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Wie wollen wir leben? Grußwort von Thomas Krüger anlässlich des Expertenworkshops "Die Zukunft gestalten. Partizipative Technikbewertung: eine Aufgabe der politischen Bildung?" vom 17. bis 18. November 2010 in Bensberg

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Rede von Thomas Krüger anlässlich des Expertenworkshops "Die Zukunft gestalten. Partizipative Technikbewertung: eine Aufgabe der politischen Bildung?" vom 17. bis 18. November 2010 in Bensberg

Meine Damen und Herren,
technologische Veränderungen haben immer auch eine gewichtige gesellschaftliche und politische Dimension. Einige Schlagworte – wie Gentechnik oder Stammzellforschung – verdeutlichen die politische Brisanz. Dürfen wir alles tun, was technisch möglich ist? Wer entscheidet darüber? Wer profitiert von bestimmten Entwicklungen und wem schaden sie? Und wie erreichen wir, dass zu den Entwicklungen, die den Menschen helfen sollen, auch wirklich alle Menschen Zugang haben?

Diesen Debatten darf sich die politische Bildung nicht verschließen. Auf Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft muss sie mit zukunftsorientierten Reflexionen über ihre Themen, Zielgruppen und Formate reagieren.

Wir haben dies vor einem Jahr auf einer Klausurtagung in Cadenabbia gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der politischen Bildungslandschaft, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Experten verschiedener Professionen getan.

Mit dem heutigen Expertenworkshop will die bpb das Thema aufgreifen und mit Ihnen gemeinsam überlegen, welche Zugänge, Herausforderungen, konzeptionelle Perspektiven und strategische Konsequenzen sich hier ergeben können. Politische Bildung hat die Kernaufgabe, die Zukunft der Demokratie mitzugestalten. Es ist ihr Auftrag, die demokratische Kultur und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Dies gilt auch für die Prozesse der Entwicklung und Implementation wissenschaftlich-technischer Erneuerung und die sich daraus ergebenden politischen Folgen und Kontroversen.

Dass wir dabei einer enormen Beschleunigung ausgesetzt sind, zeigt ein Blick auf das Internet. Vor 15 Jahren war es noch eine technisch interessierte Minderheit, die mit dem Begriff Internet überhaupt etwas anfangen konnte. Heute ist es eine verschwindende Minderheit, deren Leben und Arbeit nicht wesentlich von E-Mails, www-Adressen, von web-Kommunikation und -recherche bestimmt wird. Das hat Konsequenzen – auch für die nahe Zukunft. Die Wochenzeitung "Die Zeit" beschäftigte sich im Frühjahr 2010 ausführlich mit der Frage, ob wir angesichts der privaten Allwissenheit von Google, Microsoft, amazon und staatlicher Vorratsdatenspeicherung nicht auf ein Zeitalter totaler Transparenz zusteuern. Eine Zukunft, die durch die Öffentlichkeit selbst der privatesten Dinge geprägt ist und weder Anonymität noch Privatsphäre mehr kennt beziehungsweise zulässt. Denkt man zudem an die Möglichkeit, ausgeschaltete Handys zu orten oder die Einführung von Funketiketten, den RFID-Tags, in den neuen Personalausweis, wird deutlich, dass wir uns nicht mehr verbergen können, sondern immer und überall zu orten sind. Fragen und Entwicklungen wie diese sind Themen und Herausforderungen für die politische Bildung.

Die Informations- und Kommunikationstechnologien sind dabei gegenwärtig nur die augenscheinlichsten Entwicklungen. Was geschieht in der Biotechnologie, was in der Gehirnforschung oder Nanotechnologie? Welche Perspektiven eröffnet die synthetische Biologie, in der Bio-, Nano- und Informationstechnologie zusammengeführt werden? Ihr Ziel ist es, DNA - Sequenzen künstlich zu erzeugen und perspektivisch damit lebende Organismen umzubauen oder zu erschaffen. Eine völlig neue Dimension des Eingriffs in die Natur, aber auch von Gestaltungspotenzialen.

All diesen Entwicklungen ist gemeinsam, dass sie ungeheure Chancen eröffnen, aber auch Risiken und Nebenwirkungen für Mensch, Umwelt, Gesellschaft und Politik bergen, die zu ermitteln und zu diskutieren sind.

Die gesellschaftlichen Technologiediskurse in den letzten zwei Jahrzehnten drehten sich neben der Erörterung der jeweils spezifischen Chancen und Risiken immer auch um ethische Fragen wie die folgenden:

  • Dürfen wir, was wir können? (Zum Beispiel in der Präimplantationsdiagnostik (PID), die in diesen Tagen nicht nur zwischen, sondern auch in den Parteien höchst kontrovers diskutiert wird)

  • Wollen wir wirklich alles haben und machen, was möglich ist?

  • Gibt es im Umgang mit der Natur und / oder der Menschenwürde Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen?

  • Zusammengefasst geht es also um die Frage: Wie wollen wir leben?

Darüber hinaus geht es auch um machtpolitische Fragen:

  • Wem nützt die Entwicklung?

  • Wer bestimmt den Zugang?

  • Wie werden technologiepolitische Entscheidungen gesellschaftlich verhandelt?

Diesen und anderen grundsätzlichen Fragen und Haltungen stehen immer auch ebenso grundlegende Feststellungen und Positionen gegenüber, die wir ebenfalls abwägen müssen:

  • Wissenschaftlicher Fortschritt lässt sich nicht aufhalten.

  • Wenn wir es nicht tun, tun es andere und wir haben die Wettbewerbsnachteile.

  • Jede neue Technologie ruft Ängste und Bedenken hervor, über die sich der Fortschritt hinwegsetzen muss. Sonst gäbe es auch keine Eisenbahn.

Das sind Fragen, die diese Gesellschaft intensiv diskutieren muss. Diesen Diskurs – im Grundsätzlichen wie im Konkreten – zu begleiten und in Teilen zu organisieren, ist Aufgabe politischer Bildung.
Die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Forschung, Technikentwicklung und Umsetzung auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Prozessen, die diese in Gang setzen, auf der anderen, wird dabei zunehmend wichtiger für die Aufgabenfelder der politischen Bildung.
In diesem Workshop wird es darum gehen, die politischen Folgen von Technik herauszuarbeiten. Gefragt wird zum Beispiel, mit welchen konzeptionellen Strategien und Formaten das Thema in der politischen Bildung aufgenommen wird.

Die politische Bildung hat in ihren Angeboten und Curricula das Politikfeld Technikentwicklung und -gestaltung bis auf Ausnahmen sehr vernachlässigt. Hier besteht Nachholbedarf. Die heftigen Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, der wieder aufflammende Konflikt um Atomenergienutzung, Laufzeitverlängerung und Atomendlager, aber auch die schon erwähnte Debatte um die PID zeigen, welcher politische Sprengstoff und zugleich wie viel gesellschaftliche Gestaltungskraft in dieser Debatte liegen.
Für die politische Bildung ist das eine Herausforderung und Chance. Ihre Einrichtungen und Träger sind aufgerufen, sich der Aufgabe zu stellen und die Chancen zur Erweiterung ihrer Handlungskompetenz und Schärfung ihres Profils zu ergreifen.

Die Verantwortung politischer Bildung besteht dabei nicht nur darin, zu reagieren, wenn der Konflikt bereits tobt, wie in Stuttgart. Es geht vielmehr darum, schon im Vorfeld und im Prozess gesellschaftlich folgenreicher und kontroverser Entscheidungen in der Technologiepolitik diese Themen aufzugreifen. Politische Bildung muss Angebote entwickeln, die den kontroversen Fragen nachgehen, sie für ihre Zielgruppen nachvollziehbar machen und den Menschen ermöglichen, zu eigenen Urteilen zu gelangen. Dazu müssen in einem ersten Schritt wissenschaftliche Debatten verständlich aufbereitet und zugänglich gemacht werden. Die politischen Folgen technologischer Entwicklungen werden in Tagungen, online, in Arbeitsmaterialien oder auch in neuen Formaten der Bürgerbeteiligung zu Themen der politischen Bildung.

Wenn das Ziel politischer Bildung in der Einmischung möglichst vieler in die gesellschaftliche Debatte einerseits und die gleichzeitige Mitgestaltung demokratischer Entscheidungen andererseits besteht, stellt sich die Frage, mit welchen aktivierenden Methoden das umgesetzt werden kann.
Hier bieten verschiedene Ansätze partizipativer Technikfolgenabschätzung - von der Bürgerkonferenz bis zur Diskurstagung - vielfältige Möglichkeiten.

Die gesellschaftliche Prägekraft von Wissenschaft und Technologie und die sich daraus ergebenden politischen Folgen und kulturellen Implikationen sind nur die eine Seite. Der andere, für die Zukunft der repräsentativen Demokratie ebenso wichtige Aspekt, ist die Frage nach der Akzeptanz und dem kompetenten wie selbstbestimmten Umgang der Menschen mit diesen Entwicklungen. Hier ist unverzichtbar, den an Experten und Entscheidern orientierten gesellschaftlichen Technologiediskurs um die technologischen und wissenschaftlichen Laien zu ergänzen.

Den auf Partizipation ausgerichteten Formaten der Technikbewertung ist gemeinsam, dass sie wissenschaftliche Laien dazu qualifizieren, sich an der technologiepolitischen Debatte inhaltlich zu beteiligen und sie darin unterstützt, auf der Basis eigener Werthaltungen und Interessen eine eigene Position zu entwickeln und zu vertreten. Schließlich geht es um einen Dialog zwischen qualifizierten Laien, Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen und Verantwortungsträgern in Politik, Wirtschaft, Administration und Medien.

Dies erreichen sie, indem sie unter anderem ein Selbstlernen zur Informationsbeschaffung und -einordnung ermöglichen, damit das Zusammenführen von Sachinformationen und gesellschaftlichen, politischen, und ökonomischen Implikationen mit eigenen Werthaltungen, Überzeugungen, Ängsten und Hoffnungen fördern, kontroverse Argumentationsstränge, Interessen und Ziele deutlich machen durch die sachlich-emotionale Durchdringung der Sachverhalte einerseits und die Erfahrung konkreter Auseinandersetzung mit Wissenschaftlern und politisch-administrativen Entscheidungsträgern, System und Struktur politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung transparent werden lassen.

Solche Angebote politischer Bildung im Bereich partizipativer Technikbewertung können neben oder im Zusammenwirken mit der Arbeit zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und Initiativen eine Möglichkeit sein, den politischen Diskurs zu qualifizieren und die Akzeptanz gesellschaftlicher Veränderungen durch technologische Innovationen zu erhöhen.

Die Initiierung und Moderation von Verfahren zur Bürgerbeteiligung ist ein genuines Aufgabenfeld politischer Bildung. Die bpb verbindet mit dem heutigen Workshop die Hoffnung, dass die hier versammelten Experten aus dem Feld der Zukunftsforschung und Technikbewertung, aus dem Deutschen Ethikrat, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Deutschen Bundestag gemeinsam mit Wissenschaftlern und Praktikern der politischen Bildung konzeptionelle Ideen und strategische Ansatzpunkte zur Vernetzung entwickeln. Dass die politische Bildung – wie eingangs festgestellt – dieses Themenfeld bisher eher stiefmütterlich behandelt und vernachlässigt hat, ist begründet.

Zum einen sind die Bezugswissenschaften politischer Bildung im politik- und sozialwissenschaftlichen sowie im historischen Spektrum angesiedelt. Natur- und Technikwissenschaften kommen bisher kaum vor. Die Folge ist, dass dann eher die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen demonstrierenden Bürgern und Polizei aufgegriffen werden, weniger oder nebenbei dagegen die dahinter liegende gesellschaftliche Sprengkraft technologiepolitischer Entscheidungen.

Hier besteht Nachholbedarf für die politische Bildung, auch für die bpb: Bedarf an disziplinstrategischer Reflexion und Steuerung, an Fortbildung und an Mut zum Experiment.

Natur- und Technikwissenschaften sind in der Regel weitgehend unbekannte Welten, die in der politischen Bildung von ihrem traditionellen Auftrag und gewachsenem Selbstverständnis her nicht vorkommen. Der interdisziplinäre Diskurs um die Implementierung naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen erfordert eine Erweiterung dieses Bezugssystems, das heißt sowohl des Horizontes der Profession als auch der Qualifikation der Mitarbeitenden. Hier liegt ohne Frage eine nach wie vor nicht zu unterschätzende Barriere für die Behandlung naturwissenschaftlich - technischer Entwicklungen wie z.B. der Gen- oder Nanotechnologie in der politischen Bildung.

Und dort, wo Träger dazu übergegangen sind, der Entwicklung und den Anforderungen an die eigene Arbeit durch die Einstellung von Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern Rechnung zu tragen, ergibt sich das Problem des Zuganges zum Thema von der anderen Seite, der politikwissenschaftlichen und pädagogischen Kompetenz.

Die Integration der Natur- und Technikwissenschaften in die politische Bildung erfordert von den Lehrenden und Moderierenden erhebliche Fortbildungsleistungen, die in der Regel autodidaktisch im Praxisvollzug erbracht werden, die es aber sicher stärker als bisher durch systematische Fortbildungsangebote, insbesondere auch für Berufsanfänger, zu ergänzen gilt.

Politische Bildung muss sich den hier angedeuteten Herausforderungen stellen. Ein erstes Experiment in diesem Zusammenhang ist dieser Workshop. Wir erhoffen uns Antworten und Anregungen auf vier Ebenen:

  1. einer Klärung der Themen und der für die nahe Zukunft relevanten und drängenden technologiepolitischen Handlungsfelder,

  2. die Entwicklung disziplinstrategischer Möglichkeiten für die politische Bildung,

  3. Ansatzpunkte und erste Schritte zur Vernetzung und Kooperation zwischen den hier versammelten Disziplinen der Technikbewertung und der politischen Bildung,

  4. Ideen für neue, zukunftsweisende Formate und Kooperationen politischer Bildung.

Wir müssen – nicht nur in diesem Feld – die Herausforderungen aktiv annehmen, dass unser Handeln in einem immer weniger eindeutigen und von zunehmender Beschleunigung geprägten Umfeld stattfinden muss. Vor diesem Hintergrund ist es Ziel dieses Expertenworkshops, mittels eines interdisziplinären Dialogs zwischen Wissenschaft und Bildungspraxis relevante Zukunftsherausforderungen für die politische Bildungsarbeit in Deutschland und speziell für die bpb zu formulieren.

In diesem Sinne wünsche ich dieser Tagung viel Erfolg und bin gespannt auf die Ergebnisse Ihrer Erörterungen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten