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Unmögliche Ordnung: Europa, Macht und die Suche nach einem neuen Migrationsregime (Berlin, 12.Mai 2017) | Presse | bpb.de

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Unmögliche Ordnung: Europa, Macht und die Suche nach einem neuen Migrationsregime (Berlin, 12.Mai 2017) Internationale Konferenz im Besucherzentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer

/ 7 Minuten zu lesen

Lieber Martin Sabrow,
sehr geehrte Kuratoren dieser Konferenz: Herr Wolff und Frau Detjen,
meine verehrten Damen und Herren,
vor einer Woche war ich auf dem von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Demokratiekongress der Allianz für Weltoffenheit. Auf die Fahne geschrieben hatten wir uns Artikel 1 des Grundgesetzes: die Würde des Menschen ist unantastbar. Vertreterinnen und Vertreter der großen Spitzenverbände setzten ein gemeinsames Zeichen für eine offene Gesellschaft.

Am Ende ist mir vor allem ein Statement aus dem Publikum ganz besonders im Gedächtnis geblieben – das war der Moment, als ein Kapitänleutnant der Bundeswehr aus dem Plenum ans Mikro trat. Der Kapitänleutnant war vor Somalia und dem Libanon auf See im Einsatz. Vergangene Woche machte er mehreren Hundert Zuhörern bei dem Kongress der Allianz für Weltoffenheit in deutlichen Sätzen klar, was es heißt für uneingeschränkte Solidarität und Menschenwürde in Zeiten von Krisen und Kriegen einzutreten: "Menschen können von einer Kalaschnikow in ihrem Herkunftsland getötet werden – Menschen können aber genauso vor unseren Küsten ertrinken. Unser Boot ist nicht voll. Wir müssen unser Boot nur stärker machen."

Migration ist global. Migration ist nicht neu. In Europa ist sie der "Normalfall" moderner Gesellschaften. Migration hat seit jeher zu gesellschaftlichen Veränderungen beigetragen und ist nicht erst seit Sommer 2015 in unserem Alltag angekommen. Aber etwas ist heute anders: Der ideelle Überbau der Europäischen Gemeinschaft – unser aufgeklärtes humanistisches Wertesystem – wird strapaziert. Der Vormarsch rechtspopulistischer, menschenfeindlicher und autoritärer Gruppen und Stimmungen quer durch Europa steht für diese Herausforderung. Gleichwohl ist auf die größte soziale Bewegung in Deutschland und vielen anderen europäischen Gesellschaften seit Jahrzehnten hinzuweisen: den vielen zivilgesellschaftlichen Kräften, die sich für Weltoffenheit und Solidarität mit Geflüchteten engagieren.

Migration mag auch in der Geschichte nicht immer positive Begeisterungsstürme in den aufnehmenden Gesellschaften ausgelöst haben. In der Reaktion versuchen wir sie zu begrenzen. Dass aber Migration nur bedingt regulier- und steuerbar ist, schrieb der Soziologe Zygmunt Bauman: "In der heutigen Welt kann man zwar die Einwanderung – wenn auch mit schwindendem Erfolg – zu begrenzen versuchen, die Migration jedoch folgt unabhängig von dem, was wir tun, ihrer eigenen Logik."

Im Kontext der Flüchtlingssituation sind in den vergangenen Jahren Orte – oder vielmehr Gegenorte – in der Europäischen Union entstanden, um dieser Logik Herr zu werden. An diese Orte lagern europäische Staaten die Folgen einer widersprüchlichen Migrations- und Asylpolitik aus.

Wir wissen, dass es keinen globalen Schutzraum für Geflüchtete gibt, da die Genfer Flüchtlingskonvention bis heute nicht von allen Staaten der Welt unterzeichnet ist – dennoch sind die Stimmen, die sich für einen globalen Schutzraum einsetzen, nicht laut genug, um ihrer Forderung Gehör zu verleihen. Im Mittelpunkt des europäischen Migrationsregimes steht vielmehr die sogenannte Hotspot-Strategie der EU. Die Idee der Strategie ist es, Einreisende möglichst an der Schengen-Außengrenze aufzugreifen und zu registrieren, bevor sie einen Asylantrag stellen. Diese Politik wird derzeit in Italien und Griechenland umgesetzt. Diese Hotspots, ebenso wie Erstaufnahmezentren in Österreich und Deutschland, dienen der Kontrolle von Fluchtbewegungen.

Sie sind Ausdruck dafür, dass die Europäische Staatengemeinschaft nach wie vor auf der Suche ist nach einer kohärenten Migrationsstrategie, die nicht nur von allen Mitgliedern solidarisch getragen wird, sondern auch präzise die unterschiedlichen Bedarfe von Zuwanderung und Asyl aufgreift. Mit anderen Worten: Eine Strategie, die sowohl ökonomischen Bedarfen nach Fachkräften gerecht wird, als auch die Idee des politischen Asyls garantiert.

Nach wie vor werden in der Diskussion über Migration Aspekte der Zuwanderung, Flucht und Personenfreizügigkeit vermengt – nicht selten mit dem Risiko einer Ökonomisierung der Asyl-Frage:

Wer kommen und bleiben darf, orientiert sich nicht nur am Schutzbedürfnis der Einzelnen, sondern auch an ihrer Beschäftigungsfähigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Diese Tendenz ist nicht zufällig, sondern folgt einer inneren Logik, die sich folgendermaßen zeichnen lässt: Die Geschichte der Migration im Kapitalismus und ihre Etappen sind auch historisch gesehen gekennzeichnet durch ein Verwischen der Grenzen zwischen "erzwungener" und "freiwilliger" Migration: Sei es der transatlantische Sklavenhandel im 18. Jahrhundert oder die seit der Eurokrise zu beobachtende Migration von Süd- nach Mittel- und Nordeuropa.

Sandro Mezzadra, Professor für politische Theorie und Philosophie mit derzeitigem Forschungsaufenthalt am Berliner Institut für Migrationsforschung, weist in diesem Zusammenhang auf eine Politisierung von Mobilität und Arbeitsmigration als Konfliktfeld hin.

Ein Konfliktfeld, das heute und in der Geschichte ebenso Proteste, Widerstand, Gewalt und Enteignung nach sich gezogen hat. Für ihn ist "Migration (...) seit Jahrzehnten eine Triebkraft der ‚Globalisierung von unten‘ und (sie) stellt die nationalstaatliche Weltordnung infrage." Während diese Konflikte in der Vergangenheit durch die Flexibilisierung von Arbeitskraft und Wirtschaft ausgetragen werden konnten, spielen heute andere Triebkräfte eine Rolle: Wanderrouten und Migrationsverläufe sind komplexer, die Techniken zur Steuerung sind andere.

Sandro Mezzadra stellt die These auf, "dass der heutige Umgang mit Migration von einer "logistischen" Fantasievorstellung geprägt ist, die in Ausdrücken wie "just-intime" oder "bedarfsgerecht" zur Geltung kommt." Eine Einsicht, die wirtschaftliche wie auch politische Akteure teilen, ist: Migration ist für das Funktionieren des "flexiblen Kapitalismus" notwendig. Aber: "Dieser Konsens arbeitet gegen die Tendenz zur nationalen Abschottung, deren Zeuge wir derzeit sind."

Sehr geehrte Damen und Herren, die Widersprüche in der Suche nach einer gemeinsamen Antwort auf die Aufnahmekrise zeigen, wie bedroht das kosmopolitische und weltoffene Projekt Europa ist – und wie groß die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des europäischen Kosmopolitismus.

Die Soziologin Gurminder K. Bhambra von der Universität Warwick sieht hierin auch Versäumnisse der europäischen Gesellschaften in der Aufarbeitung der gemeinsamen kolonialen Vergangenheit. Sie geht so weit zu sagen, dass die aktuellen Debatten um Flucht und Migration nur vor dem historisch-politischen Hintergrund Europas zu verstehen sind: Aus diesem ergebe sich die dringende Aufgabe der weiteren Aufarbeitung der kolonialen Verflechtungen im 20. Jahrhundert. Nicht als Aufgabe der einzelnen Nationalstaaten – sondern als gesamteuropäische.

Eine selektive Erinnerungspolitik, welche die koloniale und imperiale Geschichte des europäischen Einigungsprozesses ignoriere, führe zu einer selektiven Verteilung von Rechten und einem sehr engen Verständnis unserer Verantwortungen heute. Ein Schritt in die Richtung eines inklusiv gedachten Europas, das seine Heterogenität und Vielfalt als Gewinn versteht, wäre dagegen ein konstruktiver Umgang mit dem weiterhin wirkmächtigen Erbe der kolonialen Moderne.

Der Berliner Historiker Sebastian Conrad geht einen Schritt weiter: Das Wesen von Kolonialität beruhe auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen und der kolonisierten Menschen als Arbeitskräfte. Anzulegen sei ein "weiter Kolonialismusbegriff", hier "Kolonialität" genannt, der sich nicht entlang geografischer Grenzen definiere, sondern ‚Verflechtungen‘ zwischen Kolonien und kolonisierenden Staaten generell sowie die Rückwirkungen von Kolonialismus auf die Metropolen einschließe.

Diese Formen der Verflechtungen beruhten auf der Asymmetrie, welche die Unterwerfung ganzer Gesellschaften und damit strukturelle Ungleichheit produzierten.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Geflüchtete und Migranten sind hier, weil es in ihrem Teil der Welt Kriege, Armut und Umweltzerstörung gibt. Aber sie sind auch hier, weil sie – genau wie wir – Welt in Reichweite bringen wollen oder z.B. mittels digitaler Medien bereits gebracht haben.

Es ist für die Bildung der Zukunft fundamental, dass das Prinzip der Kontroversität bzw. der Multiperspektivität stärker unseren Diskursräumen zugrunde gelegt wird. Eurozentristische Sichtweisen sind traditionellerweise einseitig und hegemonial. Das beschreibt beispielsweise die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozie Adichie in ihrem TED-Vortrag „The Danger of a single Story“, den Sie sich unbedingt bei youtube ansehen sollten.

Sie beschreibt in ihrer Literatur aber auch genau dieses Paradox: wir leben in einer Welt, die einerseits immer enger zusammenrückt – deren Grenzen aber andererseits immer schärfer bewacht werden. Es sind Grenzen, die auch Perspektivwechsel und andere Erzählungen von Geschichte unterbinden.

Die 600jährige Herrschaft Europas über weite Teile der Welt wirkt fort – auch durch die Dominanz kolonialer Geschichtsbilder, die nur die „Errungenschaften Europas“ zeigen. Ausgelassen wird dabei jedoch, dass diese historischen Entwicklungen des Wohlstandes auf dem europäischen Kolonialismus basieren. Es ist die Erzählung einer dominanten Geschichte. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig und unabdingbar, dass wir dazu Position beziehen. Politische Bildung muss sich postkolonial verorten und dekolonisierend wirken. Anders kann sie im globalisierten Kontext nicht mehr gedacht werden. Bildung muss irritieren; sie muss dazu beitragen, Aspekte wie Ungewissheit, Utopie, Diversität oder Ambiguität zu fördern, die für die Zukunftsoffenheit der demokratischen Gesellschaften fundamental sind.

Wie können wir in den Migrationsgesellschaften Europas, vielleicht sogar in postmigrantischen Gesellschaften, „Europa“ verteidigen? Europa ist eine libanesische Prinzessin, die einst am Strand von Sidon vom Griechen Zeus entführt wurde – so der französische Autor Mathias Enard, diesjähriger Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung: „Auch Europa, die nie in ihrem Leben einen Fuß in unsere Landstriche gesetzt hat, ist eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute.“ Nationale Vergangenheit und globale Zukunft von Gesellschaften müssen in eine (selbst-)kritische Beziehung zueinander gebracht werden. Wer Vielfalt leben und als Ziel verfolgen will, muss die globalen Ungleichheiten nicht nur moderieren, sondern bekämpfen und hinter sich lassen. Dekolonisierung ist deshalb immer Voraussetzung gelebter Diversität und muss in der Bildung als Prinzip und Methode zum Tragen kommen. Nichts ist gefährlicher als die vermeintliche Sicherheit einfacher Lösungen, die zurück ins Nationale, ins Enge verweisen.

Und man misstraue all jenen, die nur eine Meinung zulassen, nur eine Hautfarbe, nur eine Religion, nur eine Nation – die nur ein einziges Buch lesen, das aber besonders intensiv. Um es mit Matthias Enard zu sagen: „Setzen wir ihm die unzähligen Sprachen entgegen, die endlos vielen Erzählungen.“

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten