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Kinder und Jugendliche zwischen Virtualität und Realität

Uwe Buermann

/ 18 Minuten zu lesen

Welche Bedeutung haben reale und virtuelle Lebensräume für die menschliche Entwicklung? Welche Chancen und Gefahren stecken in den modernen Kommunikationsmedien ? Wie kann Gefahren begegnet werden?

Einleitung

Viele Kinder, mehr noch Jugendliche, sind heute mit einem Mobiltelefon und einem Computer ausgestattet; viele verbringen täglich bis zu mehrere Stunden vor dem Bildschirm: im Internet. Da die Welt, in der wir leben, uns prägt, hat auch der Aufenthalt in den virtuellen Lebensräumen Auswirkungen auf die Menschen, die sich in ihnen bewegen. Dies gilt insbesondere für Heranwachsende. Und je jünger diese sind, umso weniger reale Lebenserfahrung besitzen sie, mit der sie die virtuellen Erfahrungen abgleichen könnten.



Viele Kinder und Jugendliche können sich ein Leben ohne Internet und Mobiltelefon nicht mehr vorstellen: Die virtuelle Welt stellt nicht nur eine Ergänzung zu ihren Erfahrungswelten dar, sondern ist längst ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Bevor ich anhand konkreter Beispiele auf Chancen und Gefahren schauen werde, möchte ich zunächst skizzieren, wann und wie die virtuellen Welten die Kinderzimmer eroberten.

Wie die virtuellen Welten zu den Kindern kamen

Der Einzug der Computertechnik in die Privathaushalte erfolgte von Anfang an über die Jugendlichen und Kinder. Ende der 1970er Jahre kamen die ersten Spielekonsolen auf den Markt, die es denjenigen, die sich diese neue Technik leisten konnten, möglich machten, am heimischen Fernseher Computerspiele zu spielen. Auch oder gerade weil die Spiele in ihrer Gestaltung und Steuerung sehr einfach waren, konnten sie viele Menschen begeistern. Das Spiel "Pong", bei dem der Spieler mit Hilfe eines Drehknopfes einen horizontalen weißen Balken auf schwarzem Grund rauf und runter bewegte und verhindern musste, dass ein quadratischer "Ball" aus dem Bildschirm flog, schaffte es 1978 sogar zu einer eigenen, von Thomas Gottschalk moderierten Fernsehshow. Dieser Umstand war nicht nur Ausdruck des Erfolges dieses Spielklassikers, sondern auch eine mehr oder weniger ungewollte Werbesendung für die Computerspiele.

Ein wesentlicher Faktor für die Begeisterung der Menschen war, dass sie nun nicht mehr nur passiv vor dem Fernseher saßen, sondern mit diesem Gerät interagieren konnten. Da es sich um Spiele handelt, deren Regeln kinderleicht waren und der Fernseher in dieser Zeit bereits ein fester Bestandteil des Familienlebens war, durften selbstverständlich auch die Kinder mit diesen Geräten hantieren. So ist es nicht verwunderlich, dass die ersten Desktop Computer, die nach dem Personal Computer (PC) von IBM 1980 auf den Markt kamen, sich auch eher an ein jugendliches Publikum wandten. Dies waren der C64 von Commodore und der AtariSt von Atari. Beide Geräte waren hauptsächlich als Spielecomputer ausgelegt; dessen ungeachtet gab es natürlich auch Anwendungsprogramme, so dass auch eine anspruchsvolle Arbeit mit ihnen möglich war.

Im Gegensatz zum AtariSt, der schon eine grafische Oberfläche besaß, setzte die Nutzung des C64 gewisse Grundkenntnisse in der Programmiersprache BASIC und ein Grundverständnis für die Funktionsweise des Computers voraus. Der Nachfolger des C64, der Amiga500, war dann ebenfalls mit einer grafischen Oberfläche ausgestattet, was den Umgang mit ihm erheblich vereinfachte.

Die Vorläufer des heutigen Internets, etwa das BTX-Angebot der deutschen Post (Bildschirmtext), waren für die meisten Anwender von geringem Interesse. Das lag nicht nur daran, dass die Steuerung mühsam und der Seitenaufbau langsam waren, sondern vor allem daran, dass es nur Textinformationen gab. Erst die Erfindung des http-Protokolls und der Programmiersprache html durch Tim Berners-Lee im Jahre 1993 führte zum Durchbruch. In Kombination mit einem entsprechenden Programm, dem so genannten Browser, war es nun möglich, die Seiten im Internet grafisch zu gestalten und Bilder und andere Dateien einzubinden.

Parallel zu dieser bahnbrechenden Erfindung wurden die Telefonnetze entsprechend ausgebaut. Auf diese Weise konnten bzw. können immer größere Datenmengen in annehmbarer Zeit über das Internet übertragen werden. Solange die Gebühren für die Nutzung des Internets minutenweise abgerechnet wurden, achtete man in vielen Familien darauf, dass die Kinder und Jugendlichen sich nicht zu lange im Internet aufhalten. Seit es die so genannten Breitbandzugänge (DSL) in Kombination mit "Flatrate"-Tarifen gibt, hat sich diese Situation grundlegend geändert.

Über einen DSL-Anschluss können mehrere Computer mit dem Internet verbunden werden, so dass es in vielen Familien nicht mehr nur einen Computer mit Internetzugang gibt, sondern jeder Computer im Haushalt Zugang zum Internet hat. Dieser steht allen Nutzern permanent zur Verfügung, und da keine zeitbezogene Abrechnung mehr erfolgt, kann zunächst auch nicht festgestellt werden, wer sich wie lange im Internet aufhält und was er dort "unternimmt". Durch diese technische Entwicklung haben seit Ende der 1990er Jahre immer mehr Kinder und Jugendlichen, einen mehr oder weniger unkontrollierten Zugang zum Internet erhalten. Hinzu kommt, dass von unterschiedlichen Seiten und damit aus unterschiedlichen Motiven Angebote im Internet geschaffen wurden, die sich speziell an Kinder und Jugendliche richten.

Die Bedeutung der Lebensräume für die Entwicklung der Kinder

Die Neurobiologie hat in den vergangenen Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht und interessante Erkenntnisse zu Tage gefördert. Viele der immer noch landläufig verbreiteten Vorstellungen sind längst überholt, und die gewonnenen Erkenntnisse haben nicht nur Bedeutung für Neurobiologen und Ärzte, sondern sollten auch pädagogische Konsequenzen nach sich ziehen. Es kann an dieser Stelle natürlich nicht darum gehen, alle Aspekte der Forschung zusammenzufassen, aber einiges muss doch hier skizzenhaft zur Darstellung kommen, weil es für unser Thema wichtig ist.

Das Gehirn ist in seiner Bildung und Entwicklung nur zu einem sehr geringen Prozentsatz durch Vererbung bestimmt, ausschlaggebend sind die Lebensbedingungen, unter denen ein Mensch heranwächst. Maßgeblich für die Entwicklung sind vor allem die Bedingungen in der Kindheit und während des Jugendalters. Bei der Geburt des Menschen sind alle Nervenzellen im Gehirn vorhanden; in den ersten drei Lebensjahren kommt es zu einem wild wuchernden Wachstum der Synapsen und deren Verknüpfungen. Eine Nervenzelle kann sich dabei mit bis zu über eintausend anderen verbinden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung werden jene Verknüpfungen durch die Bildung der so genannten Myelinschicht verstärkt, die durch äußere (Sinneswahrnehmungen) und innere (Gedanken, Gefühle) Stimulation angeregt werden. Alle jene Verknüpfungen, die nicht angeregt werden, bilden sich zurück. Dieser Prozess findet in den verschiedenen Bereichen des Gehirns zu unterschiedlichen Zeiten statt und hält in manchen Bereichen, vor allem dem vorderen Stirnlappen, bis ins Erwachsenenalter an.

Was bedeutet das für die Pädagogik? Je ganzheitlicher die Lebenserfahrungen sind, umso mehr Gehirnareale werden gleichzeitig angesprochen und umso differenzierter wird die Gehirnstruktur des Erwachsenen sein, und damit seine organische Grundlage für Intelligenz, Kreativität, Empathie, Sozialkompetenz und alle anderen Schlüsselqualifikationen. Wenn wir Erfahrungen in der realen Welt machen, handelt es sich immer um ganzheitliche Erlebnisse, da alle Sinnesbereiche im passenden Kontext angesprochen werden. Wenn wir ein Tier im Wald beobachten, haben wir nicht nur einen optischen Eindruck, sondern wir riechen und schmecken die gleiche Luft, wir erleben die gleiche Temperatur, wir hören die gleichen Geräusche, die auch das Tier wahrnimmt. Schauen wir uns dagegen einen Tierfilm an, ist dies zwangsläufig nicht gegeben. Wir sehen zwar das Tier, und wenn wir Glück haben, hören wir auch die Geräusche seiner Umgebung, aber hinzu kommen die Geräusche unserer realen Umgebung und eventuell auch noch eine musikalische Untermalung. Wir spüren die Wärme in unserem Zimmer, nehmen unseren gewohnten Geruch war. Noch deutlicher wird es in Bezug auf die Bewegung. Wenn wir auf einem Fest sind, auf dem wir uns mit verschiedenen Menschen unterhalten, befinden wir uns jeweils im gleichen Kontext mit den Personen, mit denen wir sprechen. Möchten wir uns in einer solchen Situation in Ruhe mit jemandem unterhalten, werden wir den Trubel verlassen und ein ruhiges Plätzen aufsuchen, sei es einen Nebenraum oder eine Terrasse. In jedem Fall teilen wir nicht nur die Gedanken und Gefühle miteinander, sondern auch die Sinneseindrücke der Umgebung.

Beim Chat im Internet sieht dies ganz anders aus. Der Weg vom Großraum, in dem alle durcheinander reden, ins Separée besteht aus einem getippten Befehl, es bewegen sich also nur die Finger. Das einzige, was wir beim Chat austauschen, sind Gedanken und Gefühle in Form von Schriftzeichen, unsere Erfahrungsräume und unsere Sinneswahrnehmungen aus dem wirklichen Leben spielen hier keine Rolle. Und selbst wenn eine Webcam genutzt wird, bekommen wir lediglich einen schwachen optischen Eindruck von der realen Umgebung unseres Gesprächspartners. Dieser Umstand hat verschiedene Konsequenzen, wie noch zu zeigen sein wird.

An dieser Stelle sei bereits festgehalten, dass mediale bzw. virtuelle Erfahrungen im Verhältnis zu realen Erfahrungen immer "ärmer" sind; dementsprechend werden weniger Bereiche im Gehirn stimuliert. Die Erlebnisse in der virtuellen Welt sind - anders ausgedrückt - zum großen Teil gedacht, demnach sind die hier gewonnenen Erfahrungen ihrem Wesen nach intellektuell. Dies führt zu einem wichtigen Grundgesetz der Medien: Wann immer die Medien eine Ergänzung darstellen, gehen sie mit einer Erweiterung der menschlichen Erlebnisräume und Fähigkeiten einher; wann immer sie zum Ersatz werden, führen sie zu einer Verkümmerung derselben. Dies gilt umso mehr dann, wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt. Diese Verkümmerung schlägt sich dann sogar physiologisch nieder, was sich an einer weniger differenziert ausgeprägten Gehirnstruktur zeigt.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Jugendliche, die durch reale Lebenserfahrungen einen Bezug zur räumlichen Wirklichkeit entwickelt haben, die also aus Erfahrung wissen, wie lang fünfzig Zentimeter und wie lang zwei Meter sind, können diese Erfahrungen auf die virtuellen Welten übertragen und sich dann auch in virtuellen Räumen orientieren und zurechtfinden. Kinder und Jugendliche, die vornehmlich in der virtuellen Welt groß geworden sind und keinen oder einen wesentlich geringeren Bezug zur räumlichen Wirklichkeit entwickeln konnten, haben entsprechende Probleme, sich in der realen Welt räumlich zu orientieren, was sich unter anderem in grobmotorischen Störungen niederschlagen kann.

In Kindheit und Jugend kommt es also vor allem auf eine gesunde Mischung des Erwerbs von Erfahrungen an: Die realen Erfahrungen sollten reichhaltig sein und den Anteil der virtuellen Erfahrungen deutlich übertreffen.

Chancen und Gefahren

Inwieweit die virtuellen Welten zu einer Erweiterung des persönlichen Erfahrungshorizontes beitragen können, wurde oben bereits ausgeführt. Voraussetzung dafür ist die sinnvolle, also wohldosierte Ergänzung eines gesund entwickelten Realitätsbezugs. Dies gilt nicht nur für die organische Entwicklung, sondern auch für alle im Folgenden anzusprechenden Aspekte.

Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer verhalten sich bei der Mediennutzung sehr unterschiedlich: Frauen fühlen sich vor allem durch die Kommunikationsmedien (Telefon, Handy, Chat, etc.) angesprochen, nutzen diese Möglichkeiten sehr intensiv; bei Männer sind es vor allem Computerspiele. Es lohnt sich also der Frage nachzugehen, worauf diese Verteilung zurückzuführen ist und was es ist, das in den einzelnen Medienangeboten entweder die eine oder die andere Gruppe übermäßig anspricht.

Mobiltelefon: Die modernen Kommunikationsmedien (Handy, Internet) bieten neben vielen interessanten Möglichkeiten auch jene, den Gesprächspartner im Unklaren über seinen Aufenthalt zu lassen bzw. ihn ganz bewusst zu belügen. Wer vor zwanzig Jahren jemanden anrief, wusste in der Regel einigermaßen genau, wo sich die angerufene Person befand. Seit es das Mobiltelefon gibt, ist das anders. Handy-Besitzer sind - vorausgesetzt das Gerät ist eingeschaltet - permanent erreichbar, der Anrufer weiß allerdings nicht, wo sich sein Gesprächspartner gerade befindet. Wer wachen Ohres durch die Welt geht, kann erleben, dass Menschen aller Altersgruppen, keineswegs nur Jugendliche, dies ausnutzen. Immer wieder trifft man Menschen, die ihrem Gesprächspartner Auskunft über einen Aufenthaltsort geben, an dem sie sich gar nicht befinden. Dies hat zweifellos eine negative Wirkung auf Kinder und Jugendliche.

Wenn meine Eltern unsicher waren, ob ich wirklich zu dem angegebenen Freund gegangen war, haben sie dort angerufen und entweder jemanden erreicht, der ihnen Auskunft über mich geben konnte, oder sie waren sich nun sicher, dass ich geflunkert hatte. Viele Eltern statten ihre Kinder heute aus einem verständlichen Sicherheitsbedürfnis heraus mit Mobiltelefonen aus. Sie wiegen sich damit in dem Gefühl, jederzeit Kontakt zu ihren Kindern aufnehmen und sie damit ein wenig kontrollieren zu können. Umgekehrt gehen sie davon aus, dass diese - auch oder gerade wenn sie in Gefahr geraten - sie jederzeit anrufen können. Doch diese Sicherheit ist trügerisch: Zum einen sind die Täter heute längst darauf eingestellt, dass ihre Opfer Handys haben, zum anderen können sich die Kinder durch entsprechende Falschaussagen viel einfacher der Kontrolle ihrer Eltern entziehen. Die Folge dieser Entwicklung sind solche Angebote wie "Track your kid", die es Eltern ermöglichen, wann immer sie wollen den Aufenthaltsort des Handys ihres Kindes über das Internet abzufragen. Die vermeintliche neue Freiheit führt damit allerdings - umgekehrt - in eine ganz neue Form der Überwachung und Unfreiheit.

Chat im Internet: Ein weiterer Faktor, zumindest bei textbasierten Kommunikationsmitteln - SMS, E-Mail und Chat - ist die Anonymität. Natürlich hat diese auch ihre Vorteile und kann eine echte Hilfe und Erleichterung sein: Wenn wir es mit maschinell geschriebenen Mitteilungen zu tun haben, steht allein der Inhalt im Vordergrund, und wir werden nicht durch Äußerlichkeiten, noch nicht einmal durch eine Handschrift, davon abgelenkt. Dies bietet vor allem unsicheren Menschen die Möglichkeit, selbstsicherer aufzutreten. Voraussetzung ist allerdings, dass man etwas mitteilen möchte, nicht nur mit seinen Äußerungen wahrgenommen werden will, und, dass ein echtes Interesse an dem besteht, was andere mitzuteilen haben. Ist diese Bedingung erfüllt, kann eine Begegnung in der virtuellen Welt auch auf die Realität übertragen werden.

Wer sich jedoch hinter der Anonymität versteckt, vorgibt, jemand anderes zu sein, anders auszusehen, anderes zu tun als in Wirklichkeit, der oder die verbaut sich von vornherein die Möglichkeit, die virtuellen Kontakte auch in die Wirklichkeit zu übertragen. Dies kann der Ausgangspunkt einer potentiellen Internetsucht sein: Wer sich in der realen Begegnung unsicher fühlt und in der virtuellen Begegnung mit falschen Angaben auftritt, kann vielleicht viele virtuelle Freunde gewinnen, aber die Unsicherheit, in der realen Welt Kontakte zu knüpfen, wird noch größer, die Möglichkeit in der Realität zurecht zu kommen, kann allmählich verbaut werden.

"Projektionsfalle" Chatroom: Die Netiquetten, also die ungeschriebenen Regeln korrekten Verhaltens im Internet, die auch die eigene Sicherheit betreffen, sind den allermeisten Kindern und Jugendlichen, die sich im Internet bewegen, bekannt. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass sie - insbesondere Mädchen - zu Opfern realer Verbrechen, vor allem sexuellen Missbrauchs werden. Die fassungslosen Angehörigen und Freunde können nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte. Die Kinder wussten doch, dass sie im Internet - gerade beim Chat mit Unbekannten - keine persönlichen Informationen, wie Adressen oder Telefonnummer preisgeben sollten. Es gilt daher, einen genaueren Blick auf die Art und Weise der Kommunikation im Internet und deren Dynamik zu werfen.

Es lohnt sich, einmal die Frage zu stellen, mit wem eigentlich beim Chatten wirklich kommuniziert wird. In der Regel werden die "Gesprächspartner" sehr schnell nach dem Aussehen des jeweils anderen fragen, denn jede oder jeder möchte sich von seinem gedachten Gegenüber ein Bild machen. "Ich bin 175 cm groß, hab schulterlanges blondes Haar, grüne Augen und eine sportliche Figur" - könnte die Anwort eines Mädchens lauten. Was stellt sich der oder die Lesende an Hand dieser Beschreibung vor, das Gleiche, was sich die Schreibende vorgestellt hat? Ist das überhaupt möglich? Natürlich nicht, denn diese Angaben enthalten nur einen objektiven Wert: die Körpergröße. Was heißt schon schulterlanges Haar und ist das Haar glatt, oder gelockt, hat es Strähnen, ist es natürlich blond oder gefärbt. Mit wem also wird in diesen Chats kommuniziert? Die Antwort ist ernüchternd: Bei dieser Art der Kommunikation spreche ich zu mindestens 60 Prozent mit mir selbst. Das Gegenüber dient nur als interaktive Projektionsfläche meiner eigenen Vorstellungen. Hier liegt der Grund dafür, dass gerade Mädchen beim Chatten so ungeheuer offen sind: Sie sprechen tatsächlich von Anfang an mit ihrer allerbesten Freundin, nämlich mit sich selbst, und deshalb geben sie so schnell so vieles von sich preis: alle ihre Probleme, die sie mit ihren Eltern, der Schule, realen Freunden, aber auch jene, die sie vielleicht mit ihrer körperlichen Entwicklung haben.

Wenn beim Chatten zwei Personen aufeinandertreffen, die beide in dieser "Projektionsfalle" stecken, dann ist das nicht weiter bedenklich. Sie werden sich mit sich selber und dem gedachten Gegenüber angeregt unterhalten und vielleicht auch Gewinn aus diesen Gesprächen ziehen, kann es doch hilfreich sein, Gedanken zu Themen, die einen beschäftigen, niederzuschreiben. Sollte das Gegenüber aber die Situation bewusst oder unbewusst durchschauen, die Projektion erkennen, kann das virtuelle Vertrauen mit Hilfe einfacher Tricks schnell ausgebaut und in der Folge virtuell oder sogar real missbraucht werden.

Partnersuche im Internet: Im realen Leben werden die Partner im Zustand akuten Verliebtseins idealisiert. Wenn später schrittweise die Ernüchterung eintritt, wird jede Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Bei Beziehungen, die im Chatroom entstehen, kann es dabei regelrecht zum Absturz kommen, denn hier verliebt man sich nicht in den anderen Menschen, sondern allein in die Vorstellungen, die man sich von diesem macht. Hier liegt der Grund dafür, dass die allermeisten Beziehungen, die auf diesem Wege zustande kommen, nicht lange halten - vor allem dann nicht, wenn einer oder beide bei den virtuellen Begegnungen nicht ehrlich waren. Voraussetzung dafür, dass die Chat-Beziehung sich im realen Leben bewährt, ist Aufrichtigkeit. Und das echte Interesse am Anderen muss das Bedürfnis nach Selbstdarstellung überwiegen.

Die zweifellos vorhandenen Vorteile der virtuellen Kommunikationsräume können dann genutzt und die Gefahren entsprechend minimiert werden, wenn sich die Nutzer durch persönliche Reife auszeichnen: Ein gesundes Selbstvertrauen, die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Handelns und der eigenen Ansprüche an andere Menschen sowie ein ernsthaftes Interesse am jeweiligen Gegenüber und an den diskutierten Themen müssen gegeben sein. Dann werden die Vorteile überwiegen. Wenn diese Reife nicht erreicht ist, und das gilt im Grundsatz für alle Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren und für viele auch noch darüber hinaus, überwiegen die Gefahren.

Dann kann die virtuelle Welt zur Falle werden: Hier trifft man auf Menschen, die einen rundherum bestätigen: Hier kann man sich so darstellen, wie man gerne wäre - und wird dafür geachtet und geliebt. Je weiter sich die Selbstdarstellung von der Wirklichkeit entfernt, umso schwieriger wird es, die Wirklichkeit zu akzeptieren. Die Betroffenen ziehen sich dann nicht selten immer mehr aus realen Beziehungen zurück; die selbstkreierte virtuelle Persönlichkeit wird für sie immer bedeutsamer.

Anders als in früheren Generationen, in denen es auch Stubenhocker und Tagträumer gab, vermittelt die virtuelle Welt die Illusion, man könne die eigenen Träume tatsächlich leben. Angebot wie "Second Life" und Onlinespiele wie "World of Warcraft" sind die konsequente Fortsetzung dieser Entwicklung: Hier kann man sich ein virtuelles Abbild, einen so genannten Avatar, seiner Möchtegernpersönlichkeit schaffen und mit dieser Persönlichkeit in einer virtuellen Parallelwelt leben.

Vom Lästern zum Mobbing

Vor allem Kinder und Jugendliche vergessen immer wieder, dass es sich beim Internet um einen öffentlichen Raum handelt. Es ist nicht schwer zu verstehen, wie es zu dieser Fehleinschätzung kommt: Viele Kinder und Jugendlichen haben einen eigenen Computer mit Internetzugang im eigenen Zimmer: Wenn sie sich ins Internet einloggen, befinden sie sich in ihrer gewohnten Umgebung. Alles, was auf dem Bildschirm erscheint, bekommt dadurch einen privaten Charakter, gerade so wie ein Buch oder ein Brief, das oder den man in seinem Zimmer liest oder schreibt. Diese Ausgangssituation erklärt auch das oftmals fehlende Unrechtsbewusstsein in Bezug auf illegale Downloads oder andere illegale Aktivitäten im Internet. Das Internet ist ein internationales Medium, aber die Frage danach, was erlaubt ist und was nicht, richtet sich nach der nationalen Gesetzgebung. Um sich immer richtig zu verhalten, bedarf es also des Bewusstseins, dass nicht alles, was im Netz zugänglich ist, auch für mich geeignet bzw. erlaubt ist. Und letztendlich müsste jeder Nutzer genau über die nationalen Einschränkungen und Gesetze informiert sein. Schülerforen im Internet: In Schülerforen wie Externer Link: No Titel oder Externer Link: No Titel wird immer wieder gegen geltendes Recht verstoßen - mit nicht selten weit reichenden Folgen für die Betroffenen. In diesen Foren können die Schülerinnen und Schüler Profile anlegen, in denen sie sich selbst darstellen. Hinzu kommt die Möglichkeit, eine beliebige Anzahl von Bildern von sich und anderen ins Netz zu stellen. Vorrangiges Ziel ist es, auf diesem Wege andere Schüler oder Schülerinnen kennenzulernen bzw. auf sich aufmerksam zu machen. Vielfach geht dies mit einem Buhlen um Aufmerksamkeit einher. Wer daran teilnimmt, möchte, dass andere das eigene Profil anschauen und dies durch Einträge ins Gästebuch oder gesendete Nachrichten kommentieren. Neben Lob und Anerkennung stehen aber schnell auch Demütigungen, Schmähungen und Beleidigungen - mitunter der schlimmsten Art. Sätze wie "Du feige Sau", um einen der harmloseren zu zitieren, sind schnell geschrieben, auch von jenen, die so etwas im realen Gespräch nie sagen würden. Schnell werden so Kinder und Jugendliche zu Opfern.

Da Profile schnell generiert sind, werden solche auch schon mal unter dem Namen anderer Schüler oder Lehrer erstellt. Das ist meist als Scherz gedacht: Die "Täter" denken dabei nur an ihre Klassenkameraden, Freundinnen und Freunde und lassen außer Acht, dass sie diese "Scherze" weltöffentlich betreiben. Die Opfer stehen dieser Art Mobbing oft hilflos gegenüber: Es findet im virtuellen Raum statt, und damit fehlt der direkte Ansprechpartner. Manch einer weiß noch nicht einmal etwas von seiner Verunglimpfung, da er oder sie überhaupt nicht in diesen Foren vertreten ist. Das Opfer merkt lediglich, dass sich das Verhalten seiner Mitschüler oder - im Falle des Lehrpersonals - der Schüler, verändert, dass hinter seinem Rücken getuschelt wird, dass er oder sie einer kritischen Beobachtung ausgesetzt ist.

Sogfaktor der Computerspiele

Zum Schluss möchte ich noch einige Anmerkungen zu der Sogwirkung der Computerspiele machen, allen voran der Onlinerollenspiele wie etwa WOW. Vielfach geht es bei Computerspielen um Wettkampf, ein Umstand der vor allem die männlichen Nutzer anspricht. Die Auflistung der Platzierungen erfolgt ganz objektiv durch den Computer. Viel wichtiger ist aber die Erfolgsgarantie. Wenn man Spieler fragt, wie man der Beste wird, sagen sie gerne, man müsse üben. Das klingt gut, aber wie übt man am Computer? Anders als beim Üben eines Musikinstruments geht die gedankliche und habituelle Schulung hier vor allem unbewusst vonstatten. Erwachsene, welche die Spiele verstehen wollen, messen die Spielabläufe in der Regel an ihren realen Erfahrungen. Beim Lernprozess am Computer handelt es sich jedoch um eine klassische Konditionierung: Je weniger ich beim Spielen denke, je bedenkenloser ich die Vorgaben der Programme adaptiere und je länger ich auf diese Weise spiele, umso besser werde ich. Darin besteht die "soziale Komponente" der Computerspielsucht. Am deutlichsten kann man das daran sehen, dass Spieler bei so genannten LAN-Partys oder Onlinespielen erst nach mehreren Stunden, wenn sie sich eigentlich schon leicht "im Delirium" befinden und kaum noch einen zusammenhängenden Satz formulieren können, in Hochform sind: Dann haben sie die besten "Skills".

Das reale Leben funktioniert (leider?) nicht so: Wer schulische oder Probleme mit seinen Eltern hat, kann diese nicht einfach dadurch lösen, dass er länger im Klassenraum oder im Wohnzimmer neben seinen Eltern sitzen bleibt. Im realen Leben sind Leistungen immer an innere und äußere Aktivitäten gebunden. Wer sich an das Belohnungs- und Erfolgssystem von Computerspielen gewöhnt, dem fällt es zunehmend schwerer, sich den Herausforderungen des wirklichen Lebens zu stellen und selbst berechtigte Kritik zu ertragen.

Zusammenfassung

Nur wer die notwendigen Voraussetzungen besitzt, kann die Chancen, welche die die virtuellen Welten bereithalten, produktiv nutzen und seinen Erfahrungshorizont erweitern. Insbesondere Kinder, aber auch Jugendliche sind auf Grund ihrer naturgemäß fehlenden persönlichen Reife nicht in der Lage, sich gegenüber den Gefahren des Internets zu behaupten. Sie benötigen den Schutz der Eltern, Erzieher und Lehrer. Ähnlich wie beim Autofahren oder in Bezug auf Nikotin und Alkohol gibt es hier eine Sorgfaltspflicht der Erwachsenen. Computer mit Internetzugang sollten nicht in Kinder- und Jugendzimmer stehen, sondern im Verkehrsbereich des Familienlebens (Wohnzimmer, Flur oder Küche) plaziert werden. Zum einen können die Eltern das Computerverhalten ihrer Kinder so besser im Auge behalten; zum anderen wird den Kindern und Jugendlichen verdeutlicht, dass es sich im Internet um einen öffentlichen Bereich handelt.

Die beste Erziehung zur Medienkompetenz beginnt mit Medienabstinenz. Damit Kinder und Jugendliche sich in der virtuellen Welt zurechtfinden und behaupten können, gilt es, durch ganzheitliche Erlebnisse erst einmal die physischen und seelischen Grundlagen zu legen. Wichtig ist bei all dem die Verhältnismäßigkeit: Je jünger die Kinder sind, umso größer sollte der Anteil der realen im Verhältnis zu den virtuellen Erfahrungen sein. Immer mehr Grundschulkinder verbringen inzwischen einen großen Teil ihrer Freizeit mit Medien. Eine Aufgabe der Schulen sollte daher darin bestehen, für den entsprechenden Ausgleich vor allem auch durch Fächer wie Sport und Musik zu sorgen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. http = Hyper text transfer protokoll. Dieses Protokoll regelt den Austausch von Daten im Internet zwischen allen angeschlossenen Computern.

  2. html = Hyper text markup language. Mit Hilfe dieser Programmiersprache werden die Daten so aufbereitet, das sie von jedem Computer, unabhängig von seinem Betriebssystem, empfangen und durch den entsprechenden Browser dargestellt werden können.

  3. Unbeschränkte Nutzung bei gleichbleibender monatlicher Grundgebühr.

  4. Vgl. http://www.trackyourkid.de.

  5. Second life ist eine virtuelle Parallelwelt, in der die Teilnehmer sich nicht nur einen Avatar gestalten, sondern eine Wohnung oder ein Haus. Es werden dort virtuelle Arbeiten geleistet, mit denen virtuelles Geld verdient werden kann, mit dem dann virtuelle Anschaffungen (Kleider, Möbel, etc.) getätigt werden können.

  6. Avatar kommt aus der indischen Mythologie und bezeichnet ein von einem höheren geistigen Wesen besessenes Wesen (Tier oder Mensch), klassischer Weise der Priester, durch den ein Dämon oder Gott spricht und wirkt. Im Computerspiel ist es die virtuelle Figur, die durch den Spieler "beseelt" wird.

  7. Urheberrecht, Indizierungskriterien, Persönlichkeitsrecht und Jugendschutzgesetz.

  8. WOW steht für "World of Warcraft", das populärste deutschsprachige Onlinerollenspiel.

geb. 1968; Lehrer für Computerkunde an der Waldorfschule Kiel; Dozent an den Lehrerseminaren in Hamburg und Kiel; Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei IPSUM (Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie).
E-Mail: E-Mail Link: UweBuermann@T-Online.de