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Deutsche und Briten seit 1990 | Großbritannien | bpb.de

Großbritannien Editorial Maggies Zehn Gebote - Essay New Labour und die britische Außenpolitik Großbritannien nach der Unterhauswahl Deutsche und Briten seit 1990 Großbritannien nach der Devolution "Ende der Geschichte" in Nordirland?

Deutsche und Briten seit 1990

Henning Hoff

/ 17 Minuten zu lesen

Die jüngste Geschichte des deutsch-britischen Verhältnisses gleicht einer Serie falscher Aufbrüche. Daran wird sich wenig ändern, solange sich die europapolitischen Vorstellungen in beiden Ländern nicht annähern.

Einleitung

Ginge es allein nach den öffentlichen Verlautbarungen, dann stünde es um das deutsch-britische Verhältnis glänzend. "Unsere Beziehungen waren nie besser als heute", erklärte Premierminister Tony Blair am 9. Mai 2005 in der "Bild"-Zeitung anlässlich des 60. Jahrestags des Kriegsendes in Europa. Prädikate wie "as excellent as any bilateral relations can be" konnte man von Blair schon fünf Jahre zuvor auf der Königswinter-Konferenz hören, als er gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem alljährlichen deutsch-britischen Forum sprach. Der deutsche Regierungschef stand dem nicht nach: Die Beziehungen seien noch nie so gut gewesen, "the best ever".

Doch im Tagesgeschäft stellt sich das bilaterale Verhältnis seit der deutschen Vereinigung häufig anders dar. Trotz wiederholter Anläufe scheint es bis heute nicht ganz zu gelingen, die für die Nachkriegsjahrzehnte so oft angeführte "Beklommenheit" (unease) abzulegen. Das hat sich beispielsweise auf deutscher Seite in der Sorge vor der Persistenz negativer Stereotypen im britischen Deutschlandbild ausgedrückt, insbesondere in Rückgriff auf die NS-Zeit. Anstöße, hier gegenzusteuern, die in den vergangenen Jahren sowohl die Deutsche Botschaft in London als auch das Goethe-Institut unternommen haben, waren nicht immer von Erfolg gekrönt.

Der deutsche Botschafter, Thomas Matussek, hatte zum Jahrestag des Kriegsendes Gelegenheit, den Rat seines britischen Kollegen in Berlin, Sir Peter Torry ("Die Deutschen sollten nicht so empfindlich reagieren") zu beherzigen. Der konservative "Sunday Telegraph" empfand es offenbar als absatzsteigernd, ein nachdenkliches Interview mit dem Botschafter im Innern des Blattes mit der provokanten Schlagzeile "German Ambassador: Get Over It" anzukündigen - ganz so, als habe der Botschafter nichts anderes im Sinn, als den Briten ihre Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu verleiden. Tatsächlich hatte sich Matussek besorgt darüber gezeigt, dass man in Großbritannien zu wenig über das zeitgenössische Deutschland wisse und die Gefahr bestehe, dass die jüngere Generation beider Länder auseinander driften könnte. Auch aus britischer Sicht sind die Vergangenheit und der Umgang mit ihr immer wieder Irritationspunkte. Auf Befremden stießen zuletzt die Debatte über den britischen Luftkrieg gegen deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg und die Forderung nach einer Entschuldigung, die zeitgleich zum Staatsbesuch von Königin Elisabeth II. im Oktober 2004 aufkam.

In einer groß angelegten Umfrage unter Jugendlichen zur wechselseitigen Wahrnehmung, deren Ergebnisse das Goethe-Institut und der British Council 2004 vorstellten, hieß es zum Deutschlandbild junger Briten: "Überraschenderweise sind der 2. Weltkrieg und die deutsche Nazi-Vergangenheit sogar für die junge Generation der Briten immer noch präsent." Während junge Deutsche viel über Großbritannien wüssten, es als "erfolgreiche multikulturelle Gesellschaft" beschrieben, die modern und zukunftsorientiert sei, sei der Kenntnisstand junger Briten über Deutschland eher gering: "Mit dieser Wissenslücke haben die jungen Briten eine etwas negativere Wahrnehmung Deutschlands." Dies wurde in den letzten Jahren auch durch die gegenläufige wirtschaftliche Entwicklung - dynamisches Wachstum und geringe Arbeitslosigkeit in Großbritannien, Stagnation und hohe Arbeitslosenquote in Deutschland - unterfüttert. Aus dem Foreign Office hört man, dass Deutschland zunehmend als "altes" Land wahrgenommen werde, von dem es im Moment wenig zu lernen gebe.

Aber die Fortsetzung des unease erklärt sich nicht nur aus der Vergangenheit und der unterschiedlichen konjunkturellen Lage. Auch politische Entwicklungen insbesondere auf europäischer Ebene berechtigen zu Zweifeln an Blairs Einschätzung der Qualität der deutsch-britischen Beziehungen. Nur sechs Wochen nach seinem Interview gerieten Blair und Schröder auf dem Brüsseler Gipfel der Europäischen Union (EU) aneinander. Dort sollte es um die finanzielle Zukunft der Gemeinschaft gehen, doch nach den gescheiterten Referenden über den Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden stand auch die politische Zukunft Europas auf der Tagesordnung. Am Ende ließ Blair das Treffen mit seiner Weigerung scheitern, den von seiner Vorvorgängerin Margaret Thatcher erstrittenen "Britenrabatt" als Ausgleich für die geringeren Zuwendungen Großbritanniens aus dem Agrarfonds aufzugeben. Es wurde deutlich, dass zwischen beiden Regierungen erhebliche Differenzen über die weitere Entwicklung der EU bestehen.

Der deutsch-britische Meinungsstreit spielte auch im Bundestagswahlkampf eine Rolle. "Großbritannien ist für ein soziales Europa, aber es muss ein soziales Europa sein, das in unsere heutige Welt passt", schrieb Blair mit einem wenig verklausulierten Seitenhieb auf seinen deutschen Amtskollegen nach dem gescheiterten EU-Gipfel Mitte Juni 2005 in der "Bild"-Zeitung. "Wir müssen herausfinden, warum manche Volkswirtschaften Europas Arbeitsplätze schaffen und andere nicht." Schröder antwortete: "Wollen wir ein einiges, handlungsfähiges Europa, also eine wirkliche politische Europäische Union (...)? Oder wollen wir uns auf eine große Freihandelszone beschränken? (...) Ich will das nicht." Nationale Alleingänge würden nicht weiterhelfen; für ihn bleibe "die Sicherung des Sozialen und die Gewährleistung von Gerechtigkeit eine Hauptaufgabe". Wenngleich sich der vorgebliche Antagonismus zwischen "angelsächsischem" und "kontinentalem" (oder deutsch-französischem) Modell, zwischen "(neo)liberalem" und "sozialem Europa" eher für den politischen Schlagabtausch denn als Realitätsbeschreibung eignet - hier deutete sich ein neuer Antagonismus an, der gewissermaßen symptomatisch für das deutsch-britische Verhältnis seit dem Mauerfall ist, das einer seiner besten Kenner einmal - halb provozierend, halb resignierend - als "hoffnungslosen Fall" apostrophiert hat.

Zwar trifft es zu, dass die "guten Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien (...) inzwischen selbstverständlich geworden" sind. Echte Konfliktpunkte gibt es kaum. Die bereits Ende der achtziger Jahre als "stille Allianz" bezeichnete enge Kooperation funktioniert in vielen Bereichen völlig reibungslos. Trotz aller aktuellen deutschen Sorgen vor als "anglo-amerikanische Heuschrecken" titulierten Investoren können die Wirtschaftsbeziehungen als exzellent gelten. Aber es besteht ein Defizit fort, das Anthony Nicholls zuletzt auf die Formel "Always Good Neighbours - Never Good Friends?" brachte. So stellen sich die deutsch-britischen Beziehungen seit dem Fall der Berliner Mauer in mancher Hinsicht als Kette falscher Aufbrüche dar. Entgegen vielerlei Hoffnungen haben die Beziehungen keinen Qualitätssprung gemacht. Vielmehr haben sie sich in den vergangenen 15 Jahren, bei weitgehender Parallelität der politischen Vorzeichen in beiden Ländern, nach immer gleichem Muster vollzogen: Stets ist die Anfangseuphorie nach dem Wechsel personell-politischer Konstellationen (1990, 1997/98) der Ernüchterung gewichen, wie sich zuletzt am gestörten Verhältnis zwischen den einst engen Partnern Schröder und Blair ablesen ließ - "déja-vu all over again", lautet dazu die scherzhafte britische Formel.

Thatcher und die deutsche Vereinigung

Die deutsch-britischen Beziehungen sind noch immer nicht unbeeinflusst von den Schatten, die die Vorbehalte von Premierministerin Margaret Thatcher gegen die deutsche Vereinigung auf das Verhältnis geworfen hatten. Die Ansicht, dass "die Briten" gegen die Vereinigung gewesen seien, hat sich heute so weit eingebürgert, dass sie kaum noch hinterfragt wird. Doch ist es wert festzuhalten, dass es am Ende weniger die britische Politik als die medialen Begleiterscheinungen- allen voran die "Ridley-" und die "Chequers-Affären"- waren, die dafür gesorgt haben, dass sich das Bild eines sich der deutschen Vereinigung entgegenstellenden Großbritanniens verfestigt hat, sowie die unverblümten, 1993 veröffentlichten Memoiren Thatchers.

Doch es ist wichtig, die tatsächliche, nach anfänglichem Zögern über weite Strecken konstruktive britische Politik von atmosphärischen Störungen zu trennen. Selbst die Haltung der Regierungschefin, die aufgrund ihres Misstrauens gegenüber einem "Nationalcharakter" der Deutschen bis ins Frühjahr 1990 hinein die Demokratisierung der DDR einerseits und die Verlangsamung des Vereinigungsprozesses andererseits anstrebte, wird heute nicht mehr ganz so kritisch gesehen. Man sollte nicht vergessen, dass die Vorstellung, eine langsamere Wiedervereinigung wäre Deutschland besser bekommen, weder zeitgenössisch noch in der Rückschau eine Einzelmeinung ist.

Zudem scheiterten die Verlangsamungsversuche der Premierministerin vollkommen. Thatcher schrieb in ihren Memoiren: "If there is one instance in which a foreign policy I pursued met with unambiguous failure, it was my policy on German reunification." Diesen Fehlschlag führte sie in erster Linie auf den unwiderstehlichen Einigungswillen der Deutschen zurück: "In the event, the desire for unity among Germans on both sides of the Elbe proved irresistible. So the policy failed." Für das "official mind", angefangen bei Außenminister Douglas (heute: Lord) Hurd, der sein Amt nur Tage vor dem Mauerfall antrat, war dies absehbar - und Thatchers Politik "zutiefst falsch" ("deeply mistaken"): "It was likely to lead us into an effort to prevent or postpone German unification which was bound to fail, to our own great disadvantage." Nach Hurds Einschätzung lag Thatchers Widerstand darin begründet, dass die Premierministerin den Wandel verkannte, den das Nachkriegsdeutschland im Westen wie - wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen - im Osten durchgemacht hatte.

Am Ende gelang es Hurd, Thatchers Politik abzufedern und in konstruktive Schritte umzuwandeln. Dazu gehört auch die Idee, die der deutschen Vereinigung internationale Absicherung und besondere Dynamik verlieh: die "Zwei-plus-Vier"-Konstruktion, unter der die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte den Weg zu einem im Westen verankerten, vereinigten Deutschland fanden. Obwohl eine endgültige Einschätzung erst möglich sein wird, wenn die britischen Regierungsakten in 15 Jahren zugänglich werden, scheint vieles dafür zu sprechen, dass die britische Politik insgesamt, so der frühere Botschafter in Bonn, Sir Julian Bullard, nicht ganz "so kurzsichtig, oder feindlich, oder ineffektiv war, wie manchmal angenommen wird".

Überlagert wurde die Diplomatie durch eine lebhafte Diskussion, die alte Ängste vor einem "Fourth Reich" ebenso hochspülte wie traditionelle Stereotypen. Ihren Höhepunkt erreichte dies im Juli 1990, als zunächst das konservative Magazin "The Spectator" ein Interview mit Handelsminister Nicholas Ridley brachte, in dem er der Möglichkeit einer britischen Beteiligung an einer europäischen Gemeinschaftswährung und einer Zentralbank eine Absage erteilte ("This is all a German racket design to take over the whole of Europe") und Kohl mit Hitler verglich. Am folgenden Sonntag veröffentlichte der "Independent on Sunday" ein geheimes Memorandum über ein Seminar, das britische und amerikanische Historiker mit Thatcher im März 1990 in Chequers, dem Landsitz der Premierministerin, zur deutschen Frage abgehalten hatten. In der Zusammenfassung von Thatchers außenpolitischem Berater Charles Powell fanden sich unter anderem abqualifizierende nationale Eigenschaften "der Deutschen", während das Resümee - "We should be nice to the Germans." - zumindest gut gemeint war. Doch diese "Affären" waren für das deutsch-britische Verhältnis weit weniger wichtig als deren Konsequenzen: Ridley musste zurücktreten, und auch Thatcher wurde noch vor Jahresende aus dem Amt gedrängt.

Die Ära Major/Kohl

Der neue Premierminister John Major sah die Wiederherstellung guter Beziehungen zu Europa, insbesondere zu Deutschland, als vorrangig an. Die politische Freundschaft, die er mit Helmut Kohl begründete, zeitigte schnell Signale des Aufbruchs. In einer wegweisenden, als "heart of Europe"-Rede apostrophierten Ansprache erklärte Major bei seinem ersten Besuch in Bonn im März 1990, Großbritannien "ins Herz Europas" führen zu wollen, "wohin es gehöre". Die neue Regierung werde eine aktive und konstruktive Rolle spielen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht. Der Schlüssel dazu, so hatte die Regierung Major erkannt, lag in Bonn. Die Vernachlässigung des deutsch-britischen Verhältnisses und die Animositäten zwischen Thatcher und Kohl stellten sich als schwere strategische Fehler dar. Die von Kohl geführte Bundesregierung war ihrerseits an engeren Beziehungen mit einem "europafreundlicheren" Großbritannien interessiert.

Doch der honeymoon dauerte nicht lange. Spätestens nach der Unterhauswahl vom April 1992, die die Konservative Partei nur noch knapp für sich entscheiden konnte, ruderte Major zurück in eine "wenn nicht feindliche, so doch ambivalente" Position gegenüber "Europa". Denn die am Ende nur noch wenige Abgeordnete zählende parlamentarische Mehrheit ermöglichte es dem "euroskeptischen" Parteiflügel, die Regierung im Zusammenhang mit dem Ratifizierungsprozess des Vertrags von Maastricht unter enormen Druck zu setzen. Dabei hatte sich Major mit deutscher Hilfe eine Reihe von Zugeständnissen einschließlich der Möglichkeit des opt-out im Bereich der Sozialcharta und bei der Europäischen Währungsgemeinschaft sichern können.

Zu dem Zeitpunkt taten sich beim Thema Jugoslawien beziehungsweise bei der Frage nach der Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien neue Differenzen auf. Als das britische Pfund im Herbst 1992 unter immer größeren Druck geriet und am "schwarzen Mittwoch", dem 16. September, gezwungen war, den Europäischen Wechselkursmechanismus zu verlassen, erlitten die deutsch-britischen Beziehungen einen schweren Schlag. Die Krise untergrub nicht nur Majors Europapolitik, sondern offenbarte Großbritanniens prekäre ökonomische Situation. Ermuntert von der Regierung, machten die meisten britischen Medien die Bundesbank für die Ereignisse verantwortlich. Deren Hochzinspolitik habe dazu geführt, dass Deutschlands Nachbarn für die Wiedervereinigung zahlen müssten: "The degree of anti-Germanism expressed by large sections of the British political class was unprecedented in the post-occupation period."

Weitere Streitigkeiten, an denen die deutsche Seite allerdings nicht immer schuldlos war - beispielsweise über die Besetzung des Präsidentenamtes der Europäischen Kommission 1994 -, führten schließlich zur "Nicht-Kooperationspolitik" der Regierung Major, als die EU in Reaktion auf die BSE-Krise ein Ausfuhrverbot für britisches Rindfleisch in Kraft setzte und sich die britische Regierung insbesondere durch die Haltung der Bundesrepublik zum "beef war" herausgefordert sah.

Die Ära Blair/Schröder

Mit dem erdrutschartigen Wahlsieg der Labour Party im Mai 1997 und der Bildung einer rot-grünen Bundesregierung unter Schröder im folgenden Jahr schien ein neuer Anfang möglich. Nicht nur schickte sich Blair an, Großbritannien nun tatsächlich "ins Herz Europas" zu führen. Seine in "New Labour" umgewandelte Partei suchte für ihre Politik des "Dritten Weges" zur weitreichenden Erneuerung der Sozialdemokratie Verbündete auf dem Kontinent und schien sie in Schröder und der SPD zu finden, die im Wahlkampf mit dem weit vageren Schlagwort der "Neuen Mitte" operiert hatten.

Blair unterschied sich in seinen europäischen Ambitionen grundsätzlich von seinen Vorgängern. Sein Ziel sei es, "dass Großbritannien in den nächsten Jahren ein für allemal seine Ambivalenz gegenüber Europa ablegt", sagte er 1999 bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises in Aachen. "Ich will ein Ende der Unsicherheit, des Mangels an Vertrauen, der Europhobie." Nicht nur sollte Großbritannien sein Verhältnis zur europäischen Integration "normalisieren", das Land sollte gar zum "leader in Europe" werden. Dies hätte zu einer Verschiebung der politischen Architektur innerhalb der EU führen können. Wenngleich manche Kenner vor der Institutionalisierung einer solchen Entwicklung warnten, war zu jener Zeit viel vom deutsch-französisch-britischen Dreieck, vom "trilateralism" die Rede, sogar von der Aufgabe der Achse Bonn-Paris zugunsten Londons. Solche Vorstellungen wurden nicht zuletzt durch die engen Kontakte gefördert, die der Blair-Vertraute, Handelsminister Peter Mandelson, mit Schröders Wahlkampfberater, dem späteren Kanzleramtsminister Bodo Hombach, unterhielt. Zudem gab sich Schröder anfangs kühl gegenüber der Fortsetzung des in der Ära Kohl stets engen Verhältnisses zu Frankreich. Zum Greifen nah schien eine Achse Berlin-London, als kurz vor der Europawahl 1999 das "Schröder-Blair-Papier" vorgestellt wurde, das nicht nur Europas Sozialdemokratie den Weg weisen sollte, sondern auch den Boden für eine enge deutsch-britische Allianz zu bereiten schien.

Damit war jedoch der Höhepunkt des neuerlichen deutsch-britischen Aufbruchs überschritten. Nach scharfer Kritik aus den eigenen Reihen distanzierte sich Schröder schließlich von dem Papier. Gleichzeitig wurde klar, dass Blairs europapolitischen Ambitionen Grenzen gesetzt waren. Zwar unterzeichnete die britische Regierung die Europäische Sozialcharta und gab auf dem britisch-französischen Gipfel von St. Malo 1999 einen wichtigen Anstoß zur Schaffung einer europäischen militärischen Eingreiftruppe, doch schob sie einen Beitritt zur gemeinsamen Währung auf die lange Bank und scheute sich, die Euro-Debatte daheim auch nur vorzubereiten.

In der zweiten Legislaturperiode von 2001 bis 2005 zunehmend reaktiv in europäischen Belangen, führte der eng an die USA angelehnte Kurs der Regierung Blair nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu einer Entfremdung in den bilateralen Beziehungen, von der auch die Wiederbelebung der "Brücken"-Metapher durch Blair zeugte, derzufolge Großbritannien aufgrund seiner "special relationship" zu den USA den Bogen zwischen Amerika und Europa spannen sollte. Derweil suchte die deutsche Regierung neue Tuchfühlung mit Frankreich und begründete eine Achse Paris-Berlin-Moskau. Einen Tiefpunkt erlebte das deutsch-britische Verhältnis während der Auseinandersetzungen über die Irakpolitik im UN-Sicherheitsrat 2002/03, was sich zuletzt in den Spannungen über die Zukunft und die wirtschaftspolitische Ausrichtung der EU fortgesetzt hat.

Neue Aufbruchstimmung?

Mit dem Regierungswechsel in Deutschland und der Kanzlerschaft Angela Merkels spricht einiges dafür, dass im deutsch-britischen Verhältnis bald wieder Aufbruchstimmung herrscht - ein Wahlsieg der CDU-Chefin war der von der Downing Street erhoffte Ausgang der vorgezogenen Bundestagswahl. Doch selbst wenn sich mit einer möglichen künftigen Präsidentschaft Nicholas Sarkozys in Frankreich neue personell-politische Konstellationen in Europa ergeben sollten, spricht vieles dafür, dass sich die bilateralen Beziehungen weiter nach bekanntem Muster vollziehen werden.

Die Wellenbewegung im deutsch-britischen Verhältnis seit dem Mauerfall erklärt sich durch die unterschiedliche Haltung beider Länder zur europäischen Einigung. Das "Schreckgespenst der Vergangenheit" ("bogey of the past"), das Thatcher mit der Wiedervereinigung zurückkehren sah, nämlich die "deutsche Frage", war gewissermaßen eine Spiegelung. Denn Thatchers Befürchtung richtete sich weniger gegen ein wiedererstarktes Deutschland denn gegen einen deutsch dominierten, föderalen europäischen "Superstaat", der oft als späte Verwirklichung eines "Hitler-Europas" diffamiert wird. Diese Vorstellungen spielen in Großbritannien bei der Gegnerschaft zu einem "föderalen Europa" weiterhin eine Rolle, wenngleich sie in den vergangenen Jahren von der Sorge der Regierung Blair überlagert werden, ein von German angst gelähmtes Deutschland oder eine reformunwillige deutsch-französische Kombination könnte die EU dauerhaft in die Stagnation treiben.

Auf deutscher Seite sind es im Wesentlichen die Enttäuschungen über die ambivalente und lavierende britische Haltung gegenüber der EU, die das Verhältnis beeinträchtigen. Hier sind beide Länder zu oft auf unterschiedlicher "Wellenlänge". Dabei dürfte es auch dann bleiben, wenn das für beide Staaten wichtigste außenpolitische Verhältnis, das zu den USA, deutscherseits nach den Belastungen während des Irak-Krieges wieder vollständig hergestellt sein sollte.

Ohne Zweifel werden Großbritannien und Deutschland gute Nachbarn bleiben, aber das große Potenzial, das in dem bilateralen Verhältnis steckt, wird sich erst entwickeln können, wenn sich die europapolitischen Vorstellungen annähern. Davon ist auf absehbare Zeit nicht auszugehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Aus Feinden wurden Freunde" (Interview mit Tony Blair), in: Bild vom 9.5. 2005; www.bild.t-online.de/BTO/news/2005/05/09/gedenken_kriegsende_blair/krieg_ende_gedenken_blair.html. Die Äußerungen von Blair und Schröder von 2000 laut einer Presseerklärung der Deutschen Botschaft London vom 27.3. 2000, zit. nach Anthony J. Nicholls, Fifty Years of Anglo-German Relations. The 2000 Bithell Memorial Lecture, Institute for Germanic Studies (University of London School of Advanced Studies), London 2000, S. 1.

  2. Vgl. Sabine Lee, An Uneasy Partnership. British-German Relations between 1955 and 1961, Bochum 1996; Klaus Larres (Hrsg.), Uneasy Allies. British-German Relations and European Integration since 1945, Oxford 2000.

  3. "Die Deutschen sollten nicht so empfindlich reagieren" (Interview mit Sir Peter Torry), in: Spiegel Online vom 10.5. 2005; englischsprachige Fassung unter http://service.spiegel.de/cache/international/0,1518,355598,00.html.

  4. "German Ambassador: Get Over It", "The British are obsessed with Germany - and not always in a funny way", in: The Sunday Telegraph vom 8.5. 2005.

  5. Vgl. Lothar Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940 - 45, Berlin 2003. Blair warnte davor, "einen Opferkult zu pflegen. Verantwortlich für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war Deutschland. Wir alle müssen mit seinen Folgen leben." (Anm. 1).

  6. Lanciert wurde die - aus der Luft gegriffene - Meldung, "die Deutschen" erwarteten von der Queen Worte des Bedauerns, von der Boulevardzeitung "Daily Express".

  7. Mutual Perception Research Deutschland 2003/2004, durchgeführt von der GfK für das Goethe-Institut und den British Council; www.britishcouncil.de/d/about/pr_survey_0704.htm.

  8. Tony Blair, "EU-Geld für Arbeitsplätze, nicht für Kühe!", in: Bild vom 22.6. 2005; www.bild.t-online.de/BTO/news/2005/06/22/blair_interview/blair_ interview.html.

  9. Gerhard Schröder, "Wir werden die Krise Europas lösen", in: Bild vom 23.6. 2005; www.bild.t-online.de/BTO/news/2005/06/23/interview__schroeder/schroeder__interview.html.

  10. Vgl. Margaret Blundon, "Anglo-Saxon model` wears French clothes", in: The International Herald Tribune vom 8.6. 2005; www.iht.com/articles/2005/06/07/news/edblunden.php. Der britische Sozialstaat steht Kontinentaleuropa ungleich näher als den USA, die Rede vom "angelsächsischen Modell" ist daher irreführend.

  11. Vgl. Anthony J. Nicholls, Die deutsch-britischen Beziehungen: Ein hoffnungsloser Fall?, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) Bonn, Discussion Paper C16/1998.

  12. Dieses Urteil stammt von Botschafter Sir Peter Torry (Anm. 3).

  13. Karl Kaiser/John Roper (Hrsg.), Die stille Allianz. Deutsch-britische Sicherheitskooperation, Bonn 1987.

  14. So der Titel seiner Annual Lecture 2004 am Deutschen Historischen Institut (DHI) London.

  15. Bemerkenswerterweise überlappen sich die Phasen von CDU- und konservativ beziehungsweise SPD- und Labour-geführten Regierungen über weite Strecken der Nachkriegszeit.

  16. Als Schröder am 12. Oktober 2005 in einer Rede vor dem Gewerkschaftskongress der IG BCE seinen Verzicht auf das Bundeskanzleramt erklärte, sprach er von Blair nur noch ironisch als "mein britischer Freund", der andere Freunde habe. Gemeint war US-Präsident George W. Bush. Die deutsch-französische Zusammenarbeit werde weiter gebraucht, so Schröder, um die soziale Zukunft Europas sicherzustellen, das "angelsächsische Modell" werde "keine Chance" haben. Vgl. "Schröder Bows Out with Swipe at Blair", The Guardian vom 13.10. 2005; www.guardian.co.uk/germany/article/0,2763,1590987,00.html.

  17. Vgl. die Zusammenfassung bei Lothar Kettenacker, Britain and German Unification, 1989/90, in: K. Larres (Anm. 2), S. 99 - 126.

  18. Margaret Thatcher, The Downing Street Years, London 1993, S. 791. Sie glaube nicht an Kollektivschuld, wohl aber an Nationalcharakter: "Since the unification of Germany under Bismarck (...) Germany has veered unpredictably between aggression and self-doubt. (...) Germany is (...) by its very nature a destabilizing rather than a stabilizing force in Europe." Daraus erkläre sich auch ihre Gegnerschaft zur europäischen Integration. "Only the military and political engagement of the United States in Europe and close relations between the other two strongest sovereign states in Europe - Britain and France - are sufficient to balance German power: and nothing of the sort would be possible within a European super-state."

  19. Anthony J. Nicholls, Always Good Neighbours - Never Good Friends? Anglo-German Relations 1949 - 2001, The 2004 Annual Lecture, DHI London, S. 23 - 24.

  20. M. Thatcher (Anm. 18), S. 813.

  21. Douglas Hurd, Memoirs, London 2003, S. 382.

  22. "The crux of the argument was the nature of modern Germany. The Prime Minister did not understand the total change which the disaster of defeat had brought about after 1945. (...) She did not believe that Germany would subordinate itself to a process of European integration." Ebd., S. 381 - 382.

  23. Vgl. Sir Julian Bullard, "The Re-unification of Germany", Beitrag zur Seminarreihe "Eight International Episodes" des Foreign Policy Studies Programme, AllSouls College, Oxford, 24.2. 1995; zusammenfassendes Manuskript der Rede und der anschließenden Diskussion im Archiv des Autors. In überarbeiteter Form publiziert als Great Britain and German Unification, in: Jeremy Noakes/Peter Wende/Jonathan Wight (Hrsg.), Britain and Germany in Europe 1949 - 1990, Oxford 2002, S. 219 - 230.

  24. Die "Zwei-plus-Vier"-Formel gilt gemeinhin als amerikanische Erfindung; siehe aber ebd.

  25. Vgl. Günther Heydemann, Partner or Rival? The British perception of Germany during the process of unification 1989 - 1991, in: Harald Husemann (Hrsg.), As Others See Us. Anglo-German Perceptions, Frankfurt/M. 1994, S. 123 - 147.

  26. So die Sunday Times am 12.11. 1989, die gleichzeitig die Frage stellte: "Where does that leave Britain?"

  27. Vgl. The Spectator vom 14.7. 1990. Die den Artikel begleitende Karikatur, die Ridley zeigt, wie er Kohls Konterfei auf einem Wahlplakat mit einem Hitlerbart verziert, war lange Zeit das einzige britische Exponat zum Einheitsprozess im Bonner Haus der Geschichte.

  28. Vgl. dazu L. Kettenacker (Anm. 17), S. 120 - 122.

  29. Vgl. John Major, The Autobiography, London 1999, S. 579 - 580.

  30. Vgl. Sabine Lee, Victory in Europe. Britain and Germany since 1945, London 2001, S. 216.

  31. "My predecessor's famously bad relationship with Kohl had self-evidently not helped British interests in Europe." J. Major (Anm. 29), S. 579.

  32. S. Lee (Anm. 30), S. 216.

  33. Ebd., S. 220.

  34. Es spricht für den "sense of proportion" der britischen Außenpolitik, dass man im Frühjahr 2003 nicht Deutschland, sondern Frankreich für das Scheitern der eigenen Irakpolitik verantwortlich machte.

  35. Zur britischen Europapolitik unter Blair siehe Julie Smith, A missed opportunity? New Labour's European policy 1997 - 2005, in: International Affairs, 81 (2005) 4, S. 703 - 721.

  36. Philip Stephens, Tony Blair. The Price of Leadership, London 2004, S. 163 - 164.

  37. Für eine positive Einschätzung vgl. Anthony Glees, Großbritanniens "zweiter Beitritt" zu Europa: Tony Blairs Neue Politik, in: Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.), "Stille Allianz"? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa, München 1999, S. 29 - 42.

  38. Vgl. Peter von Butler, Die deutsch-britischen Beziehungen aus der Sicht eines deutschen Diplomaten in London, in: ebd., S. 10 - 12. Ein Dreier-"Directoire" wäre nicht sinnvoll, sondern schädlich, argumentiert von Butler.

  39. "Wir haben gewonnen", war damals offenbar die Reaktion im Foreign Office. Das Papier wurde von langer Hand vorbereitet. Draft Joint Declaration "The Way Forward for Europe's Social Democrats. A Proposal by Gerhard Schröder and Tony Blair", datiert bereits vom 22.2. 1999; im Besitz des Autors.

  40. Vgl. A. Nicholls (Anm. 19), S. 27.

Dr. phil., geb. 1970; Zeithistoriker und Journalist, Korrespondent in London. c/o Foreign Press Association, 11Carlton House Terrace, London SW 1 Y 5 AJ, England/UK.
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