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Grußwort bei der Konferenz "Land in Sicht! – Demokratiegestaltung innovativ qualifizieren" | Presse | bpb.de

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Grußwort bei der Konferenz "Land in Sicht! – Demokratiegestaltung innovativ qualifizieren"

/ 12 Minuten zu lesen

Anlässlich der Konferenz "Land in Sicht! – Demokratiegestaltung innovativ qualifizieren" am 14.11.2019 hat Thomas Krüger ein Grußwort zum Thema "Demokratieförderung – Was die Bundeszentrale für politische Bildung auf den Weg bringt“ gehalten

Sehr geehrter Herr Professor Wolfmeier , sehr geehrter Herr Professor Möller, sehr geehrte Studierende, sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe die Ehre, Sie hier und heute im Namen der Förderinstitutionen des Projekts „Land in Sicht!“ – der Robert-Bosch-Stiftung, des Bundesfamilienministeriums, der baden-württembergischen Landeszentrale sowie der Bundeszentrale für politische Bildung –begrüßen zu dürfen. So bleiben Ihnen – und mir – drei weitere Grußworte erspart: Herzlich Willkommen daher auch von unserer Seite zum Fachtag „Land in Sicht! – Demokratiegestaltung innovativ qualifizieren!“

Diesen ersten, mir laut Programm zugedachten Part halte ich hiermit für erledigt.

Ich möchte gleich nahtlos fortfahren. Denn weiterhin wurde mir aufgetragen, zum folgenden Thema ein paar Dinge zu sagen:

„Demokratieförderung – Was die Bundeszentrale für politische Bildung auf den Weg bringt“

Ohne allzu eitel zu klingen: Würde ich diese Überschrift ernst nehmen, würde ich mit meiner Redezeit wahrscheinlich den legendären Abgeordneten Strom Thurmond übertreffen, der 1957 geschlagene 24 Stunden und 18 Minuten im amerikanischen Senat sprach. Denn „Demokratieförderung“ ist – zumindest nach unserem Selbstverständnis – so ziemlich alles, was die Bundeszentrale für politische Bildung macht. Und das ist nicht wenig. Zumindest inhaltlich würden sich jedoch wohl ein paar Unterschiede zu Strom Thurmond zeigen, der 1957 versuchte, den Civil Rights Act mit diesem „Filibuster“ zu verhindern. Der Demokratieförderung stand er damit eher im Weg. Allerdings würde meine Rede wohl ähnlich ermüdend werden.

Daher bin ich so frei und möchte Ihnen lieber elf Thesen als Denkanstöße zu politischer Bildung im ländlichen Raum zurufen. Ganz nach dem Tagungsmotto: Land in Sicht! Denn es ist nicht zu verkennen: Politische Bildung wird oftmals im urbanen Raum konzipiert. Dabei wird das Land mitunter übersehen. Das ist fatal, denn die erste These lautet:

1. Der ländliche Raum bietet alle Strukturen, die politische Bildung braucht! Während es in der Stadt aufgrund des vielfältigen Angebots in Sachen Kultur, Freizeit und Wissenschaft immer schwieriger wird, die Zielgruppen politischer Bildung anzusprechen, bietet der ländliche Raum ideale Bedingungen. Das Land ist der Ort institutionalisierter, natürlicher Treffpunkte: Sei es der vielbeschworene Stammtisch, seien es die zahlreichen Vereine, sei es die Dorfstraße. Hier kommen Menschen regelmäßig und zwanglos zusammen. Hier muss politische Bildung anknüpfen! Dass die Bevölkerung auf dem Land sich für politische Bildung nicht interessieren würde, ist ein hartnäckiger Irrtum, für den es keine tatsächliche Grundlage gibt.

2. Mehr Experimente! Wir brauchen ungewöhnliche Arrangements Das Fußfassen im ländlichen Raum ist für Fachkräfte mit Sicherheit nicht einfach. Wo und wie ansetzen, wenn ein Bildungsträger oder ein Träger sozialer Arbeit keine lokale ‚Vor-Ort-Filiale’ hat? Das Projekt „Land in Sicht“ hat hier „Schritte der Angebotsanbahnung“ entwickelt, die Fachkräfte dabei unterstützen sollen, Zugänge zu lokalen Akteuren zu schaffen. Dazu werden Professor Möller und sein Team später noch ausführlicher etwas sagen. Ich möchte aber schon einen weiteren möglichen ‚Zugangsweg’ konkretisieren, der bereits in der ersten These angesprochen wurde: er besteht darin, Fachangebote über die vor Ort vorhandene zivilgesellschaftliche Infrastruktur anzubinden. Kleine Ortschaften im ländlichen Raum haben in der Regel eine Feuerwehr und einen Sportverein; vielleicht auch ein Gruppe Ortschronisten oder einen Heimatverein. Und hier haben wir die Erfahrung gemacht, dass es gut funktionieren kann, wenn Qualifizierungs- und Bildungsangebote über die eigenen Strukturen implementiert werden; – also über Feuerwehrverbände, Sportverbände, Verbände und Vereine der Heimatpflege, des Naturschutzes oder der Wohlfahrtspflege, die einen Zugang zu ihren Untergliederungen haben. Es kann gelingen, auf diesem Wege eine Bildungs- und Seminarkultur im Erwachsenenbereich zu etablieren, die es zuvor schlicht nicht gab. Es ist nach unserer Erfahrung im Bundesprogramm Zusammenhalt durch Teilhabe lohnenswert, zumindest für bestimmte Angebote und Maßnahmenkomplexe, die wir im ländlichen Raum etablieren wollen, geeignete Partner zu suchen, die eine Nähe zu unseren finalen Zielgruppen haben und über – wie man so schön sagt – ‚Stallgeruch‘ verfügen. Wir brauchen Partner, an die wir bisher nicht gedacht haben? Und schließlich: Maßnahmen sollten aktivierend angelegt sein und damit zum Handeln animieren. Aber die Sache mit dem ‚Handeln‘ – mit dem tatsächlichen Tun! – ist ja eine ganz eigene und auch eine recht voraussetzungsvoll… oder anders gesagt: der Weg vom Wissen zum Handeln ist ein langer Weg! Diese Überlegung führt mich zu folgender These:

3. Individuelle Bildungserlebnisse reichen nicht, wir müssen weiter denken! Mit gut konzipierten und erprobten Bildungs- und Qualifizierungsformaten können wir bei unseren Adressaten Wissen mehren, Neugier wecken und ihnen auch Handwerkszeug – Kompetenzen – vermitteln. Und das ist wichtig! Genauso wichtig ist aber auch, sich klarzumachen, dass die Arbeit für uns erst jetzt richtig losgeht. Jetzt, wenn unsere Zielgruppen die Seminarbank verlassen haben. Ich möchte hier dafür sensibilisieren, dass die tatsächliche Anwendung von erworbenem Wissen und erlernten Kompetenzen davon mitbestimmt wird, wie das vertraute soziales Umfeld auf dieses Wissen reagiert – sei es im Job, sei es im Privatleben. Mit einer 1-zu-1-Übertragung des Gelernten hin zum Handeln kann nur selten gerechnet werden. Einzupreisen ist an dieser Stelle ganz einfach, dass es stets Reaktionen des – wie die Soziologen sagen würden - „sozialen Kontextes“ gibt; und eben diese Reaktionen können einen Menschen dazu veranlassen abzuwägen, ob er nun im Sinne des neu Erlernten handelt oder ob er es nicht tut, weil damit zu hohe ‚soziale Kosten‘ – Argwohn? Soziale Ächtung? Soziale Isolation? – verbunden sind. Und an genau dieser Schnittstelle, an der sich so viel entscheidet, sollten wir als Bildungsakteure und Akteure sozialer Arbeit „nachsetzen“ – würde man vielleicht im Fußballsport sagen. Das heißt, wir sollten unsere Zielgruppen auch nach der Abschluss von Bildungs- und Qualifikationsformaten weiter begleiten, beraten, auf jeden Fall nicht allein lassen und sensibel dafür sein, welche Unterstützungsleistungen sie noch benötigen, um tatsächlich ins Handeln zu kommen: hinsichtlich „Motivation“ aber auch hinsichtlich der Lösung konkreter Probleme oder des Abbaus von Hemmnissen. In der Projektförderung haben wir mit solchen Ansätzen gute Erfahrungen .

4. Das Dorf ist kein Zuckerschlecken! Unter Städtern wird das Dorfleben allzu gern verklärt, ja, fast schon romantisch überhöht. Doch jenseits von Naturidylle, Gemeinschaft, Bauernhof und Sternenhimmel heißt Landleben vor allem: Verantwortung übernehmen. Damit das Leben auf dem Land nämlich annähernd so idyllisch bleibt, wie die Städter es sich vorstellen, ist Engagement vor Ort unerlässlich. Wer sich nicht in Vereinen engagiert, nicht für ein gutes Miteinander einsetzt, wird auf mittlere Sicht nicht vom Landleben profitieren. Dieser mittelbare Zwang zum Engagement mag auf Städter befremdlich wirken, bringt aber einige Vorteile mit sich. Lokales Engagement ist für die politische Bildung nicht nur eine Zielvorstellung, sondern auch eine ideale Bedingung: Wo Engagement vorherrscht, dort ist den Beteiligten an gedeihlichem Miteinander gelegen. Und dazu kann politische Bildung einen Beitrag leisten.

5. Land ist nicht gleich Land Wenn wir uns über den ländlichen Raum unterhalten, ist das eine Fiktion. Ebenso wenig wie es einen einheitlichen urbanen Raum gibt, gibt es nicht den einen ländlichen Raum. Das Land ist widersprüchlich. Einerseits haben wir ländliche Räume als pulsierende Wirtschaftsfaktoren – gerade hier in Baden-Württemberg dürfte dies als bekannt vorausgesetzt werden. Andererseits bedeutet Land vielerorts auch: Entleerung, Vergreisung, Arbeitslosigkeit. Dann gibt es noch ganz viel dazwischen. Das bedeutet für die politische Bildung: Mit einheitlichen Rezepten nach dem One-Size-Fits-All-Prinzip werden wir auf dem Land keinen Blumentopf gewinnen. Wir brauchen maßgeschneiderte Angebote, die sich mit den Begebenheiten und Bedarfen vor Ort intensiv auseinandersetzen.

6. Bevor wir überlegen, was wir machen, müssen wir uns überlegen, was wir wollen. Warum engagieren wir uns in Projekten, die auf Demokratiegefährdungen reagieren, den Umgang mit Extremismus und Populismus fokussieren oder ganz einfach ‚Demokratielust‘ wecken wollen? Wenn die Antwort lautet, dass man einen unbefriedigenden gegenwärtigen Zustand verbessern und einen erwünschten zukünftigen Zustand erreichen will, dann müssen wir uns natürlich anschauen, was wir bewirken wollen. Das mag vielleicht banal klingen, wird in der konkreten Projektpraxis allerdings zu oft vernachlässigt. Wenn wir uns nur an die großen Fragen und Missstände wagen, dann besteht die Gefahr, dass wir die erreichbaren Ziele aus dem Blick verlieren. Ich brauche zunächst bestimmte Ziele und wünschenswerte Zustände, die ich durch mein Tun herbeiführen möchte; und wenn ich die habe, suche ich nach passenden Maßnahmen, um da hin zu kommen. Diese Wirkungsperspektive sollte am Anfang jedes Projekts stehen. Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt die Tendenz, nur noch von Wirkung zu sprechen und alles, was keine empirisch überprüfbaren Wirkungen zeigt, als unprofessionell abzustempeln. Davor sollten wir uns hüten. Über Wirkung nachzudenken, heißt nicht, dass diese Wirkung immer messbar sein muss. Gerade Bildungsprozesse verlaufen so vielschichtig und sind so vielen äußeren Einflüssen ausgesetzt, dass die Verknüpfung einer bestimmten Wirkung mit einer bestimmten Maßnahme nahezu unmöglich ist. Gerade bei der Prävention demokratiefeindlicher Einstellungen und Verhaltensweisen ist die erwünschte Wirkung ja oft das Nicht-Eintreten einer als negativ beschriebenen Entwicklung. Wer könnte dies seriös auf eine politische Bildungsmaßnahme zurückführen? Wichtig ist eine fachlich begründete Wirkungserwartung, nicht der falsche Glaube an die Möglichkeit einer eindeutigen Wirksamkeitsüberprüfung einzelner Maßnahmen.

7. Das Land braucht aufsuchende politische Bildung Es reicht nicht mehr, beispielsweise Seminare sowie Print- und Online-Produkte bereit zu halten. Die Zielgruppen politischer Bildungsangebote kommen nicht von allein. Sie müssen einen persönlichen Nutzen erkennen und vor allem müssen sie auf die Angebote politischer Bildung aufmerksam gemacht werden. So wie es seit jeher aufsuchende Soziale Arbeit gibt, müssen wir auch in der politischen Bildung umdenken und mit unseren Produkten zum „Kunden“ gehen. Das heißt nicht nur, mehr Werbung für politische Bildungsangebote zu machen, sondern vor allem, Menschen an Orten und zu Gelegenheiten mit politischer Bildung zu konfrontieren, wo sie nicht unbedingt damit rechnen. Warum nicht zum Beispiel ein Stand beim Dorffest, der einlädt zum Diskutieren über lokal und überregional bewegende Themen? Aufsuchende politische Bildung heißt aber auch, neue Partner zu suchen. Die eben erwähnte Soziale Arbeit spielt da gewiss eine wichtige Rolle. Erstens ist politische Bildung ohnehin gesetzlicher Auftrag der Jugendhilfe und zweitens hat die Soziale Arbeit Zugänge zu Zielgruppen, die die politische Bildung nicht ohne weiteres erreicht. Nicht, dass die Zielgruppen der Sozialen Arbeit besonders bedürftig seien. Allerdings hat jeder und jede das Recht auf politische Bildung und Rechte kann man nur wahrnehmen, wenn man sie kennt. Herr Professor Möller ist ein wackerer Streiter für die Verknüpfung politischer Bildung und Sozialer Arbeit. Leider hat dieses Thema jedoch nicht an allen Hochschulen für Soziale Arbeit denselben Stellenwert wie hier in Esslingen. Allerdings liegt die Verantwortung in erster Linie bei der politischen Bildung, Schritte auf die Soziale Arbeit zuzugehen. Wir sehen uns da in der Pflicht.

8. Infrastruktur besteht nicht nur aus Straßen, Schienen und Brücken Wir brauchen einen erweiterten Begriff der Infrastrukturförderung. Alle sagen, die Landbewohnerinnen und -bewohner müssen besser an die Ballungsräume angeschlossen werden: Wir brauchen bessere Straßen, mehr Schienen, Expressbusse, höhere Taktung. Stimmt alles. Aber Infrastruktur soll nicht nur die Körper bewegen, sondern auch die Köpfe. Das heißt konkret: Wenn wir Stadt und Land und alles dazwischen auf einem Level halten möchten, dann müssen wir nicht nur in nachhaltigen Nahverkehr investieren, sondern genauso in Kultur, Begegnung und Bildung. Das Dorf wird nicht nur durch schnelle Wege in die nächste Stadt attraktiv, sondern auch durch eigenständige Angebote vor Ort. Dass diese nicht die Quantität des Angebots im urbanen Raum erreichen können, ist klar. Es gibt aber keine guten Gründe dafür, dass die Qualität niedriger sein sollte.

9. Digital ohne analog reicht nicht „Digital ist besser“ hieß 1995 das erste Album der mittlerweile recht bekannten Band Tocotronic. Abgesehen davon, dass die Parole schon damals nicht ganz ernst gemeint war, stimmt sie auch für den Bereich der politischen Bildung nicht – zumindest nicht immer. Selbstverständlich eröffnen digitale, multimediale Angebote der politischen Bildung insbesondere für die Landbevölkerung neue, wichtige und gute Möglichkeiten der Teilhabe. Physische Präsenz ist nicht mehr unerlässlich. Das wissen wir als Bundeszentrale für politische Bildung und haben massiv in digitale Angebote investiert, sind in Sozialen Medien und auf Youtube präsent, streamen regelmäßig analoge Formate in den digitalen Raum. Wer weit weg von den Hotspots wohnt, kann so dennoch in den Genuss hochwertiger politischer Bildung kommen – sofern denn die eine brauchbare Internetverbindung zur Verfügung steht, was leider noch oft genug nicht der Fall ist. Aber digital allein reicht nicht, um die ländlichen Räume einzubinden. Politische Bildung lebt auch vom Zusammenkommen, vom direkten Austausch. Den müssen wir ermöglich. Gerade auf dem Land.

10. „Heimat“ ist eine Zukunftsaufgabe Heimat hat Konjunktur! Insbesondere was ländliche Vorstellungen von Heimat angeht. Um die Gründe für den Heimat-Hype der Gegenwart zu erkunden, fehlt an dieser Stelle der gebührende Platz. Vielleicht nur so viel: Ist es ein Indiz real existierender Heimatlosigkeit, wenn heute so viel über Heimat gesagt und gesprochen wird? Suchen wir mit dem Heimatbegriff einen „Sehnsuchtsort“ (Hartmut Rosa ) und damit einen Zustand, der ‚schön‘ ist – und der ein wohliges Gegenbild zur „schlechten Gegenwart“, zu Entfremdung, Unübersichtlichkeit, Hektik, Druck, zur anstrengenden Moderne bietet? Wie auch immer. Ich möchte hier auf folgenden Aspekt zu sprechen kommen: Schauplatz vehementer Heimat-Reden sind heute vor allem rechtspopulistische und rechtsextremistische Bewegungen: „Unsere Heimat bleibt deutsch“, „Heimat – Freiheit – Tradition“, „Unsere Heimat, unsere Regeln“ (um nur einige Titel zu nennen). Die Botschaft ist klar: Grenzen dicht, die anderen gehören nicht dazu; Abwehr und Abwertung des Anderen sind gewissermaßen Programm. Dabei richten sich dieser Hass und die Ablehnung gerade auf diejenigen, die „Heimat“ durch Flucht und Vertreibung verloren haben. Sie erleben nun eine doppelte Katastrophe: die Erfahrung der Vertreibung selbst, aber auch die Erfahrung, in einer vermeintlich neuen Heimat abgelehnt zu werden. So bleibt ihnen diese neue Heimat fremd und unverstanden. Dringlich stellt sich also die Herausforderung, den ‚Heimatlosen unserer Zeit‘ Möglichkeiten der Beheimatung zu geben – nicht nur im Sinne eines Daches über dem Kopf, sondern v. a. im Sinne einer Ermöglichung von Erfahrungen der Anerkennung und Geborgenheit; und dazu kann politische Bildung einen Beitrag leisten. „Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben“, formulierte Jean Amery vor dem Hintergrund seiner Vertreibungserfahrungen durch die Nationalsozialisten. Die Erfahrung von Heimatlosigkeit teilen die Flüchtlinge unserer Tage mit den deutschen Heimatvertriebenen der Nachkriegszeit. Wir müssen den Heimatbegriff konstruktiv nutzbar machen, ihn inklusiv handhaben und ihn nicht exklusiv denken. Heimat ist übrigens nichts, was sich nur auf dem Land bietet. Auch Stadt kann Heimat sein. Insofern komme ich hier ein bisschen vom Thema ab. Die Beheimatung von Menschen in einer Welt, die sie als sicher, gerecht und lebenswert erfahren können, zählt zu den großen Herausforderungen von Politik und Gesellschaft. Und an dieser Stelle ist es gut, sich an die Gründungsära der Heimatbewegung in Deutschland (um 1900) zu erinnern, in der es hieß, insbesondere an der Gestaltung des Künftigen mitzuwirken. Für unserer Gegenwart bedeutet dies, dass Heimat – frei nach Hermann Bausinger – aktiv angeeignet und gemeinsam mit anderen gestaltet wird. Heimat ist also unsere Aufgabe!

10 Thesen wären schöner gewesen. Aber dieser letzte Punkt ist mir einfach wichtig, darum noch die elfte These:

11. Kein Aktionismus – Tatsächlichen Bedarf ermitteln Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner der ländlichen Regionen Deutschlands eine Sache nicht nötig haben, dann sind dies gut gemeinte Ideen von Städterinnen und Städtern, die genau zu wissen meinen, wie man sie beglückt – ohne die jeweiligen Verhältnisse näher zu kennen. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung lernt immer hinzu. Seit dem vergangenen Jahr läuft das Projekt „Miteinander reden“, bei dem – wie der Titel schon sagt – Menschen im ländlichen Raum ins Gespräch gebracht werden sollen. Wie das vor Ort konkret geschieht, gibt allerdings nicht die Bundeszentrale für politische Bildung vor. Stattdessen haben wir einen Ideenwettbewerb ausgeschrieben, an dem lokale Akteure teilgenommen haben, die sich mit den jeweiligen Gegebenheiten auskennen und daher passgenaue Formate entwickeln konnten. Die Projekte reichen vom „Dörferstammtisch“ der benachbarten Dörfer Lunow, Stolzenhagen, Lüdersdorf und Parstein in Brandenburg bis zum Live-Hörspiel „Biberbrunnen – worüber wir nicht gesprochen haben“, mit dem sich die niedersächsische Gemeinde Beverstedt mit einem verdrängten Kapitel der Dorfgeschichte auseinandersetzt: dem so genannten Biberbrunnen als Neo-Nazi-Treffpunkt. So unterschiedlich die ländlichen Räume sind, so unterschiedlich sind auch die Bedarfe, worüber gesprochen werden muss und wie Austausch stattfinden kann. Eine kleine Beobachtung am Rande: Für das Engagement im Rahmen von „Miteinander reden“ war die Höhe der Fördersumme gar nicht so entscheidend. Tatsächlich fördern wir die Projekte mit vergleichsweise eher kleinen Summen im mittleren vierstelligen Bereich. Was den Projektinitiatoren viel wichtiger war, ist die Wertschätzung durch die Bereitstellung erfahrener Prozessbegleiter. Die Bedarfsermittlung kam vom Dorf selbst.

Die knappen Thesen sind Anregungen, die ich Ihnen gerne mitgeben möchte. An die 24 Stunden Redezeit des Abgeordneten Thurmond bin ich wie versprochen nicht ansatzweise herangekommen!

Daher haben wir noch ein bisschen Zeit: Lassen Sie uns gerne gleich im Anschluss noch diskutieren. Ich wünsche Ihnen aber schon mal – auch im Namen der anderen Förderinstitutionen – einen erfolgreichen Fachtag sowie anregende Erkenntnisse und Diskussionen!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten