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Laudatio für die Dauerausstellung "Free Jazz in der DDR - Weltniveau im Überwachungsstaat" (Peitz, 9. Juni 2017) | Presse | bpb.de

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Laudatio für die Dauerausstellung "Free Jazz in der DDR - Weltniveau im Überwachungsstaat" (Peitz, 9. Juni 2017) im Rahmen der 53. Jazzwerkstatt Peitz

/ 12 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Jazz-Freunde in Peitz!

Es geschah im Jahr 1956. 3 Jahre vor meiner Geburt, 20 Jahre vor meinem ersten Free Jazzkonzert im Kreiskulturhaus Weimar. Der alternde DDR Kulturminister Johannes R. Becher überließ dem im Spanienkrieg kampferprobten Poststalinisten und Leiter des Aufbauverlages Walter Janka seine Dienstlimousine. Er sollte den Intellektuellen Georg Lukács aus den Fängen seiner stalinistischen Häscher befreien. Lukács war Bechers Amtskollege in der Regierung von Imre Nagy, die sich dem Sowjetregime entgegenstellte. Etwa zu derselben Zeit stellte der amerikanische Biogerontologe Denham Harman die Theorie der Freien Radikale auf. Diese Molekülfragmente seien im wesentlichen die Ursache von Alterungsprozessen, die sich über die DNA und eine Vielzahl von Proteinen und Lipiden hermachen und sie schädigen. Zunächst können die Zellen diese Angriffe noch abwehren, weil sie sogenannte "Radikalfänger" produzieren, die die Freien Radikale zerlegen. Aber auf Dauer ist gegen sie kein Kraut gewachsen. Während Johannes R.Becher für seinen Evakuierungsversuch 1956 Walter Ulbricht um Erlaubnis fragte und prompt eine Abfuhr bekam und kurze Zeit später auch sein Amt los war, war die Theorie der freien Radikale ungleich erfolgreicher und zog ihre Spur durch die Biochemie bis in die Gegenwart.

Auch wenn unser Land nun schon längere Zeit von einer Naturwissenschaftlerin regiert wird, wollen wir - Erfolg hin oder her - nicht den Leichtsinn begehen, die Gesetze der Naturwissenschaften mir nichts dir nichts auf die Sozialwissenschaften zu erstrecken. Jedenfalls nicht ungeprüft. Aber, meine Damen und Herren, man wird doch schon nochmal fragen dürfen..., also fragen dürfen, was die Freien Töne mit den Freien Radikalen zu tun haben, also ob der Free Jazz in der DDR irgendwas zum Mauerfall beigetragen hat und was er so getrieben hat, dass man ihm "Weltniveau" zu unterstellen bereit ist. Ausgerechnet in der DDR, einem betont langweiligen, weil kontrollierten Land, ausgerechnet in der DDR, die die amerikanischen und westlichen Umtriebe in der Kultur komplett auf dem Radar zu haben und in Schach zu halten schien.

Lassen Sie mich es, trotz meiner Befangenheit und der Prüfung halber, mit fünf Thesen versuchen, um einige der Faktoren zu identifizieren, warum sich in den späten 60ger und frühen 70ger Jahren die Weichen für diese außergewöhnliche Geschichte gestellt haben.

These 1: Exil, Repressionserfahrung und der Weg zur Erfindung einer Ästhetik der "konditionierten Differenz"


In der zeitgenössischen Musik der DDR spielten Musiker wie Eisler, Weill und Dessau eine Schlüsselrolle. Alle kannten sich aus dem amerikanischen Exil. Die Erfahrung politischer Repression - wo auch immer sie lebten - war ihnen gemeinsam. Sie waren in der DDR nicht unumstritten. Eisler und Dessau, die sich nach dem Krieg für ein Leben in der DDR entschieden, hatten wie Weill enge Arbeitsbeziehungen zu Bertolt Brecht. Beide waren in den Formalismusstreit einbezogen und wurden von den Kulturoffizieren der SED hart attackiert. Insbesondere Eisler musste sich wegen seinem "Faustus" harten Attacken der Ulbrichtschen Administration und ihrer stalinistischen Kulturapostel erwehren. Dessau erging es mit dem "Lukullus" nicht viel besser. Als zeitgenössische Komponisten hatten sie vielfache interdisziplinäre Arbeitserfahrungen im Film- und Theaterbereich, Berührungen mit der Jazzmusik einbezogen. Aber die Kombination von Exilerfahrung, also der erlebten Repression vor der Flucht und nicht selten auch danach und der damit einhergehenden Selbstbehauptung sowie den erworbenen Kompetenzen unter widrigen Bedingungen durchzuhalten, bleiben für künstlerische Biografien in der DDR ein wesentlicher Referenzpunkt.

Nicht vergessen werden dürfen die großen DDR-Gastspiele von Louis Armstrong und Ella Fitzgerald, die als unterdrückte People of Colour als dem imperialistischen Westen, namentlich der USA, kritisch Gegenüberstehende vereinnahmt wurden. Jazz wurde so in gewisser Weise zur Frage des Klassenstandpunkts und einem ideologischen Moderneverständnis, was zumindestens für textlose Interpretationen schwer zurückzunehmen war. Unbemerkt handelten sich die Kulturfunktionäre somit auch das dem Jazz inhärente hegemoniekritische Potential ein, dass sich auch gegen sie selbst wenden sollte.

Absurderweise war dann gerade der Mauerbau eine Zäsur, die Künstlern auch neue Spielräume eröffneten. Zu erinnern ist an die Lyrikbewegung der frühen 60ger Jahre, die insbesondere Stephan Hermlin nach außen vertrat und an die Entwicklungen in der bildenden Kunst. Das ging, wie jeder Öffnungsversuch in der DDR nicht lange gut. Mit der 2.Bitterfelder Konferenz 1964 wurde der sogenannte Bitterfelder Weg auf die Indienstnahme der Künstler zur Herausbildung des sozialistischen Bewusstseins fokussiert. Die Kulturstalinisten begannen den Bogen zu überspannen. Als Ende der 60ger Jahre die Ulbricht-Ära zu Ende ging und sich die Rauchschwaden des 11.Plenums des ZK der SED verzogen, die viele Kulturschaffende mit Sanktionen überzogen, begann die Kultur in ihren Genres wieder vorsichtig zu blühen. Die Künstler hatten aber dazugelernt. Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T." und Ulrich Plenzdorffs "Neue Leiden des jungen W." markierten vorsichtig literarische Distanzen, die Produktionen der DEFA ("Der Dritte", "Die Legende von Paul und Paula") begannen das Private politisch zu interpretieren. Es setzte so etwas wie eine relative Pluralisierung in den Künsten ein, auch mit dem Ergebnis der Rehabilitierung einst ideologisch verfemter Künstler. Ästhetisch gesehen wird in diesen Jahren so etwas wie eine "konditionierte Differenz" erfunden, ein gestaltbarer Spielraum der Selbstachtung und Selbstbehauptung, um so eine Art "richtiges Leben im falschen" führen zu können. Das hatte der Philosoph Theodor W. Adorno in "Minima Moralia" zwar prinzipiell ausgeschlossen, aber immerhin eingeräumt: "Einzig listige Verschränkung von Glück und Arbeit läßt unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch offen."

Die frei improvisierenden Jazzer waren ganz Kinder der DDR und standen in dieser künstlerischen Tradition und dem zeitgeschichtlichen Kontext. Die DDR war und blieb ihr Kontext. Sie haben sich eigentlich nie als Epigonen westlicher Kultur verstanden, sondern einen eigenen Weg, einen eigenen Ausdruck gesucht und sich dialogisch auf ihre Zeitgenossen bezogen.

These 2: Die Werkschöpfung - Produktionen aus der Werkstatt


Natürlich war der Aufbruch der angelsächsischen Pop- und Rockmusik ein wichtiger allgemeiner kultureller Referenzpunkt. Während aber in der ostdeutschen Popmusik der damaligen Zeit immer auch das Nachspielen geläufiger Charthits gesetzt und vom Publikum auch erwünscht war und die Eigenkompositionen nicht selten zur Erfüllung der vorgeschriebenen Quoten dienten (ich erinnere an das Prinzip 60/40) - Ausnahmen bestätigen die Regel - drehte sich der Wind in der frei improvisierten Musik seit Ende der 60ger Jahre. Zunehmend wurde das gemeinsame Improvisieren Methode der Aufführungspraxis. Improvisation - das hieß Arbeit in der Werkstatt, Selbstbehauptung und Selbsterfindung. Die Free Jazz Szene befand sich in permanenter Herstellung und Produktion. Das hat ihr einen autonomen Charakter verschafft. Potentielle kritische Einwände der Kulturobservatoren perlten an diesem musikalischen Selbstverständnis ab und verschafften den Freien Tönen eine gewisse Resilienz gegenüber eifrig übergriffigen Zensoren. Folgerichtig nahmen Veranstalter wie Ulli Blobel und Peter Metag das auch in ihr Selbstverständnis auf: Die "Jazzwerkstatt Peitz" war eines der Sinnbilder dieses Selbstverständnisses der frei improvisierten Szene. Oder mit den Worten Bert Noglicks in seinem 5.Punkt zur Jazzwerkstatt Peitz 1980: " Peitz hat nicht nur vorhandene Gruppen präsentiert, sondern von Anfang an den Werkstattcharakter produktiv werden lassen, Musiker und Gruppen angeregt, ohne sie in eine Richtung zu drängen..."

These 3: Die Sehnsucht der Provinz nach der Welt


Der Pianist Fred van Howe soll von der "DDR als dem gelobten Land der frei improvisierten Musik" gesprochen haben. Ein aus heutiger Sicht mithin ambivalenter Satz, der die Abgründe der Kulturpolitik der DDR zu verschleiern droht. Aber wie kommt ein Westeuropäer dazu, ausgerechnet in der DDR das Free-Jazz Paradies zu erkennen? An den in DDR-Mark ausgezahlten Gagen wird es kaum gelegen haben. Eher an der Erfahrung musikalischer Interaktion und Autonomie und ihrer Resonanz auf Seiten eines verglichen mit Besucherzahlen in der freien Welt tendentiell zahlreichen und vor allem rezeptionsbereiten Publikums. Es fällt auf, dass der Free Jazz nicht nur in den größeren Städten der DDR verankert war. Natürlich gab es seit 1965 "Jazz in der Kammer" an den Kammerspielen des Deutschen Theaters, natürlich auch die wichtigen Aufführungsorte in Leipzig und Dresden. Aber der Free Jazz kam gerade in der Provinz ganz zu sich. Die Jazzfans in Freiberg, Glauchau, Ilmenau, Greifswald und Mittweida (unvergessen Jo Sachses Provinzhymne "Round about Mittweida" auf seiner Amiga Scheibe), haben oft selber Hand angelegt, um eine Aufführungsinfrastruktur zu schaffen, in der die Freien Töne geteilt werden konnten. Die DDR war so etwas wie die Inkarnation von Provinz, bzw. sie wurde so organisiert. Die Führungsriege des Arbeiter- und Bauernstaates war, vermutlich aufgrund von Minderwertigkeitskomplexen getrieben, misstrauisch und wollte im Griff haben und kontrollieren, wie sich das aus ihrer Sicht bessere Deutschland international positioniert. Deshalb gingen die Muftis des real existierenden Sozialismus auf Nummer Sicher und hielten ihr Volk im Modus des Provinziellen. Aber alles hat seinen Preis. Was ganz jwd - "janz weit draussen" - ist, läßt sich schwerer beobachten. Womit sie nun aber gar nicht gerechnet haben, war die Kreativität der Provinz. Sinnbild dieser Schlüsselrolle der Provinz ist das Fischerdorf Peitz, dass, wenn überhaupt, höchstens durch seine Karpfenteiche oder das nahegelegene Kraftwerk Jänschwalde ein Begriff war. Mit Ulli Blobel und Peter "Jimi" Metag waren zwei passionierte Jazzfreaks am Werk, die seit 1973 ihrem Provinzleben auf die Beine helfen wollten und dem Free Jazz eine Heimstatt boten. Anfangs gaben sich die DDR Jazzer die Klinke im, hochtrabend, Filmtheater genannten Aufführungsort in die Hand, später internationalisierte sich die Szenerie und erklomm sprichwörtlich das Weltniveau. Christof Dieckmann rief völlig zurecht den markanten Spruch in Erinnerung:" In der Schule, auf dem Bau – schaffen wir das Weltniewau". Das war natürlich maßlos übertrieben, aber zumindestens in Sachen Grenzregime und dopinggestütztem Sport hat sich die DDR von niemandem etwas vormachen lassen. Mein erstes Free Jazzkonzert, ich hatte es eingangs erwähnt, fand übrigens im Kreiskulturhaus Weimar als Rahmenprogramm der obligatorischen Buchenwaldreise statt. Hinter den beiden Trios um Alexander von Schlippenbach, Evan Parker, Paul Lovens und Baby Sommer steckte übrigens eine der ersten großen Tourneen der Peitzer Jazzwerkstatt, was dem Zehntklässler damals, beim ersten Mal natürlich noch kein Begriff war. Aber die Tatsache, dass hier grenzüberschreitend musiziert wurde, verhieß für DDR-Verhältnisse etwas Besonderes. Dieses Konzert hat meine Hörgewohnheiten komplett verändert. Mainstreamgewöhnt war die Autonomie des freien Improvisierens die Entdeckung einer neuen Welt, einer Lebenshaltung, die mich fortan begleitet hat. Free Jazz Konzerte waren für mich wie eine Art Trainingslager, über den engen Rahmen hinauszudenken, zu fühlen, zu leben.

Man muß unweigerlich an Walter Ulbrichts Motto: "Überholen ohne Einzuholen" erinnern, denn dieses Leitmotiv war nicht nur eine propagandistische Formel, die dem Klassenfeind signalisierte: Hallo! wir sind Weltniveau. Es hat sich offenbar auch in den Langzeitgedächtnissen seiner Schäfchen eingenistet und erstaunliche Fähigkeiten und Fertigkeiten hervorgebracht, mit denen auch die volkseigenen Free Jazzer dem tristen DDR-Alltag den Marsch geblasen haben.

In gewisser Weise handelt es sich ja bei der Jazzwerkstatt Peitz um einen Vorboten der Globalisierung, die, so der Soziologe Hartmut Rosa, als eine ökonomische, kulturelle, mediale und politische Veranstaltung begriffen werden kann, die "Welt in Reichweite" zu bringen. Dass die "Weltreichweitenvergrößerung" irgendwann an ihre Grenzen stoßen wird, war abzusehen. Das Outfit und die Mobilität des Publikums signalisierten der Partei- und Staatsführung: "Irgendwas stimmt hier nicht, Genossen". Die Konkurrenz verschiedener Weltniveaus wurde eben in letzter Konsequenz durch die Machtfrage geklärt. Oder um das Bild der Theorie der freien Radikale in Erinnerung zu rufen: Die "Radikalfänger" verrichteten ihren Job, um den Alterungsprozess und die Zerstörung der realsozialistischen Zellteilchen zu stoppen oder wenigstens aufzuhalten. Auf Dauer ein auswegloser Job, weil sich die freien Radikale andere Baustellen suchten. Andere Aufführungsorte in der Provinz oder den Bezirkshauptstädten wie die NaTo in Leipzig bis hin zur zentralen Infrastruktur der FDJ, quasi im Auge des Orkans, dem "Haus der Jungen Talente" in Ostberlin an jedem Montag für 3 Mark 5, oder 5 Mark 5 wenns international zuging. Aber auch in verwandten Ausdrucksformen, wenn man in der zweiten Hälfte der 80ger Jahre an Bands wie AG Geige, die Gehirne, den Demokratischen Konsum, Herbst in Peking, Expander des Fortschritts und Ornament und Verbrechen denkt, in denen oft das Publikum als "Geniale Dilletanten" selber in die Saiten griff (meine Bands hießen damals übrigens "Schlimme Limo" und "Schwerer Brüter III").

These 4: Die informelle Wirtschaft als symbolischer Tausch und Fortbildung


Die Leere der Provinz hat aber nicht nur das Spektakel an und für sich in sich aufgenommen. Um es herum ist, auch aufgrund der allgemeinen Mangelwirtschaft, ein Geflecht von ökonomischen Beziehungen vormoderner Provenienz entstanden. Ulli Blobel und Peter Metag haben z.B. ein Jahr lang 1000 Flaschen "Erlauer Stierblut" auf Vorrat gekauft, um für das Open Air Publikum versorgt zu sein. Selbsternannte Dienstleister haben Mitnahmeeffekte bei solchen Events realisiert, oft, um sich selbst zu finanzieren oder Budgets für geplante Erwerbungen zu erwirtschaften. Ich nehme mich da nicht aus. Während der Leipziger Jazztage haben wir seinerzeit sogenannte Jazzburger erfunden, gebraten und für 1,50 verscherbelt. Das Hauptmedium war nämlich: Die Westschallplatte. Zwar gab es neben Lizenzschallplatten der befreundeten Bruderländer auch eine Jazzedition beim DDR offiziellen Label Amiga. Aber die Veröffentlichungen waren rar und willkürlich, zudem war es Geduldsache und Insiderinfos geschuldet, die sogenannte Bückware überhaupt zu beschaffen. Bei besagten Events konnte man allerdings für n glatten Hunni und manchmal auch etwas mehr echte Westscheiben erwerben. Da das Budget begrenzt war, haben sich viele Käufer zu Zwischenhändlern gemausert, Geschäftsideen entwickelt und haben ihre Gewinne dann in die Wunschware investiert. Eine andere Variante waren Tauschgeschäfte mit Wessis. Westscheibe gegen Klassikschallplatte von Eterna oder gegen Notenliteratur (Unter den Linden in Berlin gab es einen relativ gut ausgestatteten Laden), die im Westen sehr teuer war. Die Schallplatten-Basare gehören zum Free Jazz dazu, sie qualifizierten das Publikum, bedienten Sehnsüchte nach der Unendlichkeit des Hörerlebnisses und sie machten Menschen reich, die an den Quellen saßen und mit den Erträgen bankerähnliche Karrieren begannen, die erst an der Wirtschafts- und Währungsunion zerbarsten und sich in Staub auflösten. Diese Formen informeller Wirtschaft spiegelten im Nachhinein auch eine andere Seite dieser Veranstaltungen als Simulakren und Täuschungen.

These 5: Musikalische Codes als Blindstelle der Aufklärung


Der Aufklärer Settembrini distanziert sich in Thomas Manns "Zauberberg" von "politisch verdächtiger Musik". Im Unterschied zur positiven gesellschaftlichen Funktion von Literatur misst er der Musik im Allgemeinen keinen Aufklärungscharakter zu. Die Entschlüsselung musikalischer Codes scheint ihm im Gegensatz zu sprachlichen Codes ein zu ambiguitives, zu unberechenbares Unterfangen. Das ist nicht sein Geschäft. Die Musik als Gegenstand der Aufklärung verweist doch historisch gesehen eher auf den "Sensualismus", der ersten Form von Aufklärungskritik, die das Rationalitätsprinzip relativiert und ergänzt. Sieht man einmal von den stalinistischen Apologeten in der Frühzeit der DDR ab, die im Formalismusstreit den unmissverständlichen sozialistischen Realismus von Abweichungen abzugrenzen suchten, so fällt doch ins Auge, dass mit fortdauernder Existenz des Arbeiter- und Bauernstaates in den Künsten vor allem auf der Basis sprachlicher und etwas eingeschränkter auch bildlicher Codes interveniert wurde. Auch das Verbot bestimmter Rockbands wie zB der Renfft-Combo begründete man mit "klassenfeindlichen Texten" und nicht mit dem musikalischen Genre z.B. der Rockmusik. Die staatlichen Aufklärer hatten mit den Tönen, allzumal den Freien Tönen so ihre liebe Müh. Woran wollten die Aufpasser die Abweichung festmachen? An Dur oder an Moll? An Dissonanzen und wenn ja, welchen Klassenstandpunkt hat eigentlich eine Dissonanz? Bert Noglik selber zögert zurecht, der freien Improvisation eine direkte politische Bedeutung zuzumessen, ist sie doch zuerst einmal eine spezifische innovative Produktionsform. Noglik weiter:"Selbstverständlich aber erschließt sich das "Politische" im und aus dem Kontext. Von ihrer Atmossphäre her, aufgrund der Mentalität der Akteure und ihrer Anhängerschaft passte diese Musik in keiner Weise in die DDR-Kulturpolitik. Wenn dennoch versucht wurde, Jazz als integralen Bestandteil zu charakterisieren, so ging es – den Funktionären gegenüber – darum, die Existenz dieser Musik zu verteidigen." Free Jazz war eine Form gelebter Individualität in einem kollektivistischen Gemeinwesen, eine Ästhetik des Nonkonformistischen, der Selbstbehauptung und der Autonomie. Auf Seiten der Akteure, wie auf Seiten des Publikums war man sehr selbstbewusst dabei, sein jeweils "richtiges Leben im falschen" zu führen. Und insofern war die frei improvisierte Musik nicht nur Kunst allein sondern immer auch eine Form von Aktion und Aktivismus. Es ging um den Prozess der Herstellung, um Kollaboration mit musikalisch Gleichgesinnten und dem Publikum. Natürlich auch um das Unangepasste, Widerständige, dass sich auch im Habitus des Publikums spiegelte. Es läßt sich an den Improvisationen der 80ger Jahre sehr gut zeigen, dass Musiker und Publikum die Spielräume immer weiter entwickeln, ausdehnen und dabei auch Grenzen durchbrechen. Ich bleibe dabei: Der Free Jazz in der DDR war indirekt immer auch eine Art musikalisch-ästhetisches Manifest der "konditionierten Distanz" zum DDR-System. Und er kam mit dem Untergang der DDR in gewisser Weise an einen Nullpunkt zurück. Die "Freien Radikale" hatten in jenem Moment ihr Werk vollbracht und den Alterungsprozeß finalisiert. Kunst passiert zwar autonom, aber immer im Kontext. Der Kontext DDR verschwand, bzw. transformierte sich und forderte von allen Beteiligten, entweder auch zu verschwinden oder sich neu zu erfinden. Das brauchte oft Jahre und war nicht selten mit Enttäuschungen und Depressionen verbunden. Auf der Suche nach den neuen Kontexten waren es vielleicht gerade die gemeinsamen Erfahrungen mit internationalen Künstlern, an die angeknüpft werden konnte. Die Kraftquelle der freien Improvisation versiegt nicht. Dafür muss man allerdings etwas tun. Aktiv sein. Produzieren. Den Kopf heben und nicht die Hände.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten