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Vortrag „Osten im Aufsturz – Wo steht die politische Bildung?“ anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Akademie Schwerin (Schwerin, 7. Juni 2018) | Presse | bpb.de

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Vortrag „Osten im Aufsturz – Wo steht die politische Bildung?“ anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Akademie Schwerin (Schwerin, 7. Juni 2018)

/ 12 Minuten zu lesen

Sehr geehrter Herr Dr. Wolf,
sehr geehrter Herr Bussiek,
sehr geehrter Herr Nolte,
sehr geehrte Frau Dr. Erben,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte Ihnen zu Beginn gerne sechs Überschriften vorlesen:

„Im Westen kaum Neues“
„Die Zukunft verlässt den Westen“
„Der Westen kommt gerade erst in der Demokratie an“
„Drei Gründe, warum es so viele Rechte in Westdeutschland gibt“
„Der Westen Deutschlands liegt zurück“
„Hat der Westen den Glauben an die Demokratie verloren?“

Kommen Ihnen diese Überschriften merkwürdig vor? Falls ja, ist das einerseits gut, andererseits schlecht. Es ist ein gutes Zeichen, weil Sie erkannt haben, dass mit diesen Überschriften, die in großen überregionalen Zeitungen erschienen sind, etwas nicht stimmt – sie sind verdreht. Ersetzen Sie Westen jeweils durch Osten und Sie wissen, wie die Titel tatsächlich lauten. Aber Ihre Irritation ist auch ein schlechtes Zeichen: zeugt sie doch davon, wie sehr sich inzwischen bestimmte Bilder und Narrative über Ost- bzw. Westdeutschland festgesetzt haben.

Am 1. Juli 1990 sprach Helmut Kohl anlässlich des Vollzugs der gesamtdeutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion davon, dass es gelingen wird die neuen Bundesländer „schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln.“ Doch aus dem versprochenen raschen Aufschwung des Ostens wurde nichts und ganz andere Narrative machten sich breit. Die „Kosten der Einheit“ wurden bald zum viel bemühten Topos der politischen Debatte – die „Rede vom Westen als ‚Zahlmeister‘ und vom an dessen ‚Tropf‘ hängenden Osten wurde zum Standardwortschatz öffentlicher Betrachtungen über die Wiedervereinigung“, wie es der Soziologe Stephan Lessenich zusammenfasst.

2014 sprach Kanzlerin Angela Merkel davon, dass Ostdeutschland 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution eine Erfolgsgeschichte sei. In der Öffentlichkeit jedoch machte sich in den letzten Jahren erneut das Bild vom Osten als Problemkind breit. Dieses Bild erhielt im vergangenen Jahr aufgrund der Bundestagswahl ziemlichen Auftrieb. Seitdem fallen vor allem die Begriffe „demokratiefern“ oder „-feindlich“, „braun“ und „rechtsextrem“, wenn es um den Osten geht. Die Bilder und Narrative sind nicht vollkommen aus der Luft gegriffen – auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung lassen sich immer noch gravierende Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland konstatieren. Davon zeugt unter anderem der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017. Er belegt, dass Ostdeutschland wirtschaftlich hinter dem Westen zurückliegt. Laut dem Bericht lag 2016 der Abstand bei der Wirtschaftskraft zwischen Ost- und Westdeutschland im Durchschnitt bei 27 Prozent, ohne Berlin sogar bei 32 Prozent. Der Osten sei geprägt durch geringere Löhne, eine schwächere Tarifbindung und einen größeren Niedriglohnsektor.

In zwei Studien der Bertelsmann-Stiftung aus diesem Jahr heißt es, dass antipluralistische Einstellungen vor allem in Ostdeutschland weiter verbreitet sind als im Westen. Und zu den Fakten gehört eben auch, dass die AfD vor allem in den fünf ostdeutschen Bundesländern besonders erfolgreich war. Diese Ergebnisse haben ihre Gründe, die in der Historie der beiden deutschen Staaten BRD und DDR und den damit verbundenen unterschiedlichen Entwicklungen und Erfahrungen zu suchen sind. Mir geht es an dieser Stelle jedoch nicht darum die Differenzen, die durch die beiden verschiedenen Staatsformen hervorgerufen wurden, zu benennen.

Diskurse konstruieren soziale Realitäten

Interessanter scheint mir, dass wir die Erzählungen, gerade die über Ostdeutschland, in den Blick bekommen. Denn sie wirken bis heute fort, erneuern sich und bestimmen das Bild, das wir uns von unserer Umgebung machen, mit. Um es mit dem Sozialwissenschaftler und Elitenforscher Raj Kollmorgen zu sagen: „Diskurse bilden soziale Realitäten nicht ab, sondern konstruieren sie in hegemonial umkämpfter Form, wodurch sie die Möglichkeiten der Veränderungen sozialer Praxis mitbestimmen.“ Während die diskursive Beschäftigung mit Ostdeutschland zwischen 2000 und 2010 eher zurückhaltend war, hat sie in den letzten Jahren wieder stark zugenommen: gerade vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 2017 haben die Zuschreibungen – wie die Ostdeutschen so sind und wie sie zu sein hätten – Oberhand genommen und es zeigen sich Phänomene, die wir eigentlich aus den Debatten um Migration und Integration kennen.

So hat die Migrationsforscherin Naika Foroutan darauf hingewiesen, dass sehr viele Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, denen von Menschen mit migrantischen Erfahrungen ähneln würden: dazu gehörten Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen. Diese Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen zeigen sich besonders deutlich, wenn wir uns anschauen, welche Vorwürfe gegen sie erhoben werden: „(…) [V]iele Westdeutsche haben Türken, Italienern und Ostdeutschen gleichsam unterstellt, sie hätten nie gelernt, richtig zu arbeiten. Oder die Reaktion, wenn jemand über Ungleichheit spricht. Jammer-Ossis heißt es bei den Ostdeutschen, Opferperspektive bei Migranten. Auch der Vorwurf, hier nicht richtig angekommen zu sein, ist ähnlich. Ebenso wie der, sich in der sozialen Hängematte auszuruhen und von Sozialleistungen oder dem Soli zu leben. Sogar der Vorwurf, nicht demokratiekompatibel zu sein.“ (Naika Foroutan)

Ostdeutsche und Migranten erleben gleichermaßen Stigmatisierungen

Ferda Ataman schrieb in ihrer Kolumne auf Spiegel Online gar: „Wäre ich Ossi, ich wäre auch wütend. Manchmal habe ich den Eindruck, selbst wir Menschen mit Migrationsblabla werden in den Medien differenzierter dargestellt als Ostdeutsche.“ Doch nicht nur die abwertenden Erzählungen und Erwartungshaltungen einer hegemonial auftretenden Mehrheitsgesellschaft können als verbindende Erfahrungswelten ostdeutscher und migrantischer Menschen ausgemacht werden. Die Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen des „Gastlandes“, das Gefühl fremdbestimmt zu sein und als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden, haben wohl beide Gruppen gleichermaßen durchgemacht und tun es auch heute noch – rund 30 Jahre nach der Wiedervereinigung und 57 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei.

Vor allem wenn es um Fragen von Repräsentanz und Macht geht, haben wir es mit hegemonialen Strukturen zu tun, die eine wirkliche Partizipation aller verhindern. Lassen Sie mich dies anhand einiger Zahlen veranschaulichen:

Nur etwa acht Prozent der Parlamentarierinnen und Parlamentarier im aktuellen Bundestag kommen aus Einwandererfamilien (rund 58 Abgeordnete). Obschon der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland bei rund 20 Prozent liegt, haben mehr als ein Drittel (36 Prozent) der arbeitslos gemeldeten Menschen und nur 10 Prozent der Personen in Führungspositionen einen Migrationshintergrund.

Eines der zentralen Ergebnisse der Externer Link: Studie „Wer beherrscht den Osten“ der Universität Leipzig, die 2016 vom MDR in Auftrag gegeben wurde, lautet: „25 Jahre und damit eine Generation nach der Wiedervereinigung, sind die Ostdeutschen in gesellschaftlichen Führungspositionen noch immer nicht adäquat repräsentiert. […] Von den insgesamt betrachteten 1.099 Eliteangehörigen konnte für 249 Personen eine ostdeutsche Herkunft ermittelt werden – ein Anteil von knapp 23 Prozent.“

Angesichts der zahlenmäßigen „Unterlegenheit“ der ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Bevölkerung könnte man sagen, dass es „evident und demokratisch“ ist, dass die Ostdeutschen nicht einen gleich großen diskursiven Rahmen für sich beanspruchen können. Raj Kollmorgen weist jedoch darauf hin, dass „wirklich demokratische Diskurse der Einheit eine angemessene Vertretung der Ostdeutschen in den hegemonialen Diskurseliten [brauchen], mithin die Überwindung ihrer bis heute anhaltenden Marginalisierung in den Eliterekrutierungen jenseits der legislativen Sphäre.“

Die skizzierten Befunde sind für die Demokratie durchaus problematisch, belegen sie doch, dass eine gleichberechtigte Teilhabe aller noch nicht erreicht ist und wir es weiterhin mit Divergenzen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft zu tun haben. Nicht nur Gefühle der Machtlosigkeit, Handlungsunfähigkeit und Zurücksetzung, die Artikel 20 des Grundgesetztes „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ entgegenstehen, sind die Folge. Auch nähren diese Ergebnisse weiter das Narrativ von „Wir und die anderen“, von „Deutschen und Migranten“, von „Wessis und Ossis“. Es geht nicht darum, und darf es auch gar nicht, die Unterschiede kleinzureden oder gar zu verkennen – sie sind faktisch da.

Die Frage ist jedoch: Welche Schlüsse und Erzählungen ziehen wir daraus?

Derzeit scheinen Viele Identitätspolitiken für den richtigen Weg zu halten. Doch letztlich können identitätspolitische Kämpfe – vor allem wie wir sie derzeit erleben – der Spaltung der Gesellschaft nicht entgegenwirken. Im Gegenteil, sie scheinen weiteren Stigmatisierungen Vorschub zu leisten. Oftmals geht es nicht mehr um die politischen Standpunkte und Strategien, sondern um die Personen, die sie äußern: Soll nur ein ostdeutscher Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung über politische Bildung und ostdeutsche Teilhabe sprechen dürfen? „Darf“ ein ostdeutscher Präsident kein Panel zum Thema Afrofuturismus moderieren? Derartige Identitätspolitiken fordern die Machtstrukturen nicht heraus, weil sie Verhältnisse entpolitisieren und Emanzipation auf Betroffenheitspädagogik reduziert wird.

Sichtbare, personenbezogene Repräsentativität muss erweitert gedacht werden: in Form von Perspektiven, die Eingang finden in die Routinen, Prozesse, Praktiken und Positionierungen von Institutionen. Damit alle Gruppen den gleichen Zugang entsprechend Artikel 3 des Grundgesetzes bekommen, braucht es Aushandlungsprozesse auf dem Weg dahin, die zwangsläufig konflikthaft sind.

Die Wiedervereinigung hat uns Pluralität gelehrt

Und es braucht eine Transformation der beschriebenen Narrative und Diskurse. So hat die Wiedervereinigung nicht nur gekostet, sondern auch bereichert. Sie hat uns Pluralität gelehrt. Durch die Wiedervereinigung haben wir gelernt uns in neuen Kontexten zu orientieren, andere Lebensweisen und Erfahrungswelten kennenzulernen und über selbst oder fremd gesetzte Grenzen hinauszudenken.

Was das bedeutet, hat die Publizistin Isolde Charim folgendermaßen formuliert: „Die Begegnung, die Verbindung mit Nicht-Ähnlichen bewirkt etwas – (…) sie macht unmittelbar erfahrbar, dass die Besonderheit des Einzelnen sich nicht absolut setzen kann, dass sie immer neben anderen Besonderheiten bestehen muss.“ Und weiter führt sie aus: „Die pluralisierte Gesellschaft birgt kein Versprechen einer gemeinsamen Gesellschaft mehr. Das Minus ist ihr einziges ‚Versprechen‘. Gesellschaft bedeutet also die Verbindung der Unterschiede qua einem Minus. Das ist die Formel, die die Pluralisierung benennt.“ Charim hat ihre Ausführungen vor dem Hintergrund von Einwanderung, Migration und Integration getroffen, der Untertitel ihres Buchs lautet: „Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert.“

Ich glaube allerdings, dass wir es eben gar nicht mit einer „neuen“ Pluralisierung zu tun haben. Jedenfalls nicht neu in dem Sinne, dass wir erst jetzt lernen (müssen), dass jede Identität neben anderen Identitäten steht. Das erfahren wir längst, gerade auch seit 1990. Nur scheinen wir uns dessen nie richtig gewahr worden zu sein. Die Rede vom „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ hat einen diskursiven Rahmen gesetzt, der die Einheit – wir sind alle gleich – zu einer Art Staatsräson hat werden lassen. Dieses Narrativ, dem eine Überbetonung einer inneren Einheit inhärent ist, hat dem umgekehrten Narrativ den Weg geebnet: der Überbetonung der Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Die fortbestehenden und neu entfachten ost- und westdeutschen Teilöffentlichkeiten verhindern ein wechselseitiges Anerkennen, Lernen und Gestalten einer gemeinsamen Zukunft. Die permanente Fokussierung auf Unterschiede hat inzwischen Versteifungen und blinde Flecken zur Folge, sodass andere, relevante Aspekte, ganz aus dem Blick zu geraten scheinen. Die Konzentration auf die Tatsache, dass der Stimmanteil für die AfD im Osten höher als im Westen war, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Westen die AfD gewählt wurde.

Eine innere Einheit hat es nie gegeben

Diese Tendenzen sind umso erstaunlicher, als es eine innere Einheit, die Einigkeit und Homogenität bedeutete, eben nie gegeben hat. Die Vorstellung einer homogenen Nation ist schon immer ein Trugschluss gewesen. Die Autorin Paula Fürstenberg beschreibt es so: „Wir müssen uns von der inneren deutschen Einheit als gesellschaftlicher Zielsetzung verabschieden und der Vokabel ihren Platz in den Geschichtsbüchern zuweisen. (…) Was ich meine, ist die Ersetzung der Einheitsidee durch ein multiperspektivisches Selbstverständnis, das seine Kraft aus der Pluralisierung der Perspektiven auf Geschichte und Gesellschaft bezieht.“ Es geht nicht darum, ein gemeinsames „Wir“ in Abrede zu stellen, sondern darum, es anders zu denken.

Hier sehe ich eine der wesentlichen Aufgaben der politischen Bildungslandschaft in Ostdeutschland: sie sollte sich trauen, neue Themen und Akzentuierungen zu setzen und die bereits gegangenen diskursiven Wege zu verlassen.

Schließlich ist es an der politischer Bildung, öffentliche Resonanzräume zu schaffen und den gesellschaftlichen Dialog über diese Befunde zu organisieren. Dabei gilt es gesellschaftliche Aushandlungsprozesse nicht nur in den Blick zu nehmen, sondern vor allem zur kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit hegemonialen Meinungen anzuregen. Gerade jetzt scheint die Zeit dafür günstig zu sein – die Wissensnachfrage über die DDR, den Vereinigungsprozess und „den Osten“ scheint ungebrochen, ja geradezu neu entfacht. Für die bpb ist das beispielsweise ablesbar an den Zugriffszahlen auf Themendossiers unserer Internetredaktion: Das Dossier Externer Link: „Deutsche Einheit – Deutsche Teilung“ hat dort aktuell fast doppelt so viele Zugriffe wie das Dossier Externer Link: „Erster Weltkrieg“ und annähernd so viele wie die Dossiers zu Externer Link: „1968“ oder dem Externer Link: „Zweiten Weltkrieg“. Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums Interner Link: „Friedliche Revolution“ im kommenden Jahr und des 30-jährigen Jubiläums „Deutsche Einheit“ 2020 wird die bpb und werden sicherlich auch viele hier im Raum diese Themen erneut schwerpunktmäßig behandeln – so wie wir alle es in der Vergangenheit auch schon getan haben. Und sicherlich werden diese Anlässe nochmal die Aufmerksamkeit und Fokussierung verstärken.

Es bieten sich uns allen also wunderbare Chancen, um diese „Spotlights“ zu nutzen und neue Akzente zu setzen. Gerade auch im Zusammentragen der historischen Puzzleteile verbirgt sich viel Nachdenkstoff darüber, wie schnell sich aufgrund veränderter Lebensumstände die Psychologie vieler Menschen verändern kann, verändert hat und inwiefern diese Entwicklungen noch heute in die Gegenwart hineinreichen und sie teilweise noch mitbestimmen.

Ein Blick in die Vergangenheit ist dabei immer auch ein Blick in die Gegenwart und Zukunft. Die politische Bildung sollte sich selbst und ihren Adressatinnen und Adressanten neu in Erinnerung rufen, dass gesellschaftliche Verhältnisse gestaltbar sind. Sie sollte sich nicht von Krisendiskursen treiben lassen, sondern auf Zukunft gerichtete Handlungsspielräume in den Blick nehmen. Dies wäre auch ein wichtiger Schritt dahin, dass sich Ostdeutschland nicht länger in die Ecke der Jammer-Ossis oder Demokratiefernen stellt und stellen lässt. Stattdessen sollten sich die Menschen in Ostdeutschland selbstbewusst nach vorne bewegen und neue Narrative setzen. Die emanzipatorische Idee der politischen Bildung, Beteiligung und Mitbestimmung zu fördern, muss noch stärker in den Vordergrund treten.

Politische Bildung muss Orte schaffen, an denen die Menschen wirkungsmächtig sein können

Die Menschen sollten wieder das Gefühl vermittelt bekommen, dass Demokratie von ihrem Engagement lebt und sie einen aktiven Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Dies gilt im besonderen Maße für Menschen in nicht-urbanen Räumen, die vom Wegfall institutioneller Räume betroffen sind. Gerade sie sind auf Orte angewiesen, an denen sie wirkungsmächtig sein können. Die politische Bildung kann genau diese Orte schaffen. Wir sollten die Adressatinnen und Adressaten unserer Arbeit nicht länger nur als Zielgruppen denken – sie sind unsere Partnerinnen und Partner. Der Graben zwischen denjenigen, die politische Bildung bisher angeboten haben und denjenigen, die davon Gebrauch gemacht haben, muss überbrückt werden: durch prozessuale Formen, die sehr stark auf Beteiligung setzen, sehr stark auf gemeinsame Gestaltung von Prozessen, auf gemeinsames Erarbeiten von Ergebnissen.

Das von der Akademie Schwerin verantwortete Projekt Externer Link: „Die AUFmacher“ ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Mit der regelmäßig erscheinenden Bürgerinnen- und Bürgerzeitung trägt die Akademie zur Entwicklung einer aktiven, couragierten Bürgergesellschaft bei. Durch die Zeitung wird den Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme und ein Forum des Dialogs gegeben. Die Menschen können vor Ort etwas verändern, sich engagieren, an politischen und gesellschaftlichen Prozessen partizipieren. Dies ist auch ein Weg, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass politische Bildung „von oben“ kommt und „für oben“ gemacht wird. Und sie darf es natürlich erst recht nicht sein. Den Allianzpartnern der politischen Bildung kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zu. Wir müssen uns verstärkt neuen Allianzpartnern zuwenden, um auf einem breiten gesellschaftlichen Feld und vor allem auf Augenhöhe agieren zu können.

Die bpb setzt seit einigen Jahren verstärkt auf die Zusammenarbeit mit „Brückenmenschen“, die bei den jeweiligen Zielgruppen ein gewisses Ansehen genießen, und über die wir politische Bildung transportieren können. Unsere Zusammenarbeit mit verschiedenen Youtuberinnen und Youtubern ist hierfür ein Beispiel. Aber auch popkulturelle Zugänge und Allianzpartner aus Musik und Kultur sollten wir als Bildungspartner gewinnen: ein Beispiel.

Auszug aus „Grauer Beton“:

„Ich denk' heut noch oft zurück an meine Straße
An die Alten und die Kids aus meiner Straße
Aus der Platte, die aus meiner Etage
Man hat uns vergessen dort, Anfang der Neunziger Jahre
Desolate Lage, jeden Tag mit der Bagage
Frag nicht, was bei mir ging, hing jeden Tag mit der Bagage
Neue bunte Scheine sprechen eine eigene Sprache
Neue bunte Welt erstrahlt in der Leuchtreklame“

Die Zeilen stammen von dem deutschen Hip Hop Künstler Trettmann, der 1973 in Chemnitz geboren wurde, und der im Song „Grauer Beton“ über seine Jugend im Wohngebiet Fritz Heckert, dem zweitgrößten Neubaugebiet der DDR, rappt. Es ist eine eindrückliche Hassliebeserklärung an die verlorene Heimat.

Die Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern ermöglicht nicht nur überhaupt erst ein Zugang zu Zielgruppen, an die die politische Bildung so nicht herankommen würde. Sie schaffen durch die Identifikation der Zielgruppen mit ihnen als Person auf einer emotionalen Ebene auch einen direkteren Zugang zu den Inhalten. Diese Identifikation funktioniert besonders gut, da die Künstlerinnen und Künstler als ein authentischer Teil der eigenen Lebenswirklichkeit der Zielgruppen gesehen werden und nicht als etwas, was von außerhalb/oben an sie herangetragen wird.

Dabei beginnen wir ja nicht von Null, ganz im Gegenteil. Die politische Bildung in Deutschland verfügt über ein riesiges Netzwerk bestehend aus Bundeszentrale, den verschiedenen Landeszentralen und Weiterbildungseinrichtungen wie der Akademie Schwerin. Allein ein Blick auf die Angebote der Akademie Schwerin oder der Landeszentralen zeigt, wie vielfältig und breit wir alle aufgestellt sind. Die bpb an sich verzeichnet allein im ostdeutschen Raum rund 50 anerkannte Bildungsträger, das Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ unterstützt eine Vielzahl von Projekten. Wenn ich nun also beginnen würde weiter die bereits durch uns alle bestehenden Strukturen und Ansätze aufzuzählen, dann würde es ein sehr langer Abend werden.

Worauf ich aber hinaus will: der Osten befindet sich weder im Absturz, noch muss er zum Aufsturz gebracht werden, er ist längst dabei. Was jetzt nur noch fehlt, ist das nötige Selbstbewusstsein und der Mut sich auf neue weitere Perspektiven und Erzählungen einzulassen! Kopf hoch und nicht die Hände…

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten