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Selbstbilder und Fremdbilder Rede von Thomas Krüger bei der Eröffnung der Ausstellung "Deutschland für Anfänger" im Auswärtigen Amt in Berlin

/ 5 Minuten zu lesen

Die Ausstellung "Deutschland für Anfänger" will das zeitgenössische Deutschland vermessen und durch unkonventionelle und am Alltag orientierte Zugänge zur Debatte stellen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

diese Ausstellung ist anders. Sie ist ganz gewiss nicht das, was Sie als Ausstellung zu den Jahrestagen des Jahres 2009 erwarten könnten. Sie blickt nicht zurück und erklärt die Bundesrepublik Deutschland nicht allein aus der Vergangenheit. Stattdessen versucht sie quasi, das zeitgenössische Deutschland zu vermessen und durch unkonventionelle und am Alltag orientierte Zugänge zur Debatte zu stellen.

Gleichwohl: Diese Ausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung passt in dieses Jahr mit seinen vielen Anlässen, den Jahrestagen, und auch den übergroßen und gravierenden wirtschaftlichen Herausforderungen, die zu bestehen sind.

Wer sind wir eigentlich und wo kommen wir her? Was ist bei uns anders als bei anderen? Welches Bild haben wir denn von uns selbst, unserem Land, unseren Zeitgenossen? Und wie werden wir eigentlich bei unseren Nachbarn und Nachbarsnachbarn wahrgenommen? Diese Ausstellung begibt sich in das waghalsige Unternehmen, die Selbstbilder und Fremdbilder eines Landes zu buchstabieren und zu debattieren, das nach zwei selbst ausgelösten fürchterlichen und verbrecherischen Kriegen 60 Jahre Demokratie hinter sich hat und nach 40 Jahren Teilung fast 20 Jahre wieder staatlich vereint ist. Der kulturelle Bestand der Bundesrepublik Deutschland, seine Codes, seine Erinnerungen und Visionen sollen ein gegenwärtiges und in die Zukunft gerichtetes Thema sein.

Meine Damen und Herren, die Ausstellung geht zurück auf eine Idee von Facts&Fiction aus Köln und sie heißt "Deutschland für Anfänger".

Der unvoreingenommene, vielleicht sogar naive Blick auf unser von Vorurteilen und Ideologien behaftetes Land möchte Einsichten und Erkenntnisse zugleich in Frage stellen und vertiefen, die Schätze und die Abgründe thematisieren, verstören aber auch entspannen: Seht her, dieses Deutschland mit seiner Geschichte und seiner Kultur hat sich gewandelt, verändert und eine neue Zukunft gewonnen. Aber es ist, wie viele andere Länder keine problemfreie Zone politischer Korrektheit. Sich mit diesen Widersprüchen auseinanderzusetzen und mit ihnen souverän und engagiert umzugehen, könnte so etwas wie der Imperativ von "Deutschland für Anfänger" sein.

Es geht, wie der politischen Bildung in ihrem Kern um Aufklärung, nicht um Verklärung. Es geht um eine populäre Form der Auseinandersetzung, um eine Rezeption der Vielen und somit um eine dezidiert demokratische Aneignung der Selbst- und Fremdbilder unseres Landes.

Ganz in diesem Sinne ist es das Konzept dieser Ausstellung mehrsprachig, konkret dreisprachig zu verfahren. Mit den begleitenden Texten auf deutsch, englisch und türkisch soll paradigmatisch ein multipler Blick auf das sich gewandelte Deutschland ermöglicht werden – die Internationalität und Hybridität im Innern wie im Äußern zum Thema werden. Und doch ist diese Ausstellung gerade keine Leseausstellung, sondern versucht sinnliche und emphatische Zugänge zu schaffen. Die Ausstellung will Angebote des Mitmachens und der Interaktion unterbreiten. Deutschland zum Anfassen.

"Deutschland für Anfänger" folgt dem Konzept des Musee sentimentale, und führt quasi wie ein Ciccerone durch das alphabetisch vermessene Land. Dabei fragt sie immer wieder nach dem, was der Ausstellungsbesucher über Deutschland schon weiss. Sie spielt mit Klischees und vermittelt Fakten. Das Alphabet als semantischer Bezug zur Sprache des Landes fungiert dabei quasi als Skelett und führt durch die Ausstellung. Es beginnt in Deutschland natürlich mit A - wie Arbeit, auch Arbeitslosigkeit, und es endet mit Z – wie Zukunft.

Damit sind implizit die großen Herausforderungen unserer Tage als Klammer gesetzt. Aber zwischen A und Z liegen die anderen Buchstaben des Alphabets und – ob nun C wie Currywurst, M wie Mauer, R wie Religion und V wie Verein – alle Begriffe verlangen von jedem von uns, das eigene Bild von Deutschland und auch die hergebrachten Werte zu überdenken.

Nehmen wir G – wie Gemütlichkeit: Hand auf´s Herz: Wie ist das mit der deutschen Gemütlichkeit? Gibt es sie in dem globalökonomischen Treiben unserer Tage überhaupt noch? Hat sie sich womöglich unversehens verwandelt zurückgezogen oder gar selbst ins Unpräzise globalisiert? Gehen Sie der Sache auf dem Biedermeiersofa nach!

Finden Sie auch heraus, wie wichtig das Vereinswesen ist, wieviel Vereine es in Deutschland gibt und welche Aufgaben sie wahrnehmen. Sehen sie nach bei V- wie Vereine. Und vergessen Sie nicht das Q wie Querdenker, die allem anderen Anschein nach eine Tradition in Deutschland haben. Vielleicht brauchen wir gerade von denen heute wieder mehr. Sie sehen, diese Ausstellung klärt nicht nur auf, sie nimmt sich das Recht heraus in bestem protestantischen Sinne auch erbauend zu sein.

Die Ausstellung konfrontiert mit Klischees und bricht sie, sie spielt mit Urteilen, Vorurteilen und sie regt zu kontroversen Diskussionen an. Meine Damen und Herren, Sie haben es mit politischer Bildung par excellence zu tun: Also einem Angebot, bei dem Sie gefordert sind und sich selbst eine Meinung bilden dürfen. Dabei brauchen Sie nicht ins Schwitzen zu kommen. Sie dürfen sogar entspannen, sich unterhalten lassen und schmunzeln.

Bei N wie Nazis raus werden sie spätestens bemerken, dass diese Ausstellung Ihnen nichts ersparen will. Deutschland ist auch heute noch kein reines Zuckerschlecken, kein permanenter Karneval und eben nicht nur Gemütlichkeit.

Wenn Sie die Ausstellung durchstreifen und zwischendrin verwirrt sind bei all dem, was Ihr Deutschlandbild in Frage stellt – was durchaus die Absicht der Ausstellungsmacher ist - greifen Sie mal schnell zur Notrufsäule – Sie werden dort das Grundgesetz hören. Es ist, wie Heinrich Böll sagte, der Beichtspiegel der Nation. Gestärkt führt sie der Weg zurück zum nächsten Widerspruch.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Jeder wird in dieser Ausstellung etwas vermissen, was zu seinem Bild von Deutschland gehört. Es wird auch jeder etwas finden, was er noch nicht wusste. Sehen Sie es uns bitte nach: Das Alphabet hat nur 26 Buchstaben und der Tag nur 24 Stunden. Freuen Sie sich also auf eine Ausstellung der etwas anderen Art, empfehlen Sie sie weiter, denn sie soll wandern.

Und tatsächlich ist sie für den Besuch einer Schulklasse ebenso geeignet wie für einen Familienbesuch an einem verregneten Urlaubstag. Noch einmal herzlichen Dank an die Firma Facts&Fiction, die die Idee zu dieser Ausstellung hatte. Dank auch an Dr. Jürgen Reiche, der die Arbeit an der Ausstellung wissenschaftlich begleitet hat und natürlich an meine Mitarbeiterinnen in der bpb.

Aber auch ein großes Dankeschön an die Kolleginnen und Kollegen des Goethe-Instituts, die die Ausstellung mit uns so koproduziert haben, dass gleich zwei aus ihr geworden sind und sie die Goethesche Version in den vielen Instituten weltweit zeigen werden. Den Bundesrechnungshof wird diese intelligente Form sparsamer Kreativität sicher freuen. Dieses Ausstellungsvorhaben zeigt vielleicht wie kein anderes, dass wir in Sachen Vermittlung und Bildung eine tiefe Geschwisterschaft teilen. Oder mit Heiner Müller: "Eine Hand wäscht die andere und den will ich sehn, der sich die Hände wäscht mit einer Hand" Hinweisen möchte ich noch auf den Ausstellungskatalog der besonderen Art. Die Deutsche Jugendpresse hat mit einer Sonderausgabe Ihres Zentralorgans "Politik Orange" für eine nachlesenswerte Lektüre gesorgt. Der Ausstellung viel Erfolg und Ihnen einen informativen Abend und viel Spaß!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten