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Gesellschaft, Alltag und Kultur in der Bundesrepublik | Deutschland in den 70er/80er Jahren | bpb.de

Deutschland in den 70er/80er Jahren Zu diesem Heft Bundesrepublik Deutschland 1969 bis1973 Innere Entwicklung der Bundesrepublik bis 1989 Wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Entwicklung der DDR bis Ende der 80er Jahre Gesellschaft, Alltag und Kultur in der Bundesrepublik Gesellschaft und Alltag in der DDR Literaturhinweise Impressum

Gesellschaft, Alltag und Kultur in der Bundesrepublik

Axel Schildt

/ 27 Minuten zu lesen

In Frankfurt demonstrieren im Jahr 1974 Frauen gegen Paragraph 218 und für das Recht auf Abtreibung. (© picture-alliance/AP)

Bevölkerung

Die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik stieg in den siebziger und achtziger Jahren von 61 auf 62,7 Millionen (1989) und damit weit weniger stark als in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens. Der von der Öffentlichkeit besorgt kommentierte Rückgang der Geburtenraten (1970: 13,4 Lebendgeborene je 1000 Einwohner; 1985: 9,6; 1989: 11,0) und die zugleich steigende Lebenserwartung (1970: bei Männern 67,4, bei Frauen 73,8 Jahre; 1991: 73,1 bzw. 79,5) ließ die Gesellschaft insgesamt altern. Die Demographen rechneten bereits Mitte der siebziger Jahre vor, dass für den vollständigen Ersatz der Elterngeneration diese 2,2 Kinder erzeugen müsste, während es tatsächlich nur 1,4 waren.

War 1970 annähernd ein Drittel der Bevölkerung jünger als 20 Jahre, machte dieser Anteil Mitte der neunziger Jahre nur noch ein Fünftel aus. Hinzu kam, dass immer weniger Menschen bis zum 65. Lebensjahr arbeiteten. Waren es 1970 noch fast die Hälfte aller Arbeiter und Angestellten, galt dies ein Jahrzehnt später nur noch für jeden sechsten.

Die Bundesrepublik war – insbesondere infolge der Arbeitsimmigration von "Gastarbeitern" aus Süd- und Südosteuropa – im Laufe der sechziger und frühen siebziger Jahre de facto zu einem Einwanderungsland geworden – der Begriff selbst blieb freilich noch lange politisch tabuisiert. Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte verzwanzigfachte sich in diesem Zeitraum auf 2,6 Millionen (1973), wobei türkische Staatsangehörige seither die größte Gruppe stellen. Spätestens Anfang der siebziger Jahre zeichnete sich endgültig ab, dass die "Gastarbeiter" durch den Nachzug ihrer Familien zu einem ständigen Teil der Bevölkerung der Bundesrepublik geworden waren.

Jedes sechste neu geborene Kind hatte 1974 ausländische Eltern und von 1970 bis 1980 stieg die Zahl der ausländischen Bürgerinnen und Bürger von 3 auf 4,5 Millionen (= 7,2 Prozent der gesamten Wohnbevölkerung) stark an. In den achtziger Jahren nahm dann die Zahl der Ausländer nur noch langsam zu. Sie betrug 1989 4,8 Millionen (= 7,7 Prozent). Versuche in der Zeit der Kanzlerschaft Kohls, die Rückkehr von ausländischen Bürgerinnen und Bürgern finanziell zu fördern, wurden Anfang der neunziger Jahre aufgegeben. Die zu einem großen Teil bereits in der zweiten und dritten Generation in Deutschland lebenden ausländischen Menschen waren und sind nicht nur volkswirtschaftlich unersetzlich, sondern bewirkten zugleich eine gesellschaftliche und kulturelle Öffnung des nationalen Horizonts – dies markierte einen beträchtlichen und nachwirkenden Unterschied zur DDR.

Allerdings war das Verhältnis der westdeutschen Bevölkerung zu den ausländischen Mitbürgern keineswegs harmonisch. Einer Untersuchung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (infas) zufolge meinten 39 Prozent der repräsentativ Befragten Ende 1981, die Türken würden den Deutschen ihre Arbeitsplätze wegnehmen. Latente oder offene Ausländerfeindschaft zeigte sich vor allem unter Menschen mit niedrigem sozialem Status und Bildungsniveau, speziell unter männlichen Jugendlichen. Anders als in den sechziger und siebziger Jahren galt Ausländerfeindschaft in den achtziger Jahren nicht mehr ausschließlich den Gastarbeitern, sondern verstärkt der Gruppe der Asylsuchenden. Diese Gruppe verdoppelte sich 1980 gegenüber dem Vorjahr auf circa 100000. Da – neben einem größeren Anteil kurdischer Flüchtlinge aus der Türkei – auch sehr viele Menschen aus Afrika unter den Asylbewerbern waren, mischten sich nun auch stärker offen rassistische Töne in die Ausländerfeindschaft. Die Auseinandersetzung um die Regelung des Asylrechts eskalierte dann in den neunziger Jahren.

Soziale Struktur

Die bereits in den sechziger Jahren einsetzende Entwicklung zur "postindustriellen", das heißt nicht mehr vom industriellen, sondern vom "tertiären" bzw. Dienstleistungssektor volkswirtschaftlich dominierten Gesellschaft schritt in den siebziger und achtziger Jahren weiter voran: Erstmals war Mitte der siebziger Jahre (1975) mit 47,9 Prozent ein höherer Anteil aller Erwerbstätigen im so genannten tertiären bzw. Dienstleistungssektor beschäftigt als im produzierenden Gewerbe, also in Industrie und Handwerk, mit 45,3 Prozent. Seither hat sich die Schere noch weiter geöffnet (1989 betrug die Relation 55 zu 41 Prozent), während der Anteil der in Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten sich von 1970 bis 1988 auf 4,2 Prozent halbierte. Ausdruck fand dieser volkswirtschaftliche Strukturwandel auch darin, dass seit Mitte der siebziger Jahre der Anteil der Angestellten und Beamten denjenigen der Arbeiter überstieg und dass zugleich Bildungsstand und Qualifikationsstruktur immer weiter anstiegen. Der Anteil der "ungelernten" Erwerbstätigen sank von 41 Prozent (1970) auf 23 Prozent (1989).

Die Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft zeigte sich auch in der fortschreitenden Auflösung traditioneller Milieus. Auf der politischen Ebene bedeutete dies, dass die Sozialdemokratie angesichts eines sinkenden Anteils der Industriearbeiterschaft, der angestammten Wählerklientel ebenso Probleme bekam, wie die CDU/ CSU, die mit einer Abnahme der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung und des traditionellen bürgerlichen Milieus konfrontiert war. Auch sank die Bindungskraft der Gewerkschaften im einen wie die der Kirchen im anderen Falle. Aber die Erosion traditioneller Milieus ist nicht mit einer generellen Milieuauflösung zu verwechseln. Soziologische Erhebungen ergaben vielmehr eine Differenzierung der sozialen Milieus. Neue Milieus, die sich in ihren Wertorientierungen unterscheiden lassen und bei denen zugleich generationelle Unterschiede eine stärkere Rolle spielen, überlagern mittlerweile die alte Schichteneinteilung (siehe hierzu auch "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 269 zum Thema "Sozialer Wandel in Deutschland").

Wohlstand und Konsum

Das real verfügbare Einkommen pro Kopf der Bevölkerung in der Bundesrepublik bzw. in den alten Bundesländern (bezogen auf das Preisniveau von 1991) stieg nach Angaben des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung von 16169 (1970) auf 25121 DM (1991), ein Anstieg von über 50 Prozent. Die westdeutsche Gesellschaft erlebte also in den siebziger und achtziger Jahren insgesamt eine erhebliche Wohlstandssteigerung. Dies zeigte sich in der Umschichtung des Konsums. Während den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zufolge 1962/63 immerhin 58 Prozent des Einkommens unmittelbar lebensnotwendig – definitionsgemäß für Nahrung, Kleidung und Wohnung – verwendet wurden, waren es 1973 nur noch 44 und 1978 sogar nur 42 Prozent. Seither ist der Wert in dieser Größenordnung geblieben.

Soziale Differenzierung

Allerdings erfuhr die Verteilung des Volkseinkommens eine gegensätzliche Entwicklung. Die Lohnquote (Anteil der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit) stieg in den siebziger Jahren von 68 (1970) auf 76 Prozent (1980) und fiel dann wieder auf 70 Prozent (1991), während im gleichen Zeitraum – umgekehrt – die Quote der Einkommen aus selbstständiger Arbeit von 32 (1970) auf 24 Prozent (1980) fiel und dann wieder auf 30 Prozent (1991) anstieg. Hinter diesen statistischen Angaben stehen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Veränderungen, die in den achtziger Jahren die soziale Ungleichheit befestigten, die etwa unter dem Stichwort "Zwei-Drittel-Gesellschaft" diskutiert wurde. Demnach verbreitere sich die gut verdienende Mittelschicht und zwei Drittel der Gesellschaft würden in wachsendem Wohlstand leben, während gleichzeitig ein tiefer sozialer Graben zum unteren Drittel der Gesellschaft, das auf staatliche Unterstützung angewiesen sei, entstehe.

Diese Bezeichnung suggerierte allerdings ein falsches Bild. Während nämlich die relativen Veränderungen beim großen Teil der Einkommensgruppen wenig auffällig waren und damit die soziale Schichtung insgesamt weitgehend in den gleichen Relationen erhalten blieb, gab es die größten Veränderungen am oberen und unteren Rand der Gesellschaft. So verbesserte sich zum einen die relative Wohlstandsposition der Selbstständigen (ohne Landwirte) in außergewöhnlichem Maße; 1970 erzielten diese durchschnittlich ein Einkommen von circa 140 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt aller Einkommensbezieher, 1990 waren es circa 250 Prozent.

Auf der anderen Seite hatten diejenigen, die auf Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und ähnliche Zuwendungen angewiesen waren, relative Einbußen hinzunehmen. Zudem fielen mehr Menschen durch die Maschen des sozialen Netzes. Nach dem von den Vereinten Nationen festgelegten Kriterium für Armut, weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung zu haben, stieg der Anteil der Armutspopulation in der Bundesrepublik bzw. in den alten Bundesländern von 6,5 Prozent (1973) auf 10,2 Prozent (1991). Vor allem allein erziehende Mütter, kinderreiche Familien, Jugendliche und "Langzeitarbeitslose" sowie ausländische Mitbürger zählten in wachsendem Umfang zum armen Teil der Bevölkerung. Unterschiede deutscher und ausländischer Haushalte zeigten sich im Übrigen etwa bei der Ausstattung der Wohnungen. Während deutsche Haushalte 1989 durchschnittlich über eine Wohnfläche von 43,5 Quadratmetern pro Person verfügten, waren es bei den ausländischen nur 21,7 Quadratmeter.

Die Differenzierung des Einkommensspektrums und der kulturell geprägten Vorlieben ist zu bedenken, wenn man die Entwicklung des Konsums betrachtet. Eines der auffälligsten Merkmale ist sicherlich die Zunahme an PKW, die den Anspruch individueller Freiheit besonders deutlich symbolisiert. Nachdem sich ihre Zahl bereits in den sechziger Jahren verdreifacht hatte, verdoppelte sie sich nochmals von 13,9 (1970) auf 30,7 Millionen (1990; alte Bundesländer). Ein PKW war 1969 in 44 Prozent, 1978 in 62 und 1988 in 68 Prozent aller Haushalte vorhanden – die Bundesrepublik wurde also in den siebziger und achtziger Jahren zu einer weitgehend automobilisierten Gesellschaft.

Im gleichen Zeitraum erfolgte auch die flächendeckende Ausbreitung von elektrischen Haushaltsgeräten, deren Besitz bis zu den sechziger Jahren noch sehr abhängig von der Höhe des Einkommens war. Der amtlichen Statistik zufolge gab es eine Waschmaschine 1969 in 61 Prozent aller Haushalte, 1988 in 86 Prozent. Bei Kühlschränken stieg der Ausstattungsgrad gleichzeitig von 84 auf 98 Prozent, bei Gefriergeräten von 14 auf 65 Prozent, bei Geschirrspülmaschinen von 2 auf 29 Prozent.

Der Anteil der Ausgaben, die von den Vier-Personen-Haushalten der Arbeiter und Angestellten mit mittlerem Einkommen für Freizeitgüter und Urlaube aufgewandt wurden, weist einen Anstieg von 12,3 (1970) auf 18,4 Prozent (1990) auf. Besonders eindrucksvoll ist für diesen von der amtlichen Statistik definierten durchschnittlichen Haushalt der Zuwachs an Geräten der Kommunikations- und Unterhaltungselektronik. Dies betraf nicht nur den Einzug des Fernsehens und des Radios in die letzten noch rundfunkfreien Haushalte (vgl. auch Seite 38f.), befördert vor allem durch Farb-TV-Geräte und Hörfunk in Stereoqualität, sondern auch die Anschaffung neuer technischer Geräte. Die größten Umsatzsteigerungen innerhalb aller unterhaltungsindustriellen Sparten hatte zwischen 1975 und 1985 die Phonoindustrie erzielt. Ein Videorecorder war 1985 in 22 Prozent, 1990 in 54 Prozent der Haushalte vorhanden. Der Anteil der Haushalte, die einen Personal Computer (PC) besaßen, stieg im gleichen Zeitraum von 13 auf 32 Prozent. Erstrangige Bedeutung für die Veränderung der Alltagsmuster, für die Formung von Lebensstilen hatte auch die Durchsetzung des Telefons, das 1970 erst in einem Fünftel, 1980 bereits in 86 und 1990 in 98 Prozent der Haushalte vorhanden war.

Nach Erhebungen des EMNID-Instituts vermehrte sich das Freizeitbudget der Bundesbürger von 1969 bis 1982 um etwa ein Viertel. Neben dem häuslichen Medienkonsum profitierte davon vor allem der Sport. Die Mitgliederzahl des Deutschen Sportbundes (DSB) verdoppelte sich von circa zehn Millionen Mitgliedern 1970 auf etwa 20 Millionen Mitglieder 1987. Zudem sind vielfältige unorganisierte Sportaktivitäten einzubeziehen, etwa das Ende der achtziger Jahre allmählich populär werdende Jogging und andere Betätigungen, die zu einer sich ausbreitenden Fitness-Welle gehörten. Eine enorme Expansion hatte auch der Urlaubstourismus zu verzeichnen, und dies trotz der in den achtziger Jahren stagnierenden Realeinkommen. 1987 machten zwei Drittel aller Bundesbürger eine Urlaubsreise, und wiederum mehr als zwei Drittel davon fuhren ins Ausland.

Neue Haushaltsformen und Geschlechterverhältnisse

Bei einer insgesamt stagnierenden Bevölkerungszahl stieg die Zahl der privaten Haushalte beträchtlich, von 22 (1970) auf 28,2 Millionen (1990) – und im gleichen Zeitraum der Anteil der Ein-Personen-Haushalte von einem Viertel auf mehr als ein Drittel. In München betrug der Anteil der Single-Haushalte 1988 40 Prozent.

Solche Kennziffern deuten den statistischen Hintergrund für einen starken Schub zur Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen an, wie er sich besonders im sozialen Geltungsverlust des traditionellen Ehemodells ausdrückte.

Das Nichtheiraten wurde zunehmend zu einer selbstverständlichen Alternative. Zugleich stiegen Heiratsalter und Scheidungshäufigkeit an. Demgegenüber erhöhte sich die Zahl so genannter nicht ehelicher Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik bzw. den alten Bundesländern besonders in der Gruppe der 18- bis 35-jährigen Männer und Frauen von circa 82000 (1972) auf 1376000 (1993), aber im gleichen Zeitraum auch bei den 35- bis 55-Jährigen von 72000 auf 634000. Das nicht eheliche Zusammenleben wurde innerhalb von nur zwei Jahrzehnten vor allem zur mehrheitlich gewählten biographischen Erprobungsphase für eine spätere Ehe.

Frauenbewegung

Mit dieser Entwicklung ging ein steigendes Selbstbewusstsein von Frauen einher. Die siebziger Jahre waren die wohl entscheidende Dekade weiblicher Emanzipation in der Geschichte der Bundesrepublik, deren Avantgarde eine "neue Frauenbewegung" bildete. Mit großer Heftigkeit wurde in den Medien die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Verfügung über den weiblichen Körper (§ 218 StGB) kritisiert. Zuvor private Themen wurden in das Zentrum der politischen Frauenbewegung gerückt.

Die in der Ehe und anderen Beziehungen von Männern ausgeübte Gewalt führte zur Gründung von "Frauenhäusern" (das erste wurde im November 1976 in West-Berlin eingerichtet, 120 waren es in der Bundesrepublik 1982). Notrufe und Selbsthilfegruppen waren weitere Zufluchtsmöglichkeiten. Seit dem letzten Drittel der siebziger Jahre festigte sich dann eine feministische Gegenkultur mit eigenen Presseorganen ("Courage" seit 1976, "Emma" seit 1977), Treffpunkten und Diskussionsthemen. In Hamburg wurde 1979 die erste staatliche Gleichstellungsstelle auf Länderebene in der Bundesrepublik eingerichtet, der bald zahlreiche weitere in anderen Bundesländern, in Kommunen und schließlich auf Bundesebene folgten; 1988 beschloss die SPD auf ihrem Parteitag in Münster, nachdem dies bei den Grünen schon länger praktiziert wurde, eine "Frauenquote".

Als ein Erfolg der Frauenbewegung konnten wichtige Gesetzesveränderungen angesehen werden. 1976 wurde das Scheidungsrecht grundlegend reformiert. Seither gilt nicht mehr das Schuld-, sondern das Zerrüttungsprinzip, mit dem die Ehe auch gegen den Widerstand einer Seite nach einer Frist geschieden werden kann. Außerdem wurden nun Frauen, die Kinder betreuten, wirtschaftlich erheblich besser gestellt. 1977 folgten Verbesserungen für Frauen im Familienrecht, indem die Verpflichtung der Ehefrau zur Hausarbeit als Norm abgeschafft wurde. Auch im Namensrecht wurde die Gleichberechtigung eingeführt; erst Anfang der neunziger Jahre wurde allerdings auch der Zwang zu einem gemeinsamen Familiennamen aufgehoben.

Während die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter seit den siebziger Jahren erhebliche Fortschritte machte, verringerten sich die ökonomischen Unterschiede nur langsam. 1970 betrug der Durchschnittslohn von weiblichen Angestellten und Arbeiterinnen in der Industrie 60 Prozent des Durchschnittslohns ihrer dort beschäftigten männlichen Kollegen, 1990 lag dieser Wert bei 65 Prozent. Diese Diskrepanz spiegelte auch in anderen Berufsfeldern wider, dass Frauen nur langsam in höhere Positionen aufrückten.

Die skizzierten neuen Tendenzen in den Geschlechterverhältnissen und die zunehmende Zahl von Alleinlebenden sollten im Übrigen nicht die fortbestehenden sozialen Kontinuitäten überdecken. Die familiären Verbindungen sind nicht verschwunden, sondern haben sich verändert. Soziale Netzwerke werden nach wie vor in starkem Maße vom Verwandtschaftssystem bestimmt. So hatten zwei Drittel aller Bundesbürger Mitte der achtziger Jahre tägliche oder mindestens wöchentliche gegenseitige Besuchskontakte zu nahen Verwandten.

Jugend

Die siebziger Jahre waren von einer weiteren Ausdifferenzierung jugendkultureller Szenen bestimmt. Je nach öffentlicher Konjunktur standen dabei unterschiedliche Aspekte im Vordergrund des Interesses. Breite Diskussionen gab es in jenem Jahrzehnt über die Herausbildung eines "Neuen Sozialisationstypus", der als narzisstisch, hedonistisch und politisch desinteressiert gezeichnet wurde. In den achtziger Jahren wurden in den Medien sehr verschiedene Ansichten über "die" Jugend kolportiert und jeweils mit Meinungsumfragen belegt. Das Spektrum reichte von der "Null-Bock-Generation", die sich nichts von der Zukunft erwartete und allein die Gegenwart genießen wollte, bis zu einer optimistisch das Leben meisternden Jugend, die vor allem an beruflichem Fortkommen und familiärem Glück interessiert sei. Solche divergenten Bilder zeigen nur, dass es immer weniger gelingt, die zunehmend fragmentierte und pluralisierte Jugendszene – etwa von aktiven Sportlern über naturwissenschaftlich Interessierte bis zu Dauermedienkonsumenten und "Punks" oder "Skins" – auf griffige Formeln zu bringen.

Hinsichtlich der politischen Jugendbewegung stand am Ende der siebziger Jahre die Rebellion im Blickpunkt. Sie drückte sich im so genannten Häuserkampf, der Besetzung von leer stehenden Häusern und anschließenden Auseinandersetzungen mit der Polizei, und in der Forderung nach selbstverwalteten Jugendzentren aus, die in etlichen Großstädten zu großen Demonstrationen und sogar Straßenkämpfen Anlass gab.

In den achtziger Jahren zeigten sich politisch engagierte Jugendliche vor allem im Umfeld der "Bürgerinitiativen" für Belange des Umweltschutzes und bei den großen Friedensdemonstrationen. Rechtsextreme Strömungen spielten hingegen eine marginale Rolle.

Globale Charakterisierungen und Hervorhebungen von Minderheitsphänomenen sind allerdings vor dem Hintergrund der sozialen Situation breiter Schichten der Jugend zu sehen, für die in den siebziger und achtziger Jahren zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnend waren. Auf der einen Seite wuchs der durchschnittliche Bildungsgrad der Jugendlichen, auf der anderen wurde die bald überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit seit der Mitte der siebziger Jahre (1975: 116000; Winter 1982/83: circa 200000; Winter 1987/88: circa 480000) trotz staatlicher Sonderprogramme zur Beschäftigung Jugendlicher zum strukturellen Dauerproblem.

Bildungsexpansion

Die siebziger Jahre waren das entscheidende Jahrzehnt der Bildungsexpansion in der Bundesrepublik, die zuvor und danach langsamer verlief. Dies zeigt als wichtige Kennziffer die Verteilung der Schülerinnen und Schüler im dreigliedrigen System. Während 1970 noch mehr als die Hälfte (53 Prozent) derjenigen, die die 7. Klasse besuchten, sich auf der Hauptschule befanden, waren es 1980 noch 38 und 1989 mit 32 Prozent weniger als ein Drittel. Gleichzeitig war der Anteil an Gymnasiastinnen und Gymnasiasten von 22 auf 31 Prozent gestiegen, derjenigen auf der Realschule von 20 auf 27 und derjenigen auf den erst Anfang der siebziger Jahre in einigen Bundesländern eingerichteten und anfänglich heftig umstrittenen Gesamtschulen auf sechs Prozent. Die Zahl der Studierenden an den Hochschulen der Bundesrepublik hatte 1980/81 erstmals die Millionengrenze überschritten, und entgegen anders lautender Prognosen der Bildungsexperten stieg sie bis 1988/89 weiter auf über 1,5 Millionen.

Die Chancengleichheit hinsichtlich der sozialen Erreichbarkeit von Bildung, eine in den sechziger Jahren vehement erhobene Forderung, konnte nach anfänglichen Erfolgen nur in geringem Maße weiter verbessert werden. Von den Studierenden an Wissenschaftlichen Hochschulen stammten 1966/67 sieben Prozent aus Arbeiterhaushalten, 1979 wie auch 1988 waren es jeweils 15 Prozent.

Deutlicher veränderten sich im Verlauf der Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre die Voraussetzungen für die Lebensplanung weiblicher Jugendlicher. Der Anteil der Abiturientinnen, der Ende der sechziger Jahre noch bei circa 40 Prozent gelegen hatte, stieg bis Mitte der achtziger Jahre auf über 50 Prozent, ebenso der Anteil weiblicher Studierender an Universitäten von 35 Prozent (1970) auf 49 Prozent (1989).

Aufgrund der Prioritätensetzungen öffentlicher Haushalte blieb die materielle und personelle Ausstattung der Bildungseinrichtungen hinter den Erfordernissen durch die Bildungsexpansion seit der Mitte der siebziger Jahre zurück – ein Anlass für periodisch wiederkehrende Proteste an Schulen und Hochschulen, die sich in den achtziger Jahren steigerten und im bisher größten Streik der Studierenden im Wintersemester 1988/89 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Zugleich dämpfte die Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen die Bildungseuphorie. 1975 gab es 2,8 Prozent arbeitslose Akademiker (bei einer allgemeinen Arbeitslosenquote von 4,7 Prozent), 1986 waren es 5,1 Prozent (gegenüber neun Prozent).

Medienrevolution

In den siebziger und achtziger Jahren hatte sich die Zahl der angemeldeten Radioapparate und Fernsehgeräte von 19 bzw. 14 (1970) auf 27 bzw. 24 Millionen (1990) beträchtlich erhöht. Die flächendeckende Versorgung mit den elektronischen Massenmedien war damit erreicht, und der Medienkonsum (von Hörfunk und Fernsehen) in der Freizeit stieg gleichzeitig von etwa zwei auf drei Stunden im Tagesdurchschnitt an.

Während die quantitative Entwicklung der massenmedialen Versorgung und des Publikumsverhaltens in allgemeine Trends schon der Zwischenkriegszeit eingebettet werden können, vollzog sich Anfang der achtziger Jahre eine folgenschwere technische und rechtlich-institutionelle Weiterentwicklung im Bereich der elektronischen Medien. Das Jahr 1983 war das letzte Jahr ohne private Rundfunk- und Fernsehanstalten. Helmut Schmidt, der in seinem vom liberalen Koalitionspartner mitgetragenen Bericht zur Lage der Nation am 17. Mai 1979 noch ausgeführt hatte, die privaten Rundfunkpläne könnten "die Substanz unseres demokratischen Lebens angreifen", stand deshalb auch lokalen Pilotprojekten zur Verkabelung (mit privater Beteiligung) ablehnend gegenüber. Die Skepsis gegenüber privaten Medien speiste sich nicht zuletzt aus Prognosen eines befürchteten "Knowledge gap", der zunehmenden Aufspaltung der Gesellschaft in eine kleine, politisch und kulturell gut informierte Schicht und eine Masse von zunehmend weniger informierten kritiklosen Unterhaltungsmedienkonsumenten.

Die Blockade des Ausbaus moderner Kommunikationstechnologien wurde erst von der Regierung Kohl beendet. Sie ging davon aus, dass die neue Technik, die große gesellschaftliche Chancen biete, nicht mehr "rückholbar" sein würde und sein sollte, und stellte in den Haushalten beträchtliche Mittel für die Verkabelung bereit. Im Dezember 1982 waren 600000 Haushalte an das Kabelnetz angeschlossen, drei Jahre später bereits 4,7 Millionen. Ähnliche Entwicklungen ließen sich auch in den anderen westeuropäischen Ländern beobachten.

Privater Rundfunk

Seit Anfang 1984 gab es kein öffentlich-rechtliches Rundfunkmonopol mehr, sondern ein so genanntes duales System öffentlich-rechtlicher und privater Anbieter, deren Kapital von großen Medienkonzernen kontrolliert wird. Die größten Senderfamilien bilden seither Bertelsmann (unter anderem bei RTLplus) sowie die Kirch-Gruppe und der Axel Springer Verlag (unter anderem bei SAT 1).

Im gleichen Jahr vollzog die SPD eine medienpolitische Wende. Widerstände gegen das duale System wurden aufgegeben, weil die Entwicklung nun auch von ihr als unumkehrbar bezeichnet wurde. Auch die Kirchen und – zuletzt – die Gewerkschaften wollten sich den neuen Gegebenheiten nicht mehr länger verschließen. Die medienpolitische Wende der Opposition erleichterte im Folgenden auch die rechtliche Regelung der Ausnutzung von Satelliten für die Übertragung von Fernsehprogrammen, über die seit 1982 auf nationaler und europäischer Ebene verhandelt wurde. 1986 begann dann die Ausstrahlung von privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen durch Satelliten, die sich seit dem Ende der achtziger Jahre in vielen Regionen als wichtigste Empfangsmöglichkeit erwies.

Ebenfalls 1986 nahmen die ersten privaten Hörfunksender ihren Betrieb auf, nachdem die rechtlichen Voraussetzungen durch Landesmediengesetze und die technischen Möglichkeiten durch die Erschließung des UKW-Frequenzbereichs von 100 bis 108 Megahertz geschaffen worden waren. Rasch erweiterte sich das Angebot für das Publikum von 44 (1987) auf 180 Programme (1991) bzw. auf jeweils zehn bis 15 Programme in UKW-Qualität, die lokal ohne Kabelanschluss zu empfangen waren. Dabei überwogen so genannte "Formate" mit leichter Unterhaltungsmusik, die sich an altersmäßig unterschiedliche Zielgruppen wandten, um ein gutes Umfeld für kommerzielle Werbung zu schaffen. Das Radio wurde damit noch stärker zum Begleit- oder Nebenmedium, etwa als Hintergrundkulisse für andere Beschäftigungen in der Freizeit, beim Autofahren oder am Arbeitsplatz.

Hoffnungen vor allem der CDU/CSU, durch die Förderung des privaten Hörfunks und Fernsehens eine positivere Berichterstattung über die Regierung zu erreichen als dies bisher durch die schon lange misstrauisch betrachteten öffentlich-rechtlichen Anstalten geschehen war, erfüllten sich allerdings nicht, zumal deren zentralen Nachrichtensendungen, denen vom Publikum eine hohe Informationsautorität zugemessen wurde, von den privaten Anbietern zumindest in den ersten Jahren keine Konkurrenz entgegengesetzt werden konnte.

Ausweitung der Unterhaltung

Der wichtigste Einfluss der neuen Fernsehanstalten bestand dagegen in der Erhöhung des Anteils an Unterhaltung jeder Art, vor allem mit häufig aus den USA importierten zahllosen Kriminal-, Familien-, Arzt- und Jugend-Serien und so genannten "Talkshows", die jeweils von kommerzieller Werbung unterbrochen waren. Nach der Saison 1988/89 verloren ARD und ZDF die Rechte zur Übertragung der Spiele der Bundesliga an SAT 1. Dagegen gab es bei den privaten Anbietern nur niedrige Anteile politisch informierender, kultureller und bildender Programme. Das dieser Tendenz unterliegende Erfolgsrezept, mit "Brutalisierung" und "Sexualisierung" der Inhalte die Zuschauerquoten gegenüber den öffentlich-rechtlichen Anstalten zu erhöhen, rief heftige Kritik etwa von Seiten der Kirchen hervor. Es wurde auf den Widerspruch verwiesen, unter dem Banner der geistig-moralischen Erneuerung einer problematischen massenkulturellen Welle die Schleusen geöffnet zu haben. Nicht selten wurde allerdings auch darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der privaten Medien keine Überraschung darstellen könne, weil sie schon lange vor deren Zulassung aufgrund der Erfahrungen in anderen Ländern vorausgesagt worden war.

Die Programmentwicklung der privaten Anbieter hatte nicht geringe Auswirkungen auf die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die mit Anpassungstendenzen auf die Konkurrenz im Kampf um die Zuschauerquoten reagierten, vor allem mit zunehmender Serialisierung in den Vorabendprogrammen. Seit dem 8. Dezember 1985 läuft die "Lindenstraße" als erste "Endlos-Serie" in Deutschland, aber auch die aus den USA importierten Serien "Dallas" (ARD) und "Denver" (ZDF) erwiesen sich als sehr erfolgreich. Allerdings behaupteten Informationssendungen bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten mit einem Anteil von circa 40 Prozent seit den achtziger Jahren einen erheblich höheren Stellenwert als bei den privaten Anbietern.

Zudem ist bei der Betrachtung der elektronischen Medien einzubeziehen, dass sie in ein massenmediales Ensemble eingebettet sind, zu dem nach wie vor die Printmedien gehören. Das Lesen von Presseerzeugnissen aller Art ging durch die Erweiterung des Angebots elektronischer Medien nicht zurück, vor allem die Zeitungslektüre zählte auch in den achtziger Jahren immer noch zum selbstverständlichen Tagesablauf der Bevölkerungsmehrheit.

Tendenzen des Wertewandels

Zeitgenössische demoskopische Daten verdeutlichen die durch die Ölkrisen und die Entstehung einer neuen strukturellen Arbeitslosigkeit markierte Zäsur, die in der Medienöffentlichkeit unter Stichworten wie "Ende" oder zumindest "Krise der Arbeitsgesellschaft" (Ralf Dahrendorf) und in ökologischen Krisenszenarien thematisiert wurde. In der Illustrierten "Stern" wurde im Dezember 1978 eine Reihe von repräsentativen Erhebungen vorgestellt, die belegten, dass der Anteil derjenigen, die an den "Fortschritt" glaubten, sich von 1972 bis 1978 auf 34 Prozent halbiert hatte. Zwei Drittel meinten gleichzeitig, das Leben werde für die Menschen in der Zukunft immer schwerer werden. Das neue ökologische Bewusstsein zeigte sich darin, dass nun, am Ende der siebziger Jahre, über zwei Drittel der Bevölkerung sich generell gegen die ein Jahrzehnt zuvor noch völlig unumstrittene Kernenergie oder zumindest gegen den Bau neuer Atomkraftwerke aussprachen.

Der Soziologe Ulrich Beck prägte Mitte der achtziger Jahre den Begriff der "Risikogesellschaft". Nicht mehr die materielle soziale Unsicherheit, sondern die wachsenden Risiken infolge der Ambivalenz technischen Fortschritts sei das alle Menschen gleich betreffende Hauptproblem der Gegenwart. Zu den Folgen des technischen Fortschritts zählen Beck zufolge allerdings nicht nur die vielfältigen gesundheitlichen Gefahren, sondern auch die vom Arbeitsmarkt erzwungene "Flexibilisierung", zunehmende Brüche in den Erwerbsbiographien und allgemein die Erosion von Sozialstrukturen. Zusammengefasst wurden solche Tendenzen im Begriff der "Individualisierung", und der "Single" gilt als Signatur einer neuen Stufe der Moderne.

Während Beck mit dem Begriff der "Risikogesellschaft" den Zusammenhang von volkwirtschaftlichen und sozialstrukturellen Entwicklungen mit der neuen – massenmedial vermittelten – ökologischen Sensibilität thematisierte, wurde kurz darauf von dem Soziologen Gerhard Schulze ein weiterer Begriff zur Charakterisierung der Gegenwart vorgeschlagen: die "Erlebnisgesellschaft". Nicht mehr das materielle Überleben, sondern das massenkulturelle Erleben präge demnach den Horizont der Menschen. Und dieses Erleben werde in einem immer mehr verfeinerten Konsum gesucht.

Solche Versuche, neue gesellschaftliche Trends auf einen einzigen begrifflichen Nenner zu bringen, müssen notwendig defizitär bleiben. Vor allem werden weiter bestehende Muster etwa des Arbeitslebens oder des Wohnens und der Freizeit weitgehend ausgeblendet, ebenso wie die erwähnten Tendenzen sozialer Ungleichheit und "neuer Armut". Aber der Begriff der "Erlebnisgesellschaft" beleuchtet doch treffend die qualitativ gestiegenen Möglichkeiten des Konsums – nicht zuletzt des Medienkonsums – und damit einhergehende Veränderungen von Mentalitäten und Werthaltungen. Auch die in den siebziger und achtziger Jahren deutlich ansteigende Bedeutung kommerzieller Werbung liefert dafür Indizien. Die Brutto-Werbeumsätze in den verschiedenen Medien beliefen sich 1973 noch auf etwa fünf Milliarden DM – bis 1987 hatten sie sich auf 33,4 Milliarden DM gesteigert.

Verschiedene soziologische Untersuchungen zeigen, dass die fraglose Akzeptanz traditioneller Normen – Wertschätzung von Arbeit, Pflichten, Disziplin und Leistung – seit dem Ende der sechziger Jahre immer stärker hinter dem Streben nach persönlicher Freiheit und Selbstentfaltung zurücktrat. Demoskopisch zu registrieren waren wachsende Ansprüche an den Staat, soziale Sicherheit und Sicherheit vor ökologischen Risiken zu gewährleisten. Hinzu kam ein nichtautoritäres Verständnis der Erziehung – zunehmend wurde die Einstellung vertreten, dass Kinder nicht repressiv zu behandeln, sondern in ihrer Selbstentfaltung zu fördern seien; konstatiert wurde außerdem eine wachsende Sensibilität bei der Beobachtung der Geschlechterverhältnisse. Zum einen wurde, im Einklang mit den Tendenzen etwa im Bildungswesen (vgl. Seite 36f.), die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen infrage gestellt, zum anderen Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Orientierungen gefordert.

QuellentextNetzwerk-Selbsthilfe alternativer Projekte

Jenseits von altem und alternativem Parteiendünkel sind in der Bundesrepublik mittlerweile einige Hunderttausend Menschen dabei, in fast allen Lebens- und Arbeitsbereichen praktische Alternativen zu entwickeln und zu leben. Was sie treibt, ist teils die Lust auf eine konkrete Utopie, teils der Mangel, der erfinderisch und neugierig macht, sich aus eingefahrenen Bahnen des Lebens und der Gängelung durch Sozialverwaltungen zu lösen und das zu tun, wovon andere nur träumen.

Entstanden ist dabei "ein Sumpf, in dem es brodelt": Zukunftsweisende Ideen und Projekte, erfolgversprechende Aus- und lehrreiche Zusammenbrüche, persönliche Erfahrungs- und kollektive Entwicklungsprozesse, kleine und große Experimente und systemsprengende Phantasien. [...] Ein weit verzweigtes Netz von Gruppen ist entstanden, die eine politische Kultur der Unruhe und Widerspenstigkeit, von schwer integrierbarem Bewusstsein und fröhlicher bis konstruktiver Staatsverdrossenheit pflegen. [...]

So offensiv widersprüchlich formuliert stand es [...] in einer der vielen Selbstdarstellungen von einem der über 30 in der Bundesrepublik Deutschland und im benachbarten Ausland bestehenden Netzwerke. [...]

Das Spektrum der Aktivitäten ist vielfältig und bunt wie das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich das abspielt, was gemeinhin als "alternative Ökonomie" bezeichnet wird. In Anlehnung an Joseph Huber lassen sich die von Netzwerk geförderten Projekte wie folgt näher beschreiben:

1. Professionelle Projekte (Betriebe in Selbstverwaltung)

Sie renovieren Häuser mit biologischen Baustoffen, verkaufen Bücher, betreiben vegetarische Restaurants, drucken Bücher und Plakate oder gehen dem Gewerbe von Dach- oder Rohrreinigern nach. Für die Mitarbeiter in den alternativ-ökonomischen Betrieben, wie sie auch genannt werden, hängt die gesamte berufliche und wirtschaftliche Existenz am Betrieb. [...]

2. Duale Projekte (Sozio-kulturelle Initiativen)

Der Unterschied zu den selbstverwalteten Betrieben besteht darin, dass die Mitglieder von dualen Projekten wirtschaftlich nicht oder nur zum Teil abhängig sind. Ein Großteil der Projekte im sozio-kulturellen Bereich wird und will ohne staatliche (Teil-)Subventionen nicht arbeiten können. Die Folge wäre nämlich eine Ausgrenzung gegenüber sozialen Gruppen mit geringen Einkommen. Typisch sind Food-Coops, Kulturzeitungen, Verlage, Selbsthilfegruppen, Kinderläden, Kulturläden, Ausländerinitiativen, in denen die Mitarbeiter durch den (Ehe-)

Partner, Umlagen, Spenden oder staatliche Transfereinkommen finanziert werden. Manchmal gelingt es auch, im Rahmen einer von der Bundesanstalt für Arbeit finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) ursprünglich unbezahlte Arbeit zu entlohnen. Duale Projekte können im Falle einer Förderung einen Zuschuss vom Netzwerk erwarten, da ihnen eine Rückzahlung in der Regel nicht möglich sein wird.

3. Politische Projekte

Bürgerinitiativen, Umweltgruppen, Anti-AKW-Gruppen, Komitees gegen Volkszählung oder Initiativen wie "Bürger beobachten die Polizei" können sowohl professionell als auch im dualen Projektsektor tätig sein. Entsprechend fällt die Förderung beim Netzwerk entweder als Zuschuss oder Darlehen aus.

Neben der finanziellen Unterstützung geben die Beratungsgruppen im Netzwerk Hilfestellung bei der Gründung von Projekten. Sie informieren über die projektgerechte Rechtsform, wissen über die Anforderungen von Finanzämtern Bescheid; Gewerbeaufsicht und Industrie- und Handelskammern sind ihnen nicht fremd. Sie zeigen ferner auch konventionelle Wege der Finanzierung auf und bieten Kurse in Betriebsführung, Buchhaltung und Marketing an. [...]

Mit all den Aktivitäten und Zuständigkeiten ist Netzwerk zwar immer noch verknüpfendes Dach für die Betriebe- und Projekteszene, jedoch zugleich ein Projekt mit Eigenleben. Auch wenn viele Aktivisten im und um Netzwerk-Institutionen gegenüber eine skeptische Einstellung haben, so ist Netzwerk mit den Jahren eine Institution geworden, wenn auch eine alternative, die gleichermaßen ins Kreuzfeuer der Kritik von Förderern und Nutznießern gerät. [...]

Die erste Generation von Projektegründern bis Ende der siebziger Jahre war überwiegend politisch motiviert. Im Hier und Jetzt sollten durch praktische Beispiele Alternativen gelebt werden. Angestellte, Beamte und Arbeiter kündigten fremdbestimmte Lohnarbeit in Fabrik, Büro und Verwaltung auf oder setzten sich einer abhängigen Beschäftigung erst gar nicht aus, sondern gaben ihre bürgerlichen Berufe/Existenzen auf und wagten, wenn auch experimentell, solidarische, ganzheitliche Arbeits- und Lebensformen. Das Spektrum war [...] vielfältig und reichte vom Bio-Bauernhof über den politischen Buchladen bis zum Elektroniker-Kollektiv, das Sonnenkollektoren entwickelte. [...]

Jürgen Sosna, "Netzwerk-Selbsthilfe: Eine Idee koordinierender Projektarbeit verändert sich", in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1987, S. 204 ff.

Inwieweit die genannten Trends des "Wertewandels" einen inneren Zusammenhang haben, ist bisher nicht endgültig geklärt, ebenso wenig wie ihre Verlängerung über die siebziger und achtziger Jahre hinaus. So wird in der Soziologie etwa darüber diskutiert, ob sich nicht in den neunziger Jahren bereits wieder eine Hinwendung zu traditionellen Werten beobachten lasse, etwa hinsichtlich erneuter Hochschätzung der Familie gerade bei Jugendlichen.

Als Indiz für die Ablösung traditioneller Pflichtwerte ist auch die Entwicklung der Kirchlichkeit anzusehen. Am Ende der "alten" Bundesrepublik (1988) waren zwar noch über 90 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Aber in einem kurzen Zeitraum von nur fünf Jahren (1968–1973) waren die Kirchenbesucherzahlen sprunghaft um etwa ein Drittel gesunken, während sich die Kirchenaustritte vervielfacht hatten. Zwischen 1972 und 1982 verließen circa 1,5 Millionen Protestanten ihre Kirche, bei den Katholiken etwa halb so viele Mitglieder. Seither sinkt der Anteil regelmäßiger Besucher von Gottesdiensten (1982 bei den Katholiken circa 32 Prozent, bei den Protestanten circa sechs Prozent) nur noch geringfügig, während der Austritt aus den Kirchen konjunkturellen Wellenbewegungen unterlag.

Insgesamt ist zu beobachten, dass die Kirchen weiter als rituelle Begleitung besonderer Lebensabschnitte (wie etwa Taufe, Kommunion/Konfirmation, Beerdigung, seltener Hochzeit) eine Rolle spielen, während sich die religiösen Überzeugungen zunehmend privatisieren. Von kirchlichen Glaubensangeboten wurde jeweils nur partiell Gebrauch gemacht.

Im Zusammenhang damit lässt sich eine Zunahme von freikirchlichen Gruppierungen und okkulten Sekten aller Art beobachten, ebenso wie ein gesteigertes Interesse am Buddhismus (die "Buddhistische Religionsgemeinschaft Deutschlands" wur- de 1985 gegründet und zählte Anfang der neunziger Jahre 60000 Mitglieder). Die durch die türkische Bevölkerung bedingte Präsenz des Islam in der Bundesrepublik strahlt dagegen kaum auf die deutsche Bevölkerung aus.

Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit

Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit hatte sich bereits in den sechziger Jahren beträchtlich intensiviert. Die große Aufmerksamkeit für den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und für den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965, die Kritik an der Tätigkeit von ehemaligen Nationalsozialisten in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und an den Universitäten war ein Thema der jugendlichen Protestbewegung gewesen und hatte hohe Medienaufmerksamkeit erlangt. Allerdings hatte es in der akademischen Szene Ende der sechziger Jahre eine zunehmende Tendenz gegeben, nicht mehr über das "Dritte Reich", sondern allgemein über Faschismus zu sprechen und diesen sehr abstrakt als diktatorisches System im Interesse des Kapitals aufzufassen.

In den frühen siebziger Jahren wandte sich das öffentliche Interesse demgegenüber wieder stärker den personellen Trägern des NS-Regimes und allgemein subjektiven Faktoren zu. So gab es eine regelrechte "Hitler-Welle", die zugleich anzeigte, dass nun endgültig die Kulturindustrie sich des Themas der NS-Vergangenheit zu unterhaltenden Zwecken angenommen hatte. Seit März 1974 wurde etwa mit einer hohen Auflage die Zeitschrift "Das Dritte Reich" im Bahnhofsbuchhandel angeboten. Die Verfilmung der Hitler-Biographie von Joachim C. Fest (1973) markierte einen visuellen Höhepunkt.

Eine weitere Filmproduktion wird bisweilen als Zäsur für den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik genannt – die 1979 erstmals von den Dritten Programmen der ARD ausgestrahlte US-Serie "Holocaust" mit Einschaltquoten von über 30 Prozent. Zum ersten Mal wurde danach die Vernichtung der europäischen Juden als zentrales Charakteristikum des "Dritten Reiches" in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert.

Die massenmediale Thematisierung des "Dritten Reiches" ist nicht schon mit historischer Aufklärung zu verwechseln, schuf aber ein öffentliches Klima, in dem in den achtziger Jahren die Diskussion um das Verhalten der deutschen Gesellschaft, die Zustimmung professioneller Eliten zum Nationalsozialismus, auf breiter publizistischer Basis geführt wurde. Juristen, Mediziner, Soziologen, Germanisten und Politologen untersuchten die Rolle ihrer Berufsgruppen in der Zeit des NS-Regimes. Die meisten der dabei genannten Personen lebten mittlerweile nicht mehr oder hochbetagt im Ruhestand. Einer der letzten spektakulären Fälle, der eine aktive Persönlichkeit des politischen Lebens betraf, war der durch die öffentliche Kritik erzwungene Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger (1978), der als Marinerichter noch nach der deutschen Kapitulation Todesurteile unterzeichnet hatte und deshalb zumindest als moralisch belastet galt.

Der genauere Blick auf das "Dritte Reich" beschränkte sich nicht auf prominente Täter und zentrale Eliten. Im Zeichen einer Hinwendung zur Alltagsgeschichte wurde nach dem Motto "Grabe, wo Du stehst!" das lokale Geschehen während dieser Zeit entdeckt, die Verfolgung von Juden, die Bereicherung von Geschäftsleuten durch Arisierung, das Schicksal politisch Oppositioneller, die korrupte Verstrickung bürgerlicher Honoratioren in das Regime und Beispiele von Zivilcourage und Resistenz. Eine Vielzahl von "Geschichtswerkstätten" engagierte sich in dieser Erinnerungsarbeit. Es bildeten sich Initiativen zur Benennung von Straßen, Schulen und Universitäten nach Opfern und Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus, und an den Schülerwettbewerben um den Preis des Bundespräsidenten 1980/81 und 1982/83 über den "Alltag im Nationalsozialismus" nahmen fast 20000 Jugendliche teil. Anfeindungen mancherorts in der Provinz, wo die Aufdeckung der lokalen NS-Vergangenheit den kommunalen Frieden störte, trafen nun auf eine wache publizistische Öffentlichkeit.

Immerhin ergaben Erhebungen Anfang der achtziger Jahre ("Sinus-Studie" 1981), dass ungeachtet aller aufklärerischen Bemühungen ein Drittel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger zumindest latent antidemokratisch und autoritär eingestellt war. Dies führte ebenso zu besorgten Reaktionen wie das Auftreten von rechtsradikalen Jugendgruppen – denen von großen Illustrierten Raum zur Selbstdarstellung gegeben wurde.

Als stilsicher zeigte sich in diesen Jahren Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Im Vorfeld des vierzigsten Jahrestages des Kriegsendes tobte in den Feuilletons ein Streit darüber, ob das deutsche Volk am 8. Mai 1945 befreit worden sei. Schließlich, so wurde eingewandt, verbinde sich mit diesem Datum auch der Zusammenbruch des Deutschen Reiches, die Aufhebung der nationalen Einheit und neues Leid für Vertriebene, Flüchtlinge und die Menschen im sowjetisch besetzten Teil des Landes. In seiner Rede am 8. Mai 1985 betonte Weizsäcker dagegen eingangs, das Kriegsende habe zeitgenössisch sehr unterschiedliche Empfindungen auslösen müssen. Objektiv aber sei es ein "Tag der Befreiung" gewesen; und neben den traditionell geehrten Opfergruppen gedachte der Bundespräsident des "Widerstandes der Kommunisten" wie auch der "ermordeten Sinti und Roma" und der "getöteten Homosexuellen". Mit dieser Ehrung bisher ausgegrenzter und stigmatisierter Opfergruppen wurde die politische Integration der westdeutschen Gesellschaft gewissermaßen abgeschlossen. Im selben Jahr wurde auch die so genannte "Auschwitz-Lüge", das heißt die Leugnung oder Verharmlosung des NS-Völkermords, unter Strafandrohung gestellt.

Historikerstreit

Dass solche Akte aber keinen Abschluss der von politischen Gegenwartsinteressen bestimmten historischen Interpretation der NS-Vergangenheit bedeuten konnten, zeigte sich schon in dem kurz darauf entflammten so genannten Historikerstreit. Dessen Ausgangspunkt war die suggestive Frage des Historikers Ernst Nolte, ob die Nationalsozialisten "eine ,asiatische' Tat vielleicht deshalb" vollbracht hatten, "weil sie sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkliche Opfer einer ,asiatischen' Tat betrachteten", und er meinte, dass bei Voraussetzung dieser Prämisse der Archipel GULAG "ursprünglicher" sei als Auschwitz, der ",Klassenmord' der Bolschewiki (als) das logische und faktische Prius des ,Rassenmords' der Nationalsozialisten" angesehen werden müsse. Diese spekulative These, die letztlich den Holocaust als – allerdings verfehlten – bürgerlichen Angstreflex auf die kommunistische Bedrohung ausgab, rief erheblichen Protest hervor. Die nach einem Artikel von Jürgen Habermas in der Wochenzeitung "Die Zeit" über apologetische Tendenzen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung einsetzenden heftigen Debatten kreisten anfangs vor allem um die Frage der "Singularität" des Holocaust. Bald kamen aber auch andere Themen hinzu – etwa die Behauptung, der deutsche Überfall auf die Sowjetunion sei tatsächlich ein Präventivschlag gewesen. Sehr deutlich zeigte sich am Ende der achtziger Jahre, dass die Intensität der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich", obwohl es zeitlich immer weiter zurücklag, stetig zunahm.

QuellentextWeizsäcker: 8. Mai ist Tag der Befreiung

Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.

Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.

Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Es ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang. [...]

Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. [...]

Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit. [...]

Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Hass Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht. [...]

Gewiss, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.

Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass. [...] Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.

Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. [...]

Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. [...] Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. [...]

Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.

Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.

Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.

Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.

Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren.

Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass [...]. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. [...]

Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag am 8. Mai 1985, in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 52 vom 9. Mai 1985, S. 441 ff.

Kulturelle Trends

Die Entwicklung zur postindustriellen Gesellschaft, verbunden mit der weiteren Erosion traditioneller Milieus, der sozialen Individualisierung und dem einhergehenden "Wertewandel", zeitgeschichtlich konkret aber auch die mit dem Symbol der Ölkrise verbundene Veränderung des öffentlichen Großklimas – von der ökonomischen Zukunftsgewissheit zum ökologischen Krisenbewusstsein – drückten sich in den kulturellen Trends der siebziger und achtziger Jahre sinnfällig aus.

In der Stadtplanung und Architektur kam es zu einem bedeutsamen Paradigmenwechsel. Die Phase der Stadterweiterung, die zu Beginn der siebziger Jahre in groß dimensionierten Hochhaussiedlungen auf der "grünen Wiese" einen spektakulären Höhepunkt erlebt hatte, wurde im Denkmalschutzjahr 1973 in der Öffentlichkeit bereits als seelenlose Container-Architektur heftig kritisiert. Dagegen kam es zur Wiederentdeckung und Aufwertung der urbanen Qualitäten von innenstadtnahen Bezirken, von Arbeitersiedlungen des 19. Jahrhunderts ebenso wie von bürgerlichen Vierteln der Jahrhundertwende. Nicht mehr die Überwindung der historischen Stadt durch "Kahlschlagsanierung", also eine völlige Neubebauung, wie in den fünfziger und sechziger Jahren, sondern ihre behutsame Wiederherstellung wurde nun von zahlreichen Bürgerinitiativen gefordert. Einige Bundesländer erließen in den siebziger Jahren neue Denkmalschutzgesetze.

Seit dem Ende jenes Jahrzehnts entwickelte sich eine Debatte um das "postmoderne" Bauen. Die Postmoderne richtete sich vor allem gegen die gestaltungsarme zeitgenössische Architektur; abgelehnt wurde deren phantasieloser Funktionalismus – stattdessen sollte spielerisch auch mit den Elementen vergangener Stile umgegangen werden, etwa mit dem von der modernen Architektur zuvor einhellig abgelehnten "Historismus" der Jahrhundertwende. Häuser sollten wieder Zierelemente haben und Rundungen aufweisen dürfen. Vor allem an der Büroarchitektur der achtziger Jahre, aber auch an Projekten "ökologischen Bauens" lassen sich entsprechende Stilelemente entdecken.

Der Begriff der "Postmoderne" verbreitete sich über die Architekturdebatten hinaus zu einem Modewort in den kulturellen Diskursen der späten ("alten") Bundesrepublik, dessen Inhalt vielfältig schillerte und diffus blieb. Konservativ getönte Abgesänge auf die Moderne vermischten sich mit Visionen einer radikalisierten Moderne, die eben durch die bereits geschilderten gesellschaftlichen Trends der Individualisierung und Pluralisierung charakterisiert sein sollte. Ästhetische Qualitäten wurden dabei wieder über das gesellschaftspolitische Engagement gestellt. Peter Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" (1983), das sich gegen den zweckrationalen Herrschaftsanspruch der klassischen Philosophie wandte, wurde zum Kultbuch der intellektuellen Szene. Sinnliches und Übersinnliches, Spirituelles und Kulturkritisch-Ökologisches mischten sich in einer kulturellen Tendenzwende, welche unter dem Signum eines "New Age" einigen Einfluss vor allem in der Jugend gewann.

In der Literatur und anderen Bereichen der Kunst und Kultur waren die siebziger und achtziger Jahre gekennzeichnet durch ein Abflauen der fundamentalen Politisierung der späten sechziger Jahre. In der Öffentlichkeit wurde viel von "neuer Subjektivität", individuellem "Erfahrungshunger" und von der "Wiederkehr des Poetischen" gesprochen. Ein Tendenzwechsel – von Dokumentarismus und Gesellschaftskritik zu "neuer Subjektivität" – ging hier zum Teil einher mit Kritik und Skepsis angesichts einer als kalt empfundenen Rationalität und einer Aufwertung irrationaler Sichtweisen. Solche Tendenzen zeigten sich etwa in einer explizit die weibliche Subjektivität betonenden "Frauenliteratur", die Bestseller-Erfolge aufwies, oder im erfolgreichen Genre der "Fantasy"-Romane, die in Märchen- und Traumwelten führten, wie zum Beispiel John Ronald Tolkiens "Der Herr der Ringe" (1972 zum ersten Mal auf deutsch erschienen) oder Michael Endes "Unendliche Geschichte" (1979).

Allerdings pluralisierte sich der literarische Markt weiter, sodass es immer schwieriger wurde, von Tendenzen literarischer Öffentlichkeit umstandslos auf die reale Lektüre zu schließen. Diese wurde nach wie vor geprägt von einem Nebeneinander des Interesses an Klassik, moderner Klassik – 1975 wurde das Thomas-Mann-Gedenkjahr begangen – und neuer Prosa und Lyrik sehr verschiedener Inhalte und Stile. Ähnliches ließe sich für andere Bereiche der Kunst feststellen. Der größte Theater-Skandal dieses Jahrzehnts wurde durch den Versuch heraufbeschworen, in Frankfurt am Main Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" aufzuführen; Demonstrationen, die gegen antisemitische Tendenzen protestierten, verhinderten die Uraufführung.

Schwierig ist eine Aussage über Tendenzen in der Unterhaltungsmusik. Sie war nun nicht mehr – wie noch in den sechziger Jahren – abgrenzendes Markenzeichen von Jugendlichen gegen die Erwachsenenwelt. Allerdings betraf das vor allem die Oberfläche der von den elektronischen Medien verbreiteten Musik. Hier waren die aufrührerischen und psychodelischen Klänge (etwa der amerikanischen Westküste) von eingängigen Melodien (etwa Boney M. oder Abba) weitgehend verdrängt worden. "Saturday Night Fever" (1978) mit John Travolta wurde zum Kultfilm der Disco-Jugend, 1983 begann der kometenhafte Aufstieg Michael Jacksons in den Hitparaden. Neu war seit jener Zeit auch der Einsatz von Video-Clips.

Allerdings entwickelte sich neben der Tendenz zur Kommerzialisierung und immer perfekteren Performance in den siebziger Jahren auch eine spezifisch heimische Rockmusik (ein paralleles Phänomen gab es in der DDR) mit deutschen Texten, die zum Teil politischen Protest und gewisse lyrische Qualitäten vereinten (zum Beispiel Udo Lindenberg, Ton Steine Scherben). Um 1980 erlebten die Großstädte eine Blüte von Punk-Bands, die wiederum häufig – wie schon die Popmusik der sechziger Jahre – von britischen Strömungen beeinflusst waren.

Gerade in der Kulturszene intensivierte sich seit der Mitte der siebziger Jahre die deutsch-deutsche Kommunikation. Im Hamburger Schauspielhaus inszenierten die Ostberliner Regisseure Manfred Karge und Matthias Langhoff Stücke von Heinrich Kleist und Bertolt Brecht (1978), Heiner Müller in Bochum sein eigenes Stück "Der Auftrag" (1982), Alexander Lang in München Stücke von Jean Racine und Kleist (1987).

Viel gelesen wurden nach wie vor bekannte Autorinnen und Autoren aus der DDR, etwa Christa Wolf, Volker Braun oder Christoph Hein; einige der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann ebenfalls in den Westen gingen, darunter Reiner Kunze, Sarah Kirsch und Günter Kunert, hielten weiterhin Kontakt zu ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen aufrecht.

Große mediale Aufmerksamkeit erzielte 1981 die "Berliner Begegnung zur Friedensförderung", ein Treffen von west- und ostdeutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, das auf Einladung des DDR-Autors Stefan Hermlin und der Ostberliner Akademie der Künste stattfand. Über den Anlass hinaus – ein Appell zur Abrüstung angesichts der neuerlichen Blockkonfrontation – schienen hier gesamtdeutsche Bindungen auf.