Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Rede "Zeitalter der Partizipation und des Diskurses: Brauchen wir eine neue Reformation der Gesellschaft?" von Thomas Krüger auf der Tagung der Evangelischen Akademie am 7. März 2014 in Bad Boll | Presse | bpb.de

Presse Pressemitteilungen Pressetexte 2024 Archiv Reden Archiv Pressekits Fotos | Logos | Banner Logos Virtuelle Hintergründe Thomas Krüger Jahresrückblicke Jahresberichte Auszeichnungen Pressekontakt

Rede "Zeitalter der Partizipation und des Diskurses: Brauchen wir eine neue Reformation der Gesellschaft?" von Thomas Krüger auf der Tagung der Evangelischen Akademie am 7. März 2014 in Bad Boll

/ 16 Minuten zu lesen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

politische Bildung versucht, wenn sie sich mit historischen Themen beschäftigt, immer wieder die Frage nach der Bedeutung des Vergangenen für das Hier und Jetzt zu stellen. Etwas zugespitzt: Wer über Vergangenheit redet, sagt immer etwas über seine Gegenwart und Zukunft. So fragen wir uns als Bundeszentrale für politische Bildung z. B. in den kommenden Wochen im Rahmen eines internationalen Geschichtsfestivals anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns des Ersten Weltkriegs nach dessen Bedeutung für unsere heutige Welt: Zentraler Kern des Geschichtsfestivals ist der "HistoryCampus". Bis zu 500 junge Menschen aus ganz Europa treffen vom 7. bis zum 11. Mai 2014 in den Räumlichkeiten des Maxim Gorki Theaters in Berlin zusammen. Sie suchen eine Antwort auf die Frage: Der Erste Weltkrieg – was hat das mit meiner Identität, meiner Nation und Europa heute zu tun?

Ich will heute auch eine solche Frage stellen, nach der Aktualität, der Übertragbarkeit geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen auf das 21. Jahrhundert. Das Thema unserer Tagung lautet: "Ändern ist leicht, bessern ist schwer!" Martin Luther hätte diesen Befund vor fast 500 Jahren genau so oder so ähnlich formulieren können, denn er wollte vor allem Verbesserungen, Reformen und eben keine Spaltung seiner Kirche! Und er hat eine Bewegung in Gang gesetzt, die in eine "Diskursrevolution" mündete. Folgt man Michel Foucault, so ist ein Diskurs das für eine Epoche typische Verständnis der Wirklichkeit. Die Menschen sind nicht frei darin, wie sie ihre Wirklichkeit begreifen, sondern abhängig davon, was in ihrer Zeit und ihrer Kultur alles sagbar und denkbar ist. Martin Luther hat das Weltbild seiner Zeit nicht nur reformiert, sondern – wie wir aus heutiger Perspektive sagen würden – revolutioniert. Er hat den Einzelnen und seine Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt. Diese und weitere fundamentale Weichenstellungen der Reformation prägen bis heute unser Denken und Leben, selbst wenn wir keine Christen sind, unsere Politik, unsere Gesellschaft, unser Miteinander und unsere zunehmenden internationalen Verflechtungen in vielen Bereichen. Im Gegensatz zur mittelalterlich-feudalistischen Ständegesellschaft, in der Luther lebte, und im Gegensatz zu modernen kollektivistischen Lehren wie dem Kommunismus, dem Nationalsozialismus oder den religiösen Fundamentalismen, die auf Grund von Nationalität, Rasse, Klasse oder Religion die Einzelnen in Kollektive einsortiert und ihre Freiheiten im Kern beschneidet, stellt unsere Rechtsordnung den Einzelnen in den Mittelpunkt: In der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.

Der Gedanke der Rechtfertigung war zentral für die Reformation. Luther gab mit seiner Rechtfertigungslehre eine Antwort auf die seinerzeit viel diskutierte und bis heute aktuelle Frage, was geschehen muss, um das durch die Sünden der Menschen gestörte Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung wieder in Ordnung zu bringen. Luthers neue Perspektive auf diese Frage hat er in lateinische Formeln gefasst, die alle mit dem Wort "Sola" bzw. "Solus" beginnen – also auf deutsch mit dem Wort "Allein". Sola sciptura – allein die Heilige Schrift
Sola fide – allein der Glaube
Sola gratia – allein die Gnade – und
Solus Christus – allein Christus.

Damit stellt Luther implizit alle Menschen und Institutionen in Frage, die sich zwischen Gott und das gläubige Individuum stellen. Zu Luthers Zeiten waren diese Vorstellungen untrennbar verbunden mit der Zuversicht in die göttliche Gnade. Vor Gott kann und muss der Mensch sich nicht rechtfertigen, Gott selbst rechtfertigt ihn aus Gnade. Gottes Liebe ist ein Geschenk, das den Menschen als Ganzes umfasst. Die vier Formeln der Lutherischen Rechtfertigungslehre waren Grundpfeiler, in denen er seine zentralen Glaubensanliegen zu vermitteln suchte. Wenn man sich die vier genannten Formeln genauer anschaut, sich ihre Bedeutung vergegenwärtigt und nicht nur ihre zeitgenössische Wirkung nachzeichnet, sondern den Wert dieser Aussagen und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, in die heutige Zeit überträgt, also kontextualisiert, kann das Aufschluss geben über die Anschlussfähigkeit des reformatorischen Denkens:

1. Sola Scriptura – Allein die Heilige Schrift, die Bibel, ist die Grundlage des Glaubens, nicht die Dogmen oder Lehren der Kirche. Luther hat in seinem Exil auf der Wartburg die Bibel übersetzt, er hat Schriften in die deutsche Sprache übertragen, die Messe in deutscher Sprache eingeführt, er hat die deutsche Alltagssprache entscheidend weiterentwickelt. Sein Adressat war der "fromme Laie", dem bis zu diesem Zeitpunkt eine selbständige Bibellektüre verschlossen war. Es kam Luther natürlich zu Gute, dass Johannes Gutenberg kurz zuvor den modernen Buchdruck erfunden hatte, der in Europa eine Medienrevolution auslöste. So konnte Luther Bildungsmöglichkeiten schaffen für diejenigen, die des Lateinischen nicht mächtig waren. Nicht der Sinn sollte den Worten folgen, sondern die Worte dem Sinn. Luther hat nicht nur in die deutsche Alltagssprache übersetzt, er hat zugleich gedolmetscht. Luther hat die Kraft der Sprache aufgezeigt und nutzbar gemacht. Er hat ermutigt zu lesen, nachzudenken und zu fragen, nicht einfach nur zuzuhören und hinzunehmen. Das gläubige Individuum kommt – wenn man so will – ins Spiel, wird ein irreversibler Faktor christlicher Praxis. Aufklärung und Bildung, selbständige Wahrheitsfindung und Verantwortung in der Gemeinschaft wollte er fördern, um die Mächtigen zu hinterfragen, um jedwelchen Fundamentalismus seiner Grundlagen zu berauben. Es entstanden "Volks"schulen, die auch Mädchen offenstanden. Luther hatte ein vergleichsweise modernes Frauenbild und hat vermittelt, dass das weltliche Leben nicht weniger wert ist als das klösterliche. Die Menschen sind vor Gott alle gleich, es gibt keine Rangordnung, und in der Gemeinschaft der Christen leistet jeder, egal welcher Schicht oder Klasse der Bevölkerung er entstammt, einen wichtigen Beitrag zum Zusammenleben. Nun war der Weg frei für Partizipation und Teilnahme am Diskurs. Aber die Sola Scriptura barg auch eine gefährliche, nicht zu vernachlässigende Uneindeutigkeit: Zwar ermutigte Luther dazu, Gott in der Bibellektüre zu finden. Doch die Auslegung des Gotteswortes und das daraus sich ergebende Handeln der Christenmenschen lieferte keineswegs klare Antworten auf die Frage, wie man sich moralisch und politisch richtig verhält. Der Pluralität der Individuen folgte die Pluralität der Interpretationen und Deutungen. Dies zeigte sich bereits während der Bauernaufstände zur Zeit der Reformation, die als Deutscher Bauernkrieg in den Geschichtsbüchern verzeichnet sind. Luther selber trennte in seiner Kommentierung der Bauernkriege streng nach weltlicher Obrigkeit und dem Reich Gottes, konkret nach zwei „Regimentern“ – die Bauern beriefen sich seiner Meinung deshalb auf eine falsche Auslegung der Bibel. Thomas Müntzer, zunächst ein Bewunderer und Anhänger Luthers, schlug sich im Unterschied zu ihm auf die Seite der Bauern und kämpfte und starb als Gottesfürchtiger für soziale Gerechtigkeit. Erst im 20. Jahrhundert nannte der Theologe Karl Barth Luthers Auslegung „Zwei-Reiche-Lehre“ und sprach sich angesichts des barbarischen Nationalsozialismus für die so genannte Königsherrschaft Christi aus. Man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, wie es in der Apostelgeschichte heißt.

2. Sola Fide – Allein der Glaube entscheidet, nicht das Handeln, Gestalten oder auch Versagen. Die Glaubensentscheidung ist bei Luther keine autonome, der Glaube wird dem Menschen zuteil und ist ein Geschenk. Sola Fide bedeutet im Umkehrschluss dann das Vertrauen, das der gläubige Mensch in die göttliche Gnade hat, ist also eng verknüpft mit Sola Gratia, der Gnade Gottes. Luther entwickelt den Grundsatz des sola fide aus seiner Interpretation von Römer 3, 21-28 und stellt ihn der zeitgenössischen Vorstellung der Werkgerechtigkeit gegenüber, die von den Protagonisten der katholischen Kirche kontrolliert, ja nach Luthers Überzeugung sogar pervertiert wurde.

3. Sola Gratia – Allein die Gnade Gottes, für Luther im Unterschied zur sola fide die göttliche Seite des Heilswirkens, rechtfertigt das Leben, nicht das menschliche Tun oder eine individuelle Leistung oder das menschliche Versagen. Allein Dank der Gnade Gottes erlangt der Mensch das Heil und das ewige Leben. Luther brachte damit zum Ausdruck, dass der Mensch sich die Gnade Gottes nicht verdienen oder erarbeiten kann. Er wandte sich gegen den blühenden und pervertierten Ablasshandel, der es möglich machte, sündiges Verhalten vor allem durch Geldzahlungen auszugleichen. Auch widersprach er der zeitgenössischen Vorstellung, Angehörige des geistlichen Standes könnten durch ihren besonderen Lebenswandel die Seligkeit erlangen. Sola Fide und Sola Gratia sind also der menschliche und der göttliche Beitrag zur Gnadenwirkung. Sie sind bis heute Teil unseres bürgerlichen Rechtssystems. Es gilt nicht nur sprichwörtlich "Gnade vor Recht", sondern auch Gnade nach Recht, wenn selbst ein rechtskräftig Verurteilter auf Begnadigung hoffen kann, über die der Bundespräsident und die entsprechend Befugten in den Bundesländern entscheiden können.

4. Solus Christus – Allein Jesus Christus ist entscheidend, er, nicht die Kirche, hat die Autorität über die Gläubigen. Solus Christus weist auf die besondere Bedeutung von Jesus Christus hin. In Jesus Christus hat Gott gehandelt und alle Menschen gemeint. Jesus Christus ist die Schnittstelle zwischen Gott und den Menschen. Durch ihn ist das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen wieder im Gleichgewicht, ein friedliches Miteinander der Schöpfung ist möglich. Wie Luther selbst sagte: "Jesus Christus ist allein das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt".

Die reformatorische Theologie entwickelt diese Gedanken Luthers später weiter. Vor allem der Kalvinismus argumentiert wieder stärker für eine protestantische Ethik, die quasi aus dem christlichen Glauben resultiere. Aber der Paradigmenwechsel reformatorischen Denkens ist unumkehrbar. Der gläubige Christ und seine Lebenspraxis betreten die gesellschaftliche Bühne und verändern die mittelalterlichen Gesellschaften. Aber wie sieht das heute aus in Zeiten eines sich pluralisierenden Religionsmarktes und einer Gottesvergessenheit, um es vorsichtig zu sagen.

Die lutherischen Maximen enthalten aus der Perspektive einer am politisch freien und autonomen Subjekt orientierten politischen Bildung neben ihrer reformatorischen nämlich auch eine durchaus problematische Botschaft. Sie können auch so verstanden werden, als bestimme Gott allein den Lauf der Welt, als würden Glauben, Kontemplation und Gottvertrauen allein ausreichen, um gesellschaftliche Probleme und Konflikte zu lösen. Oder aber, dass Gott den Menschen absichtlich Prüfungen auferlegt, an denen sie sich abarbeiten müssen und dabei ihr Vertrauen in Gott, bzw. die Kraft ihres Glaubens unter Beweis stellen. Aber politische Bildung will die Menschen ja nicht so sehr mit Gottvertrauen ausstatten, sondern vielmehr mit einem kritischen Bewusstsein, so dass sie sich selbst informieren, politisch engagieren und Verantwortung übernehmen für sich, ihre Umwelt, die Gesellschaft und die Eine Welt, in der wir leben. Und sie setzt dabei dezidiert auf Bildung, ein Grundgedanke, der Luther wiederum sehr vertraut war, wenn man an seine Idee der Katechismen im Sinne einer zeitgemäßen Volksaufklärung denkt. Die politische Bildung will die Bürger befähigen, dass sie sich weder von religiösen Heilsversprechen noch von den Angeboten und Versprechungen der Konsumgesellschaft, den neuen Medien, Technologien und scheinbar unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten einlullen lassen. Sondern sie will – wie man in Anlehnung an den deutschen Aufklärer Immanuel Kant sagen könnte – befreien aus jeglicher selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Doch zurück zum Reformator Martin Luther: Aus den genannten vier Kernelementen resultiert die "Freiheit des Christenmenschen", die Gott den Menschen Luther zufolge schenkt. Ein auch heute noch visionäres Menschenbild ist bei Luther damit verbunden: Alle Menschen sind vor Gott gleich, werden anerkannt, wertgeschätzt, vorbehaltlos geliebt. Sie tragen Verantwortung, treffen Entscheidungen, dürfen sich erproben und auch scheitern, sie müssen keine Angst haben in Gottes schützender Hand. Die Idee der "Freiheit des Christenmenschen", der Luther eine seiner zentralen Schriften gewidmet hat, bedeutet den Abschied von der mittelalterlichen Vorstellung der Ständegesellschaft, in der jeder Mensch in eine bestimmte Position hineingeboren wurde und nicht über sein Schicksal bestimmen konnte. Der gläubige Mensch wird von Gott mit Freiheit beschenkt, um ein verbindliches und verantwortungsvolles Leben in der Gemeinschaft mit anderen Christen zu führen.

Bei aller Würdigung des vorausschauenden und wegweisenden Denkens Luthers darf nicht außer acht gelassen werden, dass die Reformation auch ihre Schattenseiten hatte. Die mit der Reformation faktisch erfolgte Spaltung der Kirche führte teilweise zu scharfen Abgrenzungen, ja zu Religionskriegen mit vielen Tausend Toten. Mangelnde, oftmals fehlende Toleranz verstellte den Weg zu gegenseitigem Respekt, der Wertschätzung unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Lebensentwürfe. Die von Luther im Kontext seiner Zwei-Regimenter-Lehre postulierte Unterwerfung unter die Obrigkeit, seine Judenfeindschaft, wenn nicht gar Antisemitismus, sein Wettern gegen die Türken und damit gegen den Islam, verweisen auf die problematische, blutige Tradition des europäischen Überlegenheitsgefühls, auf Kolonialismus, Kapitalismus, ökonomische Beherrschung der Welt, auf einen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, der andere Wahrheiten nicht gelten lässt. Luthers, aus seiner Zeit resultierende gesellschaftsverändernde Ideen und die vielfältigen Erträge der Reformation wurden natürlich auch uminterpretiert, instrumentalisiert und missbraucht. Die Nationalsozialisten konnten an die antijüdischen Ressentiments anknüpfen, und ein großer Teil der Protestanten hat sich während des Dritten Reichs im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre weitgehend apolitisch verhalten oder sogar aktiv die Positionen der Deutschen Christen unterstützt. Selbst die Vertreter der Bekennenden Kirche haben sich zwar der verfolgten Christen angenommen, mehrheitlich aber die so genannte Judenfrage ausgeblendet. Aber es hat vergleichsweise zügig ein Lernprozess in der Kirche eingesetzt, der mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 begann, das vielleicht gerade deshalb, weil es weder unter den Protestanten noch in der deutschen Bevölkerung auf Zustimmung, sondern auf Unverständnis, Empörung und heftige Gegenwehr stieß, ausstrahlte auf die weitere Entwicklung in Kirche und Gesellschaft. Es zeigte sich hier, dass nicht nur die Kirche der Reformation dialogfähig ist, sondern auch der demokratische Staat. Dialogfähig sowohl über die durch den Krieg und die deutschen Verbrechen entstandenen Feindschaften hinweg als auch mit Blick auf die eigene NS-Vergangenheit. Natürlich waren die ersten Schritte aus heutiger Sicht ziemlich halbherzig und unbefriedigend. Doch mündete die Dialogfähigkeit in späteren Jahren in die Bereitschaft von Kirche und Staat, diesen Prozess weiter zu betreiben. In der DDR war der Prozess komplizierter. Die DDR erklärte sich quasi zu einem "antifaschistischen Staat" und verwies jegliche Verantwortung an den Westen des Landes. Die Kirche wurde in diesem Zusammenhang scharf angegriffen und musste sich ihren Platz erst hart erkämpfen. Mit der "Fürstenwalder Erklärung 1967 und der Anfang der 70er Jahre geprägten Formel einer "Kirche im Sozialismus", die sich situativ und lokal, nicht jedoch ideologisch verstand, gewann die protestantische Kirche gesellschaftlichen Spielraum, der zu Beginn der 1980er Jahre im Kontext einer Diskussion um das deutsche Erbe eine überraschende Wende erzeugte. Der vormals als "Fürstenknecht und Bauernschlächter" verachtete Luther wurde umdeklariert zum Vertreter der frühbürgerlichen Revolution und seines 500. Geburtstags in Ost und West feierlich gedacht. Die Lutherfeierlichkeiten 1983, die ich als Theologiestudent und Zeitzeuge selbst miterleben konnte, waren eines der wenigen Zeitfenster, in denen sich die DDR zur Welt öffnete und diese in kontrolliertem und befristetem Umfang zuließ. Die DDR-Führungsriege erstickte diese Ansätze eines Lern- und Öffnungsprozesses aber sofort wieder, weil sie weder willens noch in der Lage war, Veränderungen oder gar Reformen zu ermöglichen. Mit Michail Gorbatschow betrat ausgerechnet im sowjetischen Bruderland ein Politiker die Bühne, der mit "Glasnost" und "Perestroika" selbst reformatorisches Vokabular im Munde führte.

Aber was hat das alles mit uns zu tun? Mit unserer Politik, mit unserer Gesellschaft, und worin liegt bis heute die Relevanz des Gegenstandes? Oder anders gefragt: warum ist die Reformation auch 500 Jahre nach ihrem Beginn noch immer – oder gerade wieder – ein spannender Gegenstand und wichtiger Auftrag der politischen Bildung? Luther hat viele Ideen in die Welt gesetzt, die aber vielfach – natürlich aus heutiger Sicht – nicht konsequent zu Ende gedacht sind. Ich möchte einige wichtige Impulse und Ideen aus der Reformationszeit, in deren Tradition wir uns noch bewegen und die es wert wären, sie in der Gegenwart wieder aufzunehmen, zusammenfassen. Vielleicht ist es notwendig, für das Gelingen dieses Transfers aus der Vergangenheit in die heutige Zeit Luther etwas gegen den Strich zu interpretieren. Die Reformation war eine vielfältige Bewegung, die nicht nur die Kirche, sondern auch die Obrigkeit und später den Staat beeinflusst und verändert hat. Eine Konsequenz, von der wir heute profitieren, ist die Trennung von Kirche und Staat. Als die Reformation ihren Anfang nahm, war die Wahrung der katholischen Staatsreligion, der Una Sancta Catholica – der einen, heiligen katholischen Kirche – Aufgabe der Obrigkeit. Die Überzeugungskraft von Luthers Ideen und der Erfolg der ursprünglich innerkirchlichen, reformatorischen Bewegung führten zu einer Ausweitung des Protestantismus, zur Entstehung einer zweiten, lutherischen und fast gleichzeitig einer dritten, reformierten Kirche. Die religiöse Einheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zerbrach, pluralisierte sich und konnte weder durch Kriege noch durch konsultative Gespräche gerettet werden. Das Prinzip des cuius regio, eius religio (wessen Land, dessen Religion; also: der Landesherr bestimmte das religiöse Bekenntnis aller seiner Untertanen), das mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 verbindlich wurde, kam zum Tragen und kann mit etwas Phantasie als Vorläufer des deutschen Föderalismus gesehen werden. Aber sie war auch verbunden mit fundamentaler Unfreiheit der Christenmenschen, die nicht mehr selbst entscheiden konnten, was sie glauben wollten, sondern an die Konfession ihres jeweiligen Landesherren gebunden waren. Auch weitere Religionskriege hat der Augsburger Religionsfrieden nicht verhindern können, wie der Dreißigjährige Krieg im 17. Jahrhundert mit seinen schrecklichen Verwüstungen und unzähligen Opfern im Zeichen des „rechten Glaubens“ bis heute eindrucksvoll beweist. Es war ein weiter Weg der weltlichen Macht zu religiösem Binnenpluralismus und verlangte Veränderungs- und Toleranzbereitschaft, die sich aber politisch, kulturell und ökonomisch in der demokratischen Moderne auszuzahlen begann.

Wir in der Bundesrepublik Deutschland leben in einer pluralistischen Gesellschaft, mit einer Verfassung, die die Würde des Menschen für "unantastbar" hält und die "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" zur "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" erklärt hat. Luthers Postulat, den Menschen im Zentrum zu sehen, ihn auch in einer leistungs- und erfolgsorientierten Gemeinschaft als gleichrangiges Mitglied zu wertschätzen, das einen wichtigen Beitrag zum Zusammenleben leistet, auch wenn er nicht immer Höchstleitungen erbringt, ist enorm aktuell und bildet ein wichtiges Korrektiv zu den Werten des (neo)liberalen Turbokapitalismus. Religiöse Überzeugungen und Werte (auch in postreligiöser Gestalt) bilden bis heute – trotz aller Kirchenaustritte und Kritik an den angeblich nicht mehr zeitgemäßen christlichen Werten – das wichtigste Korrektiv für die ungezügelte Durchdringung unserer Lebenswelt durch die Logik des Kapitals.

Die politische Bildungsarbeit hat das hehre Anliegen, niemanden von Partizipation und Teilhabe am politisch-gesellschaftlichen Diskurs auszuschließen. Die zur Verfügung stehenden Mittel ermöglichen dabei, viele Menschen politisch aufzuklären und zu bilden, auch bildungsferne Milieus zu ermutigen und zu befähigen, sich zu informieren und einzumischen, die Demokratie dadurch lebendig zu halten. Sie haben vielfältige Möglichkeiten, können jederzeit teilhaben über das Internet und ältere Medien, sich am Wahl-O-Mat einschätzen, sich offline und online an Bürgerinitiativen und Petitionen beteiligen.

Aber auch hier gilt es die Schattenseiten zu bedenken: Die Einschränkungen der Freiheiten der Christenmenschen, wie auch jedes anderen Bürgers und jeder anderen Bürgerin unseres Landes, die zu Luthers Zeiten noch von der Obrigkeit und der Kirche ausgingen, sind auch heute noch zu beobachten. Sie kommen heute z.B. von Seiten einer sich emanzipierenden und unregulierten Wirtschaft, die durch die reformatorischen Ideen Luthers und die sogenannte protestantische Ethik seinerzeit sehr profitiert haben und überhaupt an Dynamik gewannen. Heute beschränkt beispielsweise die hemmungslose Datensammelwut von Internet-Konzernen unsere private Freiheit. Sie haben nicht nur unsere Kommunikationsmöglichkeiten schier unendlich erweitert, sondern manipulieren uns auch, regen zu sinnentleertem, der Logik der Werbewirtschaft folgendem Konsum an und legen dafür beunruhigend präzise Profile unserer Wünsche und Gewohnheiten an. Diese krakenhafte Systementfaltung erzeugt bei vielen Menschen Ohnmacht und Hilflosigkeit und lässt sie an demokratischen Strukturen bzw. an ihren Partizipationsmöglichkeiten zweifeln. Alles wird ökonomisiert, selbst Kritik und Widerspruch werden von der Logik des Kapitals erfasst. Die ebenso unendlich wie nicht abwehrbar scheinende Datenkontrolle, die Ausspähung und Überwachung, die in George Orwells Roman "1984" beschrieben wurde, erscheint heute fast als harmlos. Neben der Wirtschaft tritt auch der moderne Staat mit dem Versprechen öffentlicher Sicherheit als Datenkontrolleur und -sammler auf. Die aktuelle Diskussion oder besser Nichtdiskussion über eine vertragliche Beschränkung unendlicher Datensammelwut im Kontext von Edward Snowden und der NSA macht das Verlangen des staatlichen Sektors nur allzu deutlich. Versprochen wird uns öffentliche Sicherheit und für die Marktteilnehmer, die über das nötige Geld verfügen, globaler Konsum – angeblich alternativlose Entwürfe für ein hedonistisches Leben freier Individuen. Und was dabei herauskommt sind Techniken sozialer Beschleunigung, die dem freien und autonomen Individuum nur noch seinen Schein lassen, ihm aber faktisch das Sein nehmen, wie Hartmut Rosa kürzlich gezeigt hat. Manche Theoretiker wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch sehen uns bereits im Zeitalter der "Postdemokratie". Die demokratischen Institutionen, die zumindest in Europa und der westlichen Welt das politische Leben zu kontrollieren und zu regeln scheinen, seien in Wahrheit machtlos im Vergleich zu demokratisch nicht legitimierten Expertengremien, Kommissionen und Konzernen.

Eine weitergedachte Reformation, die versucht, die Impulse Luthers für seine Zeit auf heute zu übertragen, könnte sich also die Aufgabe setzen, einerseits die Macht anonymer, demokratisch nicht legitimierter Institutionen einzuschränken zugunsten der klassischen Gewalten des modernen Rechtsstaates, und andererseits die Freiheit des Individuums – seien es nun Luthers Christenmenschen oder Atheisten, Moslems, Juden oder was auch immer – zu stärken gegen die anonymen und unkontrollierbaren Mächte der Postdemokratie, die sich aufspielen als wären sie Gott.

Aber ebenso wie vor fünfhundert Jahren, zur Zeit Luthers, wäre eine solche fortgesetzte Reformation auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen sich einzusetzen für seine oder ihre Freiheiten, sie aktiv zu verteidigen und nicht naiv oder konsumfixiert seine Daten, seine Individualität und seine Vorlieben auszuliefern an Konzerne, soziale Netzwerke und andere Datensammler. Neben politischer Bildung und einem kritischen Bewusstsein als freiheitsliebender Bürger sind wir dabei aber auch auf die Unterstützung der von uns in freien Wahlen legitimierten Regierungen angewiesen, die unsere Autonomie und Freiheit zu wahren haben – ebenso wie einst einige mutige protestantische Fürsten Luther, die Reformation und ihre Anhänger gegen die vermeintliche Allmacht der katholischen Kirche und der sie tragenden Obrigkeiten unterstützten.

Eine Reformation an Haupt und Gliedern bedeutet heute wie damals, dass nicht nur jede und jeder Einzelne sich bewusst entscheidet, was er oder sie glauben, was sie konsumieren, welche Moden sie mitmachen und wo sie sich um ihrer Freiheit willen verweigern. Sondern auch, dass der Staat die Rechte und Freiheiten seiner Bürger beschützt gegen anonyme Mächte, gegen weltumspannende Konzerne, gegen die computergesteuerten Börsen, die grenzen- und rücksichtslose Macht des Finanzkapitalismus und die von ihm ausgehenden Krisen, die unser aller Wohlstand und Freiheit bedrohen. Es ist aber vor allem an uns, Privatheit, Freiheit und Autonomie im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung neu zu buchstabieren und sie in neuer Solidarität weltumspannender und empathischer zu denken und zu leben.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten