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AfD, PEGIDA und Co. – Droht eine neue Gefahr von Rechts? (18. April 2016, Schwäbisch Gmünd) | Presse | bpb.de

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AfD, PEGIDA und Co. – Droht eine neue Gefahr von Rechts? (18. April 2016, Schwäbisch Gmünd)

/ 12 Minuten zu lesen

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Lange, sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung nach Schwäbisch Gmünd. Ich freue mich, heute Abend hier sein zu dürfen und mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen:

„AfD, PEGIDA und Co. – Droht eine neue Gefahr von Rechts?“.

Wie Sie wissen, bin ich Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, die qua Selbstverständnis stets verpflichtet ist, ausgewogen und überparteilich – nicht neutral bzw. unparteiisch! – über Politik und politische sowie gesellschaftliche Entwicklungen zu informieren. Zurück geht das auf den so genannten Beutelsbacher Konsens, der aus Diskussionen unter politischen Bildnerinnen und Bildern im nicht unweit von hier gelegenen Beutelsbach 1976 hervor ging.

Ich möchte mich der gestellten Frage heute Abend in vier Schritten nähern.

Lassen Sie mich zuerst etwas ausholen:

Die formulierte Frage dieses Abends hätten wir – mit anderer Besetzung – im April 1992, oder auch noch früher, im Jahr 1968, diskutieren können. Ältere unten Ihnen entsinnen sich sicherlich.

Bei der Landtagswahl am 28. April 1968 erhielt die NPD 9,8 Prozent der abgegebenen Stimmen, das höchste Ergebnis, das sie jemals bei Landtagswahlen erzielen konnte. Die damals wenige Jahre alte Partei zog mit zwölf Mandaten in den Landtag zu Stuttgart ein. Im Übrigen einmalig: sie trat 1972 nicht mehr an und forderte ihre Anhänger auf, die CDU zu wählen. Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterten die Rechtsextremisten dann an der Fünfprozenthürde.

24 Jahre später, bei der Landtagswahl am 5. April 1992, kamen „Die Republikaner“ auf 10,9 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit auf 15 Mandate im Landtag in Stuttgart; 1996 konnten die „REPs“ mit 14 Abgeordneten erneut in den Landtag einziehen.

Erneut 24 Jahre später … Sie kennen das Ergebnis, mit dem die AfD am 13. März dieses Jahres abgeschnitten hat. In Rheinland-Pfalz erhielt die Partei 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und zieht nun mit 14 Mandaten in den Landtag ein. In Sachsen-Anhalt wurde die AfD mit 24,3 Prozent gar zweitstärkste Partei im Land. Sie erhält nun 25 Sitze im Landesparlament. Hier, in Baden-Württemberg, erzielte die Partei 15,1 Prozent und zieht mit 23 Abgeordneten in den Landtag ein.

Ein Befund ist mir nach den Landtagswahlen wichtig: Es wurde bundesweit insbesondere über die Wahl in Sachsen-Anhalt berichtet, bei der fast jede vierte Wählerin und Wähler ihr Kreuz bei der AfD machte. Dass in den ostdeutschen Ländern rechtspopulistische und auch rechtsextreme Strömungen offenbar besonders gut Fuß fassen können, ist eine empirisch nicht zu ignorierende Tatsache. Doch wie Sie an den übrigen Wahlergebnissen und auch bei der Kommunalwahl in Hessen mit hohen Stimmanteilen für die AfD und die NPD sehen können: rechtspopulistische und auch rechtsextreme Einstellungen, die sich in Wahlergebnissen manifestieren, sind ein nicht allein auf Ostdeutschland beschränktes Problem.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte hier nicht etwa behaupten, dass es in Baden-Württemberg eine „Tradition“ rechtsextremen Wahlverhaltens gebe. Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, dass wir in Wellen immer wieder mit diesen Entwicklungen zu tun haben. Bundesweit… und mit der Frage, ob uns eine neue Gefahr von ganz Rechts droht.

Meines Erachtens kommt es zu solchen Wahlergebnissen immer dann, wenn wir mit gesellschaftlichen Situationen und Entwicklungen konfrontiert sind, die politisieren, die polarisieren: Die Studentenbewegung der so genannten ‘68er; der sprunghafte Anstieg der Zuwanderung von Aussiedlern und Geflüchteten nach der deutschen Vereinigung Anfang der 1990er Jahre; Und aktuell die Frage: Wie sollen wir als Land mit der Herausforderung von Einwanderung und Flucht umgehen?

Ich werde darauf zurückkommen.

Lassen Sie uns in einem zweiten Blick auf die aktuelle Situation schauen.

Am 20. Oktober 2014 formierte sich in Dresden zum ersten Mal eine Demonstration unter dem Namen PEGIDA (Patriotische Europäer Gegen Islamisierung Des Abendlandes). Gerade einmal 350 Menschen nahmen an der Demonstration teil. Wöchentlich wurde diese Demonstration wiederholt – die Teilnehmerzahlen verdoppelten sich dabei quasi jedes Mal. Schnell wurde die Presse auf das Phänomen aufmerksam – erst die regionale Presse, dann die bundesweiten Medien. Mit der Berichterstattung wuchsen die „Likes“ auf der Facebook-Seite von PEGIDA. Schnell übersprang sie die 10.000er Grenze, Ende November 2014 hatte sie schon 25.000 Likes, im Januar 2015 über 100.000 und im Februar 2016 knackte sie die 200.000er Grenze. PEGIDA wurde zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Vielerorts versuchten Nachahmer aufzuspringen. Auch in Villingen-Schwenningen (Schwarzwald-Baar-Kreis), Karlsruhe und Stuttgart gingen im vergangenen Jahr Menschen unter dem Banner PEGIDA auf die Straße.

In anderen Städten oder Regionen gaben Gruppen ihren Ablegern eigene Namen und versuchten sich zu etablieren: Bärgida in Berlin Legida in Leipzig Mügida in München

Mitunter fanden sich in diesen lokalen Gruppen Menschen wieder, die vor einigen Jahren noch in klassisch neonazistischen Gruppierungen und Hooligan-Vereinigungen aktiv waren oder sind, wie zum Beispiel bei BOGIDA (Bonn) , Kögida (Köln) oder SÜGIDA (Südthüringen).

Tatsächlich – so muss man resümieren – ist PEGIDA heute nur noch in Sachsen bzw. Dresden von Bedeutung. Nach wie vor versammeln sich dort Woche für Woche 3.000 bis 5.000 Menschen.

Vielsagend war und ist es für Beobachterinnen und Beobachter, dass sich die Organisatoren und auch die Demonstranten in den ersten Monaten weigerten, mit der „Lügenpresse“ zu reden. (Eine Ausnahme bildete „Russia Today“.) Entsprechend ließ sich die Agenda von PEGIDA nur aus den kurzen Wortmeldungen, Transparenten und aus Äußerungen in den Sozialen Medien ableiten. So bezeichnete das Gründungsmitglied Lutz Bachmann auf Facebook Geflüchtete als „Gelumpe“ und „Dreckspack“. Auf einer Rede in Leipzig am 11. Januar 2016 äußerte sich die PEGIDA-Organisatorin Tatjana Festerling folgendermaßen: „Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln.“

Trotz dieser Aussagen und Forderungen verwahrten sich die PEGIDA-Anhänger dagegen, dass ihnen das Label „rechts“ oder „rechtsextrem“ aufgedrückt wurde. Aus ihrer Perspektive sei dies kein Resultat einer Analyse, sondern Stigmatisierung der „linksliberalen Meinungspropaganda“.

Und so erlebte die Parole „Lügenpresse“ von Dresden aus eine Renaissance.

Mich irritiert es gelinde gesagt, wenn jemand auf seinen Veranstaltungen rechtsextreme Positionen bezieht, wiederholt bekannte Vertreter europäischer rechtspopulistischer Gruppierungen einlädt [Geert Wilders; Filip Dewinter vom Vlaams Belang (VB)] und sich trotz allem gegen eine Einordnung in die rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Kategorie wehrt. Man sollte wissen, was man tut – auch wenn man sich mit Einladungen wie diesen oder mit Reden wie der von Akif Pirincci positioniert, der von der „Moslemmüllhalde Deutschland“ sprach.

Persönlich irritiert mich auch bis heute auf ganz besondere Weise der Gestus, mit dem PEGIDA auftritt. Ihre wöchentliche Inszenierung orientiert sich an den Montagsspaziergängen der Revolutionszeit in der DDR. Zum Teil wird sogar versucht, die damalige „Choreographie“ eins zu eins umzusetzen. Wenn die Menschen 1989 vorwiegend schweigend durch eine Stadt zogen und Kerzen mit sich führten, ersetzt heute eine entsprechende App des Smartphones diese Funktion.

In der Zeit, als PEGIDA zum Höhenflug ansetzte, war die Alternative für Deutschland (AfD) politisch kein großes Thema mehr. Ausgangspunkt der Partei war ein „Verein zur Unterstützung der Wahlalternative 2013“, der im September 2012 gegründet worden war. Ihr zentrales Thema war die Euro-Politik der Bundesregierung und der EU. Aus dieser „Wahlalternative“ erwuchs im Frühjahr 2013 die AfD, die im selben Jahr bei der Bundestagswahl knapp an der 5-Prozent-Hürde scheiterte [4,7 %]. Und obwohl aus Perspektive der Parteienforschung das Ergebnis ein Achtungserfolg für eine so junge Partei war, rieb sie sich in den kommenden Monaten mit internen Debatten beinahe auf. Erst der Wahlkampf zur Europawahl im Mai 2014 einte die Partei kurzzeitig wieder. Der AfD gelang es mit ihrem Spitzenkandidaten, dem Hamburger Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke, 7,1 Prozent der Stimmen zu holen. Der Erfolg ging vor allem auf eine vehemente Kritik der deutschen und europäischen Rettungspläne für Banken, Länder und letztlich den Euro zurück. Mit sieben Mandaten zog die Partei in das Europaparlament in Straßburg ein. Doch nach dem Erfolg setzte sich der innerparteiliche Streit fort und eskalierte. Lucke kritisierte einen Rechtsruck in Teilen der Partei, ihm wurde wiederum ein autoritärer Führungsstil vorgeworfen. Der Streit endete vorerst damit, dass auf dem Bundesparteitag im Juli 2015 Frauke Petry zur neuen Vorsitzenden gewählt wurde. Bernd Lucke verließ daraufhin die Partei, andere folgten. Heute verfügt die AfD im Europaparlament nur noch über zwei Mandate.

Erst mit den nach oben schnellenden Zahlen von Geflüchteten, die spätestens ab Frühsommer 2015 ihren Weg vor allem nach Deutschland und Schweden fanden, sowie der Haltung der Kanzlerin, stieg die Popularität der AfD wieder – allerdings zunächst ohne großes Zutun.

Es schien für die Bürgerinnen und Bürger ausreichend, dass es dort eine Partei gibt, die für sie eine restriktive Haltung gegenüber der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik einnahm und -nimmt. Tatsächlich war die AfD in den öffentlichen Debatten kaum präsent. Diese wurden bestimmt durch die Kontroverse zwischen der Kanzlerin Angela Merkel und Horst Seehofer.

Die AfD befand sich entsprechend in einer komfortablen Lage. Sie konnte kommentieren und polarisieren. So störten sich die Wählerinnen und Wähler der AfD auch nicht an Aussagen von Vertreterinnen und Vertretern der Partei, die fremdenfeindliche Ressentiments bedienen und völkische Untertöne besitzen. So nutzte der thüringische Fraktionsvorsitzende der AfD, Björn Höcke, auf einer Rede in Erfurt eine eindeutige Rhetorik, als er von „1000 Jahren Deutschland“ sprach. Bei einem Auftritt beim neurechten „Institut für Staatspolitik“ beschrieb er unter Rückgriff auf biologistische Argumente den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstypus“. Frauke Petry legte Bestimmungen für die Bundespolizei so aus, dass der Schusswaffengebrauch an der Grenze gegenüber Geflüchteten zwingend sei. Auf Facebook präzisierte die Europaabgeordnete der Partei, Beatrix von Storch, dass die Waffe auch gegen Kinder gerichtet werden müsse. Später entschuldigte sie diese Aussage damit, dass sie lediglich „auf der Computermaus ausgerutscht“ sei. Distanzierungen der Partei aufgrund dieser oder ähnlicher Aussagen sind in der Regel zweideutig, halbherzig oder bleiben ganz aus.

Die AfD füllt – so könnte man es sagen – die von Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern in den vergangenen Jahren wiederholt für Deutschland diagnostizierte rechtspopulistische Lücke aus.

Diese Lücke konnte sie auch durch eine geschickte Strategie in den Sozialen Netzwerken ausfüllen. Seit dem Aufkommen des „Web 2.0“, den partizipativen Angeboten in den Sozialen Medien, wie Twitter und Facebook, aber auch in den Kommentarspalten vieler Online-Medien, häuften sich Unmutsbekundungen gegenüber „den Systemmedien“. In den Augen der Kommentatoren würden sie mundtot gemacht. In den Kommentarspalten fanden sie Raum, sich zu äußern. Dem „digitalen Volkswillen“ schenkte die AfD Gehör, hier fühlten sich viele verstanden und aufgehoben. Ein Großteil der übrigen Parteien ignorierte hingegen lange das Potential dieser politischen Kommunikation.

Die Umfragen der Forschung um Wilhelm Heitmeyer beziehungsweise von Andreas Zick an der Universität Bielefeld sowie des Teams um Oliver Decker von der Universität Leipzig zeigen immer wieder, dass es in der Bundesrepublik hohe Zustimmungsraten für unterschiedliche Aspekte von Vorurteilsstrukturen gibt. So bekamen schon lange vor dem Aufkommen von PEGIDA oder der AfD Aussagen zur „Überfremdung durch Muslime“ oder dem generell kriminellen Wesen von Sinti und Roma hohen Zuspruch.

Nach den Landtagswahlen vom März veröffentlichte Infratest dimap Umfragen, nach denen rund zwei Drittel der AfD-Wählerinnen und Wähler die Partei nur wählten, weil sie von anderen Parteien enttäuscht worden seien. Programmatische Aussagen werden nicht nur nicht vermisst, sie sind der Mehrzahl der AfD-Wählerinnen und -Wähler offenbar vollkommen gleichgültig. Darunter sind Analysen zufolge besonders viele, die zuletzt gar nicht oder nicht mehr gewählt haben.

Das macht Gegenstrategien schwierig. Und doch: Wer sich einmal über die Agenda der Partei informieren möchte, dem empfehle ich das Parteiprogramm, dessen Entwurf kurz vor Ostern veröffentlicht wurde. Der durch Abgase bewirkte Klimawandel findet für die AfD nicht statt. "Kohlendioxid ist kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil allen Lebens“ – so steht es im Programmpunkt „Energiepolitik“. Eine Senkung der CO2-Emissionen würde den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen . Alternative Familienmodelle sieht die Partei skeptisch – die Familie mit Vater, Mutter und Kind ist für sie „die Keimzelle der Gesellschaft“, ein „falsch verstandener Feminismus“ würde die Frau in den Arbeitsmarkt drängen, so das Programm der AfD . Schlussendlich bekennt sich die AfD in ihrem Programm zur Glaubensfreiheit – postuliert aber fünf Sätze später, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre .

Lassen Sie mich nun noch einen dritten Aspekt aufgreifen, der im Kontext einer Diskussion über eine neue Gefahr von ganz Rechts nicht vergessen werden darf – der massive Anstieg von Gewalt.

Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsheime hat sich 2015 im Vergleich zum Vorjahr laut dem Bundeskriminalamt verfünffacht. Gab es im Jahr 2014 insgesamt 199 Attacken, von denen 177 einen rechtsextremen Hintergrund hatten, so waren es im vergangenen Jahr 1005 Angriffe, 901 davon mit einem eindeutig rechtsextremen Hintergrund . Es scheint mitunter so, als erlebten wir ein Déjà-vu der Situation der frühen 1990er Jahre. Damals wurde auf den Zuzug von Aussiedlern und die starke Zunahme von Asylsuchenden mancherorts mit massiver Gewalt reagiert. Die Menschen und ihre Unterkünfte wurden damals wie heute attackiert. Ins Visier gerieten aber auch alle anderen Menschen, die als „fremd“ wahrgenommen wurden. Sie erinnern sich an einen der schrecklichen Höhepunkte rassistischer Gewalt, als junge Rechtsextreme in Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand steckten, bei dem fünf Menschen starben. Darunter die gerade einmal vier Jahre alte Saime Genç, die nach einem Sprung aus dem brennenden Haus ihren schweren Verletzungen erlag. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges Kind und ein fünfzehn Jahre alter Junge überlebten trotz lebensgefährlicher Verletzungen. Die Familie lebte seit vielen Jahren in Deutschland. Das waren die Jahre, in denen sich die späteren Täter des selbst erklärten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) radikalisierten. Ihre Blutspur zog sich in den 2000er Jahren durch unser Land.

Kommen wir nun schließlich zu der Ausgangsfrage zurück: droht uns eine neue Gefahr von rechts?

Nein, es droht uns nicht etwas Zukünftiges. Die Gefahr ist bereits gegenwärtig. Und sie ist schon länger gegenwärtig. Wenn Sie sich mit Menschen unterhalten, die zugewandert sind und hier ihre Zuflucht gefunden haben, hören Sie in der Regel, wie glücklich sie zumeist sind, hier zu leben. Das ist ein großes Kompliment für unser Land und für unseren freiheitlichen Rechtsstaat.

Im weiteren Verlauf berichten sie aber auch von Diskriminierungen im Alltag. Gerade sie hat die zufällige Enttarnung des NSU erschüttert, vor allem im Vertrauen auf den Staat. Und die jüngste Kette von Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte beunruhigt sie – sie fürchten, demnächst selbst ins Visier zu geraten.

Die Gefahr nimmt ihren Ausgangspunkt, wie ich eingangs andeutete, in Vorstellungen über unser Zusammenleben, die denen einer offenen und pluralistischen Gesellschaft diametral gegenüberstehen. Denn die Wahlerfolge der AfD, das Phänomen PEGIDA und der massive Anstieg an Übergriffen auf Flüchtlingsheime zeugen von einem sich vergrößernden Riss durch unsere Gesellschaft. Auf der einen Seite dieses Risses steht eine wachsende, ermutigende, großartige Zivilgesellschaft, auf die ich sehr stolz bin und die unser erster Partner ist: postmigrantische Milieus nicht nur in den Großstädten, selbstverständlich Helfende und Engagierte, Menschen, die nicht mehr in „Wir“ und „Die“ teilen. Auf der anderen Seite stehen viele, die mit Angst vor immer neuen Veränderungen der Gesellschaft erfüllt sind – sei das das Aufbrechen des traditionellen Familienbildes oder der Wandel in der Gesellschaft, hin zu einer multikulturellen, pluralistischen, vielleicht transnationalen Gemeinschaft. Letztlich handelt es sich um eine wachsende Zahl von Modernisierungs- und Globalisierungsverängstigten.

Notwendig ist es meines Erachtens daher, sich diesem Teil der Gesellschaft in Debatten zu stellen und für ein weltoffenes, vielfältiges Land zu werben. Die Zivilgesellschaft stärken: Das heißt auch, zum Engagement ausdrücklich zu ermutigen und aufzurufen, in Flüchtlingsinitiativen, bei der Hausaufgabenhilfe – ja, auch zum Eintritt in eine demokratische, politische Partei. Farbe bekennen – für ein Land, in dem das Fremde als Bereicherung und nicht als Bedrohung aufgefasst wird. Diesem Dialog müssen wir uns stellen – dies allerdings nur bis zu einer bestimmten Grenze. Denn eins muss klar sein: Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

Wir dürfen nicht nur darauf schielen, wo sich Einstellungen in einem extremistischen Weltbild manifestieren, sondern müssen uns viel früher mit Diskriminierungen unterschiedlicher Art auseinandersetzen. Denn gerade hier kann politische Bildung ansetzen.

Wir müssen uns aber auch verstärkt den neuen Deutschen zuwenden, den Zugewanderten und Flüchtlingen. Denn viel zu lang wurde die Perspektive der Betroffenen von Diskriminierung und Ausgrenzung nur begrenzt wahrgenommen.

Eins lassen Sie mich zum Abschluss noch sagen – als ehemaliger Senator für Jugend und Familie in Berlin. Politiker stellen sich bereits den Fragen der Bürgerinnen und Bürger, aber meines Erachtens müssen wir noch viel mehr lernen zuzuhören und mit den Menschen zu diskutieren. Die Bürgerinnen und Bürger wiederum dürfen nicht erwarten, dass Politiker immer gleich Patentlösungen aus dem Hut zaubern. Denn eines sollte einen in politischen Debatten immer misstrauisch machen – wenn Menschen einfache Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme propagieren. Auf der Strecke bleiben da meistens die Schwächsten.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten