahren widmet sich die heute beginnende 4. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung der von Hannah Arendt beschriebenen Radikalisierung der deutschen Gesellschaft nach dem 30. Januar 1933, in der es war, als ob sich um jeden einzelnen jüdischen Deutschen "ein leerer Raum" auftat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Zu den Aufgaben der Bundeszentrale für politische Bildung gehören neben der Ausrichtung von Konferenzen wie dieser hier auch die Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Studienreisen. In unserem heutigen Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass wir seit nun bereits 50 Jahren diese Studienreisen nach Israel anbieten, deren Nachfrage ungebrochen ist. Auf meiner letzten Fahrten nach Tel Aviv hatte ich selbst die besondere Gelegenheit, den jungen Autor Nir Baram – Jahrgang 1976 – kennenzulernen. Er gehört zu einer Generation, die sich mit neuen Fragen und einem identifikatorisch-kritischen Bewusstsein mit den Abgründen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst und die dabei an sich selbst und das eigene politische Handeln höchste Maßstäbe anlegt. Wie Nir Baram, der auch im Rahmen dieser Konferenz lesen wird, möchten viele junge Menschen nicht an einer politischen Kultur der "Gleichgültigkeit" teilhaben und setzen sich stattdessen für Integration und gesellschaftliche Gleichberechtigung von Minderheiten ein, sei es hier in Deutschland, sei es in Israel oder anderswo auf der Welt. In seinem preisgekrönten und im vergangenen Herbst auch auf Deutsch erschienen Buch "Gute Leute" hat Nir Baram Fragen formuliert, die auf eine bemerkenswerte Weise die Geschichte der Erzählzeit und die Gegenwart der Leser miteinander verknüpfen, Fragen, die er an deutschen und russischen Romanfiguren entwickelt aber auch an seine eigene Gegenwart gerichtet hat.

Wenn wir es schaffen – ganz unabhängig, wo auf der Welt – bei den Themen "Ideologie" und "Opportunismus", "Ausschluss" und "Ausgrenzung", nicht nur mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern wirklich je uns selbst zu meinen, so meine Hoffnung, dann hat eine ernst gemeinte politische Bildung echte Selbstaufklärung bewirkt.

Dies für den gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang aus 27. und 30. Januar für uns hier in Deutschland zu tun: Genau das ist das zentrale Ziel und die Kernaufgabe unserer Konferenzreihe im Allgemeinen und dieser Veranstaltung im Besonderen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und übergebe nun das Wort an den Bundesminister des Inneren, Herrn Dr. Hans-Peter Friedrich.

- Es gilt das gesprochene Wort -

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Im Text genannte oder zitierte Quellen, Literatur und Materialien

Hannah Arendt, Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache, in: Günter Gaus, Was bleibt sind Fragen. Die klassischen Interviews, hrsg. von Hans-Dieter Schütt, Berlin (Uhlstein) 2005, S. 310–335.

Nir Baram, Gute Leute. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, München (Hanser) 2012.

Norbert Frei, Epochenjahr 1933. Der 30. Januar entschwindet dem historischen Bewußtsein, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. Erweiterte Taschenbuchausgabe, München (C. H. Beck) 2009, S. 98–111 u. 218f.

George L. Mosse, Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Aus dem Amerik. von Renate Becker, Frankfurt a. M. 1991 [zuerst: Königstein/Ts. 1979; amerik. Orig.: The Crisis of German Ideology, 1964].

Arnold Ruge, Völkische Wissenschaft, Berlin (Theodor Fritsch Verlag) o. J. [1940]. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1998.

Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1938, Hamburg (Hamburger Edition) 2007

Fussnoten