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Alle Macht der Agora! Thomas Krüger

/ 9 Minuten zu lesen

Die politische Entscheidung, den Berliner Schlossplatz neu zu bebauen und sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffentlich sowohl kritisch als auch dialogisch auseinanderzusetzen, ist eine große Chance.

Die politische Entscheidung, den Berliner Schlossplatz neu zu bebauen und sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffentlich sowohl kritisch als auch dialogisch auseinanderzusetzen, ist eine große Chance. Diese bedarf einer überzeugenden Idee, um die ihr gebührende Wirkung zu entfalten. Zu ihrer Entwicklung möchten die Autoren dieses Buches beitragen.

Welche Stadt hat schon die – zugegebenermaßen aus der Tragödie geborene – Chance, ihre "Mitte", ihr architektonisches Herzstück in der Zeitgenossenschaft des 21. Jahrhunderts neu zu erfinden? Wie partizipiert Berlin, wie Deutschland an dem polyphonen Diskurs um eine neue, sich herausbildende Weltordnung? Wie sind Erinnerungen und Tradierungen vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen politisch, ökonomisch und kulturell zu verhandeln?

Es geht um den Ort, an dem - abgesehen von allen düsteren Entscheidungen in der Zeit des Ersten Weltkriegs - die Hohenzollern im Weißen Saal des 19. Jahrhunderts ihre "Reden zur Einheit der deutschen Nation" zelebrierten und an dem im späten 20. Jahrhundert die einzige demokratisch gewählte Volkskammer der DDR den Weg zur deutschen Einheit gestaltet hat. Er soll nun einem globalen Diskurs gewidmet werden. Dieser Vorschlag gewinnt an programmatischer Relevanz durch die überfällige Revision der von Bismarck einberufenen "Berliner Konferenz" von 1884/85, als sich die Vertreter von 14 teilnehmenden Staaten Europas über die koloniale Aufteilung Afrikas verständigten. Kein Ort wäre geeigneter zur Auseinandersetzung mit Kolonialpolitik und illegitimer Herrschaft. Die Überwindung des kolonialen Geistes und die Orientierung auf einen kulturellen Austausch "auf Augenhöhe" muss deshalb der Maßstab jeder konzeptuellen Überlegung sein. Wer einen fairen Dialog über die neue Weltordnung will, muss anachronistische Wurmfortsätze kolonialer und hegemonialer Gesten hinter sich lassen und einen grenzenlos offenen und disponiblen Raum des Austausches anstreben. Das Problem beginnt indes schon mit dem Begriff der "außereuropäischen Kulturen", der den Sammlungen in Berlin-Dahlem ihren Namen gegeben hat. Die Sammlungen heißen, historisch gesehen, zu Recht so: Niemand kann und will ernsthaft behaupten, dass sie mit antikolonialem Gestus zusammengetragen und der Menschheit egalitär zugeeignet worden seien. Sie sind vielmehr Ausdruck der interpretierenden Perspektive europäischer Sammler und Bewahrer. Die europäische Perspektive der vergangenen Jahrhunderte war die einer sich über die "anderen" Kulturen erhebenden und herrschenden. Nun gilt es, die Konstitutionsprinzipien europäischer Sammlungen zu dekonstruieren und Europa als "Weltdeutungszentrum" zu kritisieren – es geht um "kulturelle Repräsentationen einer selbstreflexiven europäischen Moderne an einer ihrer Geburtsstätten", mitten in Berlin, wie es Wolfgang Kaschuba formuliert.

Ein schlüssiger, überzeugender und zukunftsoffener Ansatz des Humboldt Forums tut deshalb gut daran, nicht von den "kontaminierten" Sammlungen her zu denken, sondern von einem polyphonen und multiperspektivischen Diskurs- und Reflexionsraum: Das Humboldt Forum als "Ort performativer Vermittlungen", der in medialer Vielfalt zu bespielen ist (Rudolf Prinz zur Lippe). Im Mittelpunkt der Überlegungen hat deshalb die Idee der Agora, das Forum der griechischen Antike, zu stehen, in der Fragen der Polis von allen Freien verhandelt wurden. Insofern darf die Agora nicht das Feigenblatt des Humboldt-Forums für das Performative sein (Sasha Waltz). Die Ausgestaltung und Budgetierung dieser Agora, ihre intermediäre und verknüpfende Rolle und ihre herausgehobene Positionierung wird entscheidend sein für ein Konzept, das auf eine konsequente "decolonization of knowledge" (Walter Mignolo) zielt.

Die Namensgebung dieses Forums ist mit den Gebrüdern Humboldt ebenso faszinierend und hinreißend wie in ihrem Kern problematisch. Sie ist potentiell aufgeladen, weil sie das Lebenswerk zweier nicht nur für Berlin bedeutender Brüder aus dem nachfriderizianischen Berlin des frühen 19. Jahrhunderts – wenn auch nicht eins zu eins – ins 21. Jahrhundert umzusetzen beansprucht. Ihr Charme liegt gerade darin, dass Berlin an seiner prominentesten Stelle nicht der ihm so liebgewonnenen Nabelschau Tribut zollt, ja nicht einmal die bloß nationale oder europäische Perspektive einnimmt, sondern den globalisierten (und immer stärker nomadischen) Kulturen unter derzeit noch immer asymmetrischen Repräsentationsbedingungen Rechnung zu tragen versucht.

Das aufkommende Großstadtbewusstsein der "Berliner Klassik" hat sich seinerzeit dialogbereit und liberal verstanden. Darin ist es dem sich seit den 1990er Jahren radikal internationalisierenden Berlin nach dem Fall der Mauer verwandt. In einer zweiten, diesmal transnational gedachten Moderne, präsentiert es sich den Weltbürgern als Tabula rasa. Seine in ihm produzierten "Texte" werden permanent neu verhandelt. Berlin wird mehr noch als in der "goldenen" Weimarer Zeit Weltstadt durch die eindringende Welt, durch die Öffnung und Entgrenzung zur Welt.

Die Perspektive Alexander von Humboldts zu Beginn der europäischen Moderne hat nichts von ihrer Virulenz eingebüßt. Im Gegenteil! Sein Werk, seine Idee des Kosmos, seine forschende und sammelnde Energie können heute Code und Chiffre des zeitgenössischen Diskurses um eine Weltgesellschaft sein. Alexander war als Europäer und Weltbürger ein gefragter Vordenker seiner Zeit. Er hat sein forschendes Fragen in das Selbstverständnis der europäischen Moderne eingeschrieben und wurde damit zum Vater vorurteilsfreier, empirischer Naturwissenschaften. Es kann nicht falsch sein, an diese offene und lernende Perspektive in einer Zeit zu erinnern, die selbst im Angesicht drängender Veränderungen dazu neigt, sich auf das zu verlassen, was man – mit fragwürdigem Befund – bereits zu können und zu wissen meint.

Sein Bruder Wilhelm von Humboldt hat – ebenfalls an der Wiege der europäischen Moderne – vor allem mit seinem Manifest von 1809 und den grundlegenden Bildungsreformen in Preußen der öffentlichen Relevanz von Bildung aufgeholfen. Er hat damit trotz aller intendierten Staatsferne der staatlichen oder, vorsichtiger gesagt, der öffentlichen Verantwortung für Bildung den Weg geebnet. Seine Verdienste um die Universität als öffentlichen Ort und sein Begriff der Bildsamkeit als bürgerliche Tugend und zu verfolgendes Ideal haben den modernen Erziehungswissenschaften, denen an der Humboldt-Universität endlich wieder der adäquate Platz zugekommen ist, den Weg bereitet. Sie haben sie, so Dietrich Benner, als Geisteswissenschaft begründet, die mit ihrem Praxisanspruch für eine veränderbare Gesellschaft einsteht. Wilhelm setzte bei seinem Verständnis von Bildung einen besonderen Akzent auf das Dialogische, das ständige Verstehen und Nichtverstehen des Gegenübers. Bildung war für ihn ein Prozess, keine statische Wissensskulptur – das könnte auch Leitlinie des Humboldt-Forums sein.

Die Humboldt-Brüder stehen für originäre, offene, ja urbane Antworten auf ein auch heute virulentes Merkmal der europäischen Moderne, das man vielleicht am besten mit dem Begriff der Entgrenzung beschreiben kann. Der progressive Zerfall von Grenzen verschiedenster Provenienz gehört zur Grunderfahrung der europäischen Moderne – gerade auch in Berlin – und öffnet Räume für ihr irreversibles Fortschreiten. Das Humboldt‘sche Vorgehen des unbedingten Forschens, des offenen Fragens und Suchens sowie des Dialogs, das jegliches Gegenüber in einem freiheitlich-liberalen Geist akzeptiert und am Diskurs partizipieren und autonom Akzente setzen lässt, stehen für die besten Traditionen und Triebkräfte Berlins (und jeder weltoffenen Wissenschaft).

Alexander und Wilhelm von Humboldt waren aber – und das ist zu problematisieren und mitzudenken – keine kontextlosen Weltbürger. Sie waren immer auch Teil einer hegemonialen Erschließung von Welt und Wissen. Da helfen auch nicht Sympathie heischende, mit dem Gestus der Entschuldigung vorgetragene Zitate, die uns geradezu muss dieser Tatsache Rechnung tragen und einen posthumboldtschen Ansatz entwickeln. Von der Wirkungsgeschichte eurozentrischer Interpretation ausgehend, muss die Selbstreflexion und Selbstkritik kolonialer Vergangenheit und immer noch bestehender intellektueller Restbestände derselben zur Grundvoraussetzung eines konzeptionellen Ansatzes gemacht werden, bei dem sich europäische Kultur in gleicher Augenhöhe einreiht in die Gesamtheit gleich-gültiger Weltkulturen. Es geht, so Wolf Lepenies, um die symbolische Kündigung der Kongo-Konferenz, um den "Abschied vom intellektuellen Kolonialismus".

Vor diesem Hintergrund werden zwei Strategien wichtig: ein dekolonialer und ein transdisziplinärer Ansatz. Der dekoloniale, oder auch "kritsch-okzidentalistische" Ansatz (Gabriele Dietze) verweist auf die Relevanz einer durch Geschichte und Wirkungsgeschichte bedingten, notwendigen Überbietung und Überschreitung bisheriger Kategorien, um die vielbeschworene "Augenhöhe" herzustellen. Für die Agora und das Humboldt-Forum heißt das, permanent die Perspektiven "der Vielen" aufzunehmen und zum offenen Aushandlungsraum, zum freien und demokratischen Forum für Dialog und Kontroverse zu werden. Oft gerät das Forschen, die Wissenschaft bei der Diskussion um den kulturellen Dialog aus dem Blick. Das Humboldt-Forum sollte gerade unter Bezugnahme auf die Namensgeber trans- bzw. interdisziplinäre Ansätze etablieren. (Die Künste arbeiten wie die Wissenschaften mit Hypothesen.) Die Haltung unnachgiebigen Fragens und Forschens, des Ringens um Gewissheiten drängt über Vorgegebenes hinaus. Der Blick über die Disziplinen, über die kulturellen und sprachlichen Grenzen hinweg, müsste sich einschreiben in das Selbstverständnis eines – als Paradigma gedachten – vorurteilslosen, "herrschaftsfreien" Diskurses (Jürgen Habermas) oder, um noch einmal Walter Mignolo zu zitieren, eines "dritten epistemologischen Raums".

Die Agora geht aber nicht in der Vermittlung von Informationen und Wissen, im Austausch und Dialog von Differenzen, von Kulturen und Geschichten auf. Es geht um mehr, um den welt- und lebensverändernden Anspruch von Bildung, die mehr ist als postkoloniale Helden vor Augen führen wollen: Ein zeitgenössisches Humboldt-Forum Wissensvermehrung. Es geht um Verknüpfung von Wissen, um neue Zusammenhänge und die Infragestellung des als sicher Geglaubten. Bildung evaluiert und verarbeitet Wissen, um seine Anwendbarkeit zu prüfen. Bildung braucht Menschen, die anwenden und verändern wollen. Ein Humboldt-Forum versteht sich daher als diskursives und reflexives Labor der Welt von morgen: Wo und wie wollen wir zusammen leben?

Apropos Entgrenzung: Wer heute unter der programmatischen Flagge eines "Humboldt- Forums" über die Nutzung des Schlossplatzes nachdenkt, darf sich nicht darauf beschränken, die evidente öffentliche Nutzung dieses Ortes mit den geronnenen Ideen des 20. Jahrhunderts zu erobern. Wir brauchen kein Humboldt-Forum, hinter dem sich der Objektfetisch einer Museumsnutzung, ein besser ausgestatteter Hörsaal einer Universität oder eine Kathedrale der ehrwürdigen Gutenberg-Galaxis verbirgt. Um es zuzuspitzen: Museum, Bibliothek und Universität müssen zu Dienstleistern, ja zu "Sklaven" – wenn ich dieses gefährliche Wort an dieser Stelle polemisch benutzen darf – dieser Idee des Humboldt-Forums "im Schnittpunkt es umgebender Agenturen des Wissens" (Klaus Brake) werden, um sie wieder aufleben zu lassen. Es geht um nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Neuerfindung der erprobten Kulturtechniken für die globale, multiperspektische und polyphone Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Wer ehrlich genug ist und die autopoetischen und retroaktiven, ja reaktionären Kräfte subventionierter Kulturinstitutionen kennt, muss indes gewarnt sein. Ehe man sich versieht, ist die Agora zu einem Teil der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des von Institutionen geenterten Humboldt-Forums geworden. Zudem wäre es jammerschade für den Schlossplatz und für Berlin, wenn erst einmal geldhungrige Text- und Labelmaschinen der Marketingagenturen aus der Idee des Humboldt Forums nichts weiter als ein Stück Seife für die Ideen von vorgestern gemacht haben. Keine Macht den Institutionen und PR-Maschinen! Alle Macht und vor allem alle Zeit der Idee – der Agora! Es geht um den herrschafts- und verwaltungsfreien Austausch von Ideen, Meinungen und Neuem in einer offenen, demokratischen Gesellschaft.

Entscheidend für das Gelingen eines solchen Konzeptes sind deshalb die zu schaffenden institutionellen Strukturen. Die von den politisch Verantwortlichen gegründete Stiftung jedenfalls weist in eine falsche Richtung. Sie setzt auf die Verwaltung der eingebrachten Ressourcen, ergänzt um das Mandat politisch Verantwortlicher. Das Humboldt-Forum, von der Agora her gedacht, bedarf aber – das zeichnet sich nach Abwägung der in diesem Buch vorgestellten Argumente und verwandten Konzeptionen ab – einer autonomen, mit Budget und Personal ausgestatteten künstlerischen Intendanz, um die Vielstimmigkeit der Idee in der Verknüpfung mit unterschiedlichsten Partnern zu besorgen. Von einer dritten Generaldirektion bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) über die Einbindung in eine sich neu positionierende Struktur der Berliner Festspiele, zu der ja auch das Haus der Kulturen der Welt gehört, bis zu einer Verzahnung mit der zeitgenössisch ausgerichteten Kulturstiftung des Bundes oder dem Goethe-Institut ist da vieles denkbar. Völlig unabhängig davon, welche dieser Wege gewählt wird, gilt: In jedem Fall sollte sich ein so gedachter Agora-Ansatz für alle bisher marginalisierten und ausgeschlossenen kuratorischen Positionen öffnen und sie zu Lasten der bisherigen, zur Disposition zu stellenden Repräsentations- und Definitionsmacht der Institutionen einbeziehen.

Die Weichen sind jedenfalls neu zu stellen, wenn der Geist der Suche nach einer neuen Weltordnung sich nicht davonmacht, bevor es auf der Agora im Zentrum Berlins überhaupt erst beginnt. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Mit Walter Benjamin gesprochen: "In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er 'kann'. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden." ("Einbahnstraße")


Erschienen in: Flierl, Thomas / Parzinger, Hermann (Hrsg.), Die kulturelle Mitte der Hauptstadt – Projekt Humboldt-Forum in Berlin, Bonn 2009

Fussnoten