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Gesellschaftliche Spaltungen, Geschlecht und Ethnizität im Bildungssystem | Großbritannien | bpb.de

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Gesellschaftliche Spaltungen, Geschlecht und Ethnizität im Bildungssystem

Diane Reay

/ 18 Minuten zu lesen

Ein großes Bewusstsein für gesellschaftlichen Wettbewerb, die Wirtschaft und eine individualisierte, neoliberale Kultur bilden in Großbritannien hohe Barrieren gegen Bildungsgleichheit.

Einleitung

Einflussreiche Diskurse und Strategien des Neoliberalismus bezüglich Privatisierung, Marktausweitung, Wahlfreiheit und Performanz sowie "der unternehmerische Einzelne" nehmen im britischen Bildungssystem eine hegemoniale Stellung ein. Ihr Einfluss hat Ungleichheiten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft verstärkt; die Auswirkungen sind auf gesellschaftliche Schichtunterschiede am größten.

Bereits 1931 urteilte der Labour-Historiker Richard Henry Tawney: "Der Erbfluch des englischen Bildungswesens ist seine Orientierung an sozialen Trennungslinien." Im Jahr 2010 sind die gesellschaftlichen Schichtunterschiede nicht mehr nur der Erbfluch des Bildungssystems, sondern der ganz Großbritanniens. In einer aktuellen Studie belegt Großbritannien von 35 Ländern Rang 31 in Bezug auf die Auswirkung sozialer Herkunft auf das Bildungsniveau und schneidet damit schlechter ab als andere Länder mit besonders stark nach sozialen Schichten unterteilten Bildungssystemen wie beispielsweise die USA. In den meisten Ländern bestehen große Unterschiede entweder im Ergebnisvergleich zwischen Schulen (wie in Deutschland) oder innerhalb von Schulen (in Gesamtschulsystemen); in Großbritannien bestehen diese Unterschiede in beiden Fällen.

Der Grund dafür liegt zum Teil in der Geschichte der Schulerziehung in Großbritannien. Als das staatliche Schulsystem im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, waren nicht Erziehung und Befreiung das Ziel, sondern Kontrolle und Ruhigstellung. Das Bildungsangebot für Arbeiterkinder wurde in erster Linie instrumental konzipiert, als Mittel zur sozialen Kontrolle und nicht als Beitrag zur Verbesserung von Lebenschancen. Diese Positionierung der Arbeiterschaft als untergeordnete, "andere" Klasse innerhalb des Bildungssystems wurde verstärkt durch den elitären Status der Privatschulen als Inbegriff schulischer Exzellenz - einem Unterscheidungsmerkmal, das bis heute fortbesteht. Die weit verbreitete Konzentration auf die Bildungsmisserfolge jener am unteren Ende der Gesellschaft bedeutet, dass die Frage nach dem Elitedenken der Oberschicht und der sozialen Schließung stark vernachlässigt wird.

Oberschicht und Bildung

Bei näherer Betrachtung der britischen Oberschicht zeigt sich, dass sich ihr Verhältnis zur Bildung seit dem 17. Jahrhundert kaum verändert hat - es bleibt weiterhin ein Mittel zur Wahrung der gesellschaftlichen Stellung. Bildung ist für die Oberschicht ein unerlässliches und notwendiges Abgrenzungsmittel. Die kulturelle Reproduktion der Oberschicht beruht auf Privatschulbildung - trotz der regelmäßigen Hinweise von Premierminister David Cameron auf den Staatsschulbesuch seiner Kinder. Die Sozialisierung der britischen Oberschicht, die vor allem an Privatschulen stattfindet, unterscheidet sich stark vom Übergangsprozess von der Kindheit zum Erwachsensein in der Mittel- und Arbeiterschicht. Für die Oberschicht ist es, insbesondere für Jungen, kulturell normativ, zwecks einer stark disziplinierten und oft strengen Schulausbildung von zu Hause fortgeschickt zu werden. Damit wird zugunsten der Gewissheit sozialer Reproduktion auf eine glückliche Kindheit im Schoße der Familie verzichtet. Roald Dahl, Erfolgsautor zahlreicher Kinderbücher, beschrieb seine Privatschulerfahrungen in den 1930er Jahren: "Those were days of horrors, of fierce discipline, of not talking in the dormitories, no running in the corridors, no untidiness of any sort, no this or that or the other, just rules, rules and still more rules that had to be obeyed. And the fear of the dreaded cane hung over us like the fear of death all the time."

Als ich James, einen Rechtsanwalt, 50 Jahre danach nach seinen Privatschulerfahrungen befragte, war noch immer Dahls Furcht zu spüren, und die eindringlichen Schilderungen einer männlichen Oberschichtsozialisierung hallten in seinen Antworten wider: "Mit sieben wurde ich in ein Internat geschickt, was so schlimm war, dass ich mich wie ausgestoßen fühlte. Ich vermisste meine Familie, vor allem meine Mutter, ganz schrecklich. Aber Du wusstest, dass Familien wie unsere das eben so machten, und es war in jeder Hinsicht traumatisierend, aber gleichzeitig auch auf seltsame Weise faszinierend. Ich wurde furchtbar drangsaliert, was mit zunehmendem Alter immer schlimmer wurde, so dass ich, als ich die Hälfte meiner Schullaufbahn hinter mir hatte, dadurch wohl ziemlich verroht war. Ich hatte dieses Schulethos angenommen, ich hatte es so sehr in mich aufgesogen, dass ich es für normal zu halten begann. Ich nehme an, das überrascht nicht, weil es neben der Grausamkeit auch Freundschaft, Rückhalt und eine ganze Menge Zuwendung und Fürsorge gab. Du hattest dich dem Ganzen verschrieben und musstest dich dann gewissermaßen einfach damit abfinden, aber rückblickend war vieles davon entsetzlich, wie gesagt grausam und brutal. Aber es gab da noch einen anderen Aspekt, den ich im Nachhinein für äußerst beunruhigend halte, nämlich dass wir es einfach als selbstverständlich hinnahmen; so war es eben, also fanden wir uns halt damit ab."

Schon 1931 hatte Tawney geschrieben: "Ehemalige Privatschüler füllten die Kabinette, regierten das Empire, befehligten Heere und Flotten, bevölkerten Sitzungssäle, stellten die Richterschaft und die höheren Beamten im öffentlichen Dienst." Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. George Monbiot kommentiert: "Durch selbstbewusstes Auftreten, unbezahlte Praktika, Kontaktpflege und vor allem den Besuch von Spitzenuniversitäten bestimmt die an Privatschulen ausgebildete obere Mittelschicht die Politik, den öffentlichen Dienst, die Kunst, die City, die Justiz, die Medizin, das Großkapital, die Armee und in vielen Fällen selbst die Protestbewegungen, die diese Verhältnisse in Frage stellen."

Die Mehrzahl dieser Führungskräfte in Spitzenberufen haben Privatschulen besucht, welche dem Großteil der Bevölkerung verschlossen bleiben. Laut eines aktuellen Berichts des Sutton Trusts trifft dies auf sieben von zehn führende Richter und Rechtsanwälte und ebenso auf die meisten Inhaber der besten Anwaltskanzleien, auf führende Journalisten und Mediziner zu. Neben der Privatschulbildung ist der Zugang zu Oxbridge (die Universitäten Oxford und Cambridge) ebenfalls entscheidend für den Bildungsweg in die Spitzenberufe. Acht von zehn Rechtsanwälte und Richter studierten entweder in Oxford oder Cambridge, wie auch die Mehrzahl der besten Anwälte. 67 Prozent der Mitglieder des derzeitigen Kabinetts gingen auf Privatschulen, 73 Prozent besuchten Oxbridge; 80 Prozent sind männlich. Die Bedeutung wird unmittelbar klar, wenn man sich die folgenden Zahlen vor Augen führt: 2009 erreichten insgesamt 79 englische Schüler, die kostenlose Schulmahlzeiten in staatlichen Schulen erhielten, dreimal die Note 1 (A level) im Abitur. Im selben Jahr erhielten allein an der renommierten Privatschule in Eton 175 Schüler bei ihrem Abitur dreimal die Note 1.

Identität der Mittelschicht

Die Inwertsetzung des privaten Bildungssektors in Großbritannien, besonders innerhalb der politischen, medialen und kulturellen Elite (von welcher die Mehrheit ihre schulische Ausbildung selbst im Privatschulwesen erhielt), hat mittlerweile Einfluss auf den öffentlichen Bildungssektor genommen. Prinzipiell unverändert über die vergangenen 200 Jahre hat sich die Auffassung gehalten, nach der das private Schulwesen noch immer als das Ideal schlechthin betrachtet wird. Tatsächlich zeigt sich sogar ein wachsender Einfluss des privaten Systems auf das staatliche: Während das private Bildungswesen sich in den vergangenen 30 Jahren quantitativ kaum ausgedehnt hat - es werden dort nur sieben Prozent der britischen Schüler unterrichtet -, sind seine Macht und sein Einfluss ideologisch gestiegen, besonders im englischen Teil Großbritanniens. Am Privatschulsystem orientiert hat das gegenwärtige staatliche Schulsystem Schuluniformen, die Einteilung in Fach- und Leistungskurse, Aufsichtsschüler und Schulmannschaften wiedereingeführt - eine ganze Reihe von Maßnahmen, die in den Anfangszeiten der staatlichen Gesamtschule als unzeitgemäß galten. Zudem hat sich das englische Staatsschulwesen 2010 zu einem umfassenden, zunehmend privatisierten, wahlfreien marktwirtschaftlichen System entwickelt, in dem Schulen um Gelder und Schüler konkurrieren. Die Ausbreitung von teilprivaten Schulen innerhalb des staatlichen Systems lässt eine Hierarchie unterschiedlicher Staatsschularten entstehen.

Im Gegensatz zum privaten Schulwesen, das die Elite aufrechterhalten soll, dient das Staatsschulwesen vor allem der Verwirklichung hochgesteckter bürgerlicher Ziele. Während Bildung für die Oberschicht unerlässlich ist, um ihre gesellschaftliche Stellung zu sichern, also ein Mittel zum Zweck, ist Bildung für die Mittelschicht von zentraler Bedeutung für ihr Identitätsgefühl. Es bietet die Möglichkeit, sich nicht nur beruflich, sondern auch mental weiterzuentwickeln. Es stellt Erfüllung dar, einen Prozess nicht nur der eigenen beruflichen Entwicklung, sondern auch, um insgesamt ein besserer Mensch zu werden. Für die britische Mittelschicht ist der Bildungsabschluss von zentraler Bedeutung für individuellen Erfolg und das Selbstwertgefühl. Viele Angehörige der Mittelschicht haben sich der Gerechtigkeit und Gleichheit verpflichtet; diese Prinzipien müssen jedoch mühevoll mit dem Streben nach akademischen Spitzenleistungen und dem Wunsch, "der Beste und Klügste" zu sein, vereint werden. Das staatliche System und alles, was als gut an diesem System erachtet wird, gilt als bürgerlich. Das staatliche Bildungswesen ist in den Besitz der Mittelschicht übergegangen - praktisch gehört es ihr -, sie formt es nach ihren eigenen Vorstellungen und nutzt es als Mittel zur Weitergabe bürgerlicher Werte. Diese Übernahme der Verantwortlichkeit bedeutet, dass die Mittelschicht trotz großer Worte um Chancengleichheit und einem Liebäugeln mit stärker integrierenden demokratischen Idealen stets darauf bedacht war, sich abzugrenzen und, metaphorisch gesprochen, die bildungsmäßige Zugbrücke vor der Nase jener hochzuziehen, die als bildungsmäßig unter ihnen stehend betrachtet werden. Dies war in Zeiten der Gymnasien in den 1950er und 1960er Jahren ganz offensichtlich, ist aber noch immer offenkundig im angeblich gerechteren Gesamtschulsystem heute. Kate, eine der jungen Mittelschichtsangehörigen in unserer Studie von 2007, die ihre Kinder in innerstädtische Gesamtschulen schicken: "Anfangs waren meine Freunde und ich total besorgt wegen all der 'Prolls' (chavs, ein abfälliger Ausdruck für die Arbeiterschicht), die es auf der weiterführenden Schule geben könnte, dass sie uns beim Lernen im Wege stehen könnten. Aber letztlich war es in Ordnung, weil wir nach dem ersten Jahr alle in die obersten Leistungskurse kamen und die alle in den untersten Kursen waren."

Die Lektion, welche junge Menschen der Mittelschicht auf dem wettkampforientierten britischen Bildungsmarkt zunehmend lernen, lautet, dass sie für den Großteil ihres Lebens darum kämpfen müssen, ihren Platz zu halten, dass unter ihnen eine Masse von Konkurrenten lauert - die es zwar etwas weniger verdient haben, aber doch nur darauf warten, ihren Platz einzunehmen. Ich habe bereits auf das Streben der Mittelschicht hingewiesen, die Besten und Klügsten sein zu wollen. In einer von mir vorgenommenen Untersuchung mit einer linksgerichteten liberalen Gruppe weißer englischer Mittelschichtseltern - offen genug, ihre Kinder auf sozial bunt gemischte innerstädtische Gesamtschulen zu schicken - wurden im Verlauf der 250 Befragungen 259 Verweise auf die Intelligenz gemacht, und zwar allesamt von den Befragten selbst und nicht etwa von den Interviewern, und alle mit Bezug auf ihre eigenen oder andere weiße Mittelschichtskinder.

Bildungserfahrungen der Arbeiterschicht

Heutzutage wird fälschlicher Weise davon ausgegangen, dass die Arbeiterschicht das gleiche Verhältnis zur Bildung hat wie die Mittelschicht. Es wäre unrealistisch, die Erfahrungen der Arbeiterschicht im britischen Bildungswesen als von Erfüllung und Charakterbildung im klassischen bürgerlichen Sinne geprägt darzustellen. Bildungserfahrungen der Arbeiterschicht liegt traditionell Versagen zu Grunde, nicht Erfolg. In erster Linie ist ihr Verhältnis zum staatlichen Schulwesen dadurch gekennzeichnet, dass es nicht ihr System ist - die Arbeiterschicht hat nicht das Gefühl, überhaupt Teil dieses Systems zu sein. Folglich erscheinen einzelne Aspekte der Schulausbildung als sinnlos und irrelevant, und es existieren umfangreiche Untersuchungen, die belegen, dass insbesondere weiße britische Jungen der Arbeiterschicht den offiziellen Schulunterricht als nutzlos empfinden. Anstelle des bürgerlichen Enthusiasmus für schulisches Lernen finden sich zumeist Pragmatismus und deutliche Überbleibsel einer historisch bedingten Einstellung zur Bildung, die offenbart, dass das Bildungssystem nicht ihres ist, nicht für sie da ist und sie und ihr kulturelles Wissen als minderwertig erachtet werden.

Micky Flanagan, ein beliebter englischer Comedian, der selbst aus der Arbeiterschicht stammt, sprach 2010 in seinem Programm auf BBC Radio 4 mit alten Schulfreunden über seine Erfahrungen als Londoner Gesamtschüler in den 1970er Jahren. Er scherzte, dass sie alle die Schule ohne Abschluss verlassen hätten, und fügte hinzu, dass er in der zweiten Klasse einen Aschenbecher und in der dritten Klasse einen Flaschenöffner hergestellt habe. Micky und seine Klassenkameraden schwelgten in Erinnerungen an Barry Hutton, den ehrgeizigsten Schüler der Klasse, weil er Lieferwagenfahrer werden wollte. Flanagan erzählte, wie die ganze Klasse Barry wegen seiner hoch fliegenden Träume verlacht habe, weil niemand aus ihrer Schule jemals einen Lieferwagen fahren werde. Sie waren allenfalls diejenigen, welche die Ladung vom Markt zum Wagen trugen - aber den Lieferwagen fuhren sie nie. Er schloss damit, dass Schule und Schulabschlüsse ihm und seinen Freunden einfach als völlig überflüssig erschienen.

Seit Flanagans Schulerfahrungen hat das Bildungswesen viele Veränderungen durchlaufen - in der Pädagogik, in den Formen der Beurteilung, bei den Schularten -, aber daran, wie britische Arbeiterkinder den Unterricht erleben, hat sich kaum etwas geändert. Der Joseph-Rowntree-Bericht über schlechte Schulleistungen kam zum Ergebnis, dass Arbeiterkinder bereits ab der Grundschule im Vergleich zu ihren bürgerlichen Mitschülern viel häufiger mangelnde Kontrolle über ihr Lernverhalten empfinden und dadurch immer weniger Bereitschaft zur Teilnahme am Unterricht zeigen. Dies beeinflusst schon in der Grundschule die Entwicklung unterschiedlicher schichtabhängiger Einstellungen gegenüber Bildung und bestimmt in starkem Maße das künftige Bildungsniveau der Kinder. Wenn Kinder aller sozialen Gruppen die Vorteile des Schulbesuchs sehen, so neigen Arbeiterkinder doch eher als andere zu Unsicherheit und Angst vor der Schule. In meinen Untersuchungen in englischen Schulen über einen Zeitraum von 20 Jahren sagten Arbeiterkinder häufig, sie fühlten sich dumm, schlecht oder unnütz; sie seien im Schulkontext "nichts wert". Und die Arbeiterkinder, die schulverdrossen wurden, entwickelten starke Widerstände gegen jede schlechte Behandlung und alles, was sie als ungerecht empfanden. Kenny sprach für viele Schüler aus der Arbeiterschicht: "Ja, als wenn sie denken, du bist blöd (...). Wir erwarten ja gar nicht, dass die Lehrer uns wie ihre eigenen Kinder behandeln. Sind wir schließlich nicht. Aber wir sind immer noch Kinder. Ich würde zu denen sagen: 'Sie haben doch Kinder. Denen bringen Sie Liebe entgegen, aber liebhaben müssen Sie uns ja gar nicht. Sie sollen uns einfach nur wie Menschen behandeln.'"

Die weißen Arbeiterjungen, die behaupten, wie wilde Tiere behandelt worden zu sein, stellen ein Extrembeispiel dar, aber Arbeiterkinder empfinden - rassen- und geschlechterübergreifend - oft ein stark ausgeprägtes Gefühl von Ungerechtigkeit hinsichtlich der Art und Weise, wie man sie behandelt. Dieser Eindruck bildet den Kern der sozialen Unterschiede in den Bildungsergebnissen. Die psychologische Forschung zeigt eindeutig, dass Leistung und Verhalten im Bildungskontext grundlegend dadurch beeinflusst werden können, wie wir glauben, dass wir von anderen gesehen und beurteilt werden. Wenn wir erwarten, als minderwertig betrachtet zu werden, dann scheinen unsere Fähigkeiten tatsächlich darunter zu leiden.

Und dennoch - heute werden wir alle als individuell verantwortlich für unsere Zukunft angesehen, und die meisten jungen Leute der Arbeiterschicht setzen trotz eines tief verwurzelten Gefühls, ungerecht behandelt zu werden, ihre Hoffnungen und Erwartungen weiter auf das Bildungssystem. Während sich Politiker mit den schlechten Leistungen der Arbeiterschicht beschäftigen und dabei vor allem einen scheinbaren Mangel an Erfolgsstreben bei Arbeiterfamilien konstatieren, zeigten Untersuchungen im Jahr 2009, dass eine viel größere Zahl der damals 14-jährigen Schüler und ihrer Eltern erwarteten, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen, als es dann tatsächlich der Fall war; die Diskrepanz zwischen der subjektiven Wahrnehmung und der Umsetzung dieses Ziels war dabei in der Arbeiterschicht am größten. Eine Statistik aus demselben Jahr belegte sogar, dass 22 Prozent der 16- bis 19-jährigen Angehörigen der Arbeiterschicht funktionell nicht rechnen können und 18 Prozent Analphabeten sind.

Das Verhältnis zur Bildung unterscheidet sich in verschiedenen Gruppierungen innerhalb einer Schicht stark in Bezug auf die Selbst- und die Außenwahrnehmung, ebenso hinsichtlich der Frage, wie sich ihr Verhältnis zur Bildung entwickelt hat. Die weiße Arbeiterschicht hat ein anderes Verhältnis zur Bildung als viele ethnische Minderheitengruppen innerhalb der Arbeiterschicht. Während bei der weißen Arbeiterschicht oftmals ein kollektives Gedächtnis hinsichtlich schulischer Benachteiligung und Ausgrenzung besteht, bringen einige ethnische Minderheiten bildungsmäßige Erfolgsgeschichten aus ihrem Herkunftsland mit, obgleich Migration häufig Verarmung und gesellschaftlichen Abstieg bedeutet. Andere wiederum sind trotz fehlender Bildungsabschlüsse fest davon überzeugt, dass ihnen ein Neuanfang in einem anderen Bildungssystem entscheidende Chancen für eine schulische Förderung bietet, die ihren Eltern einst vorenthalten worden waren. Wieder andere ethnische Minderheitengruppen wie beispielsweise die afrokaribische haben sich wie die weiße Arbeiterschicht mit ihrem Bildungsversagen abgefunden - in diesem Fall noch begleitet von Rassismus. Diese verschiedenen ethnischen Gruppen werden in der Vorstellungswelt der weißen Mittelschicht sehr unterschiedlich wahrgenommen: Die weiße Arbeiterschicht wird oft als "zu weiß" ethnisiert und als "weißer Müll" bezeichnet, wie wir oben in Kates Zitat sahen, wohingegen einige ethnische Minderheitengruppen wie Chinesen und Inder als "akzeptable" Arbeiterklasse herausgestellt werden.

Es gilt zu bedenken, dass Gesellschaftsschichten immer auch ethnisch und geschlechtsspezifisch definiert sind. Dies wird deutlich an dem Ausmaß, in dem Mädchen schichtübergreifend stärker unter schulischen Versagensängsten leiden als Jungen. Insgesamt stellen Mädchen dennoch die Erfolgsgeschichte des Bildungswesens in Großbritannien dar, wobei weiße Mädchen in jedem Abschnitt des Bildungsweges von der Grundschule bis zur Universität besser abschneiden als andere Gruppen, einschließlich weißer Jungen. Genau genommen liegt es an der derzeitigen, moralisch begründeten Panik vor dem schlechten Abschneiden schwarzer und weißer Arbeiterjungen, dass bestimmte Kombinationen aus Klasse, Rasse und Geschlecht so stark an Bedeutung gewonnen haben. In Großbritannien haben Medien und Politik aufgrund der männlichen Jugendlichen der Arbeiterschicht, die zu einer ungebildeten und unzufriedenen Unterschicht werden, Alarm geschlagen. Diese Situation ist durch Hochschulabsolventen verschärft worden, die jetzt Stellen auf dem Arbeitsmarkt annehmen, welche zuvor Arbeitskräften ohne Hochschulabschluss vorbehalten waren. Infolgedessen stieg die Arbeitslosigkeit in der Gruppe der jungen weißen männlichen Arbeiter in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent. Beim Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit auf 31,7 Prozent in der Gruppe der 16- bis 18-Jährigen, die damit sogar noch höher ist als die derzeit bei 29 Prozent liegende Jugendarbeitslosenquote in den USA, sind junge Männer doppelt so oft von Arbeitslosigkeit betroffen wie junge Frauen. Ethnizität macht dabei einen gravierenden Unterschied aus, denn die Arbeitslosigkeit unter schwarzen Jugendlichen ist seit 2008 um 13 Prozentpunkte auf 48 Prozent gestiegen.

Fortbestehende Bildungsungleichheit

Im Juli 2010 erläuterte der neue Bildungsminister der liberal-konservativen Koalition, Michael Gove, in einer seiner ersten Reden Untersuchungsergebnisse, wonach Mittelschichtskinder mit niedrigen kognitiven Fähigkeiten Arbeiterkinder mit hohen kognitiven Fähigkeiten im Alter von etwa sechs oder sieben Jahren überholen und dass sich die Lücke im Laufe der Schulzeit immer weiter vergrößert. Einen Monat später vertrat er in der "Sunday Times" die Ansicht, dass England eines der stratifiziertesten und segregiertesten Bildungssysteme der Welt aufweise; die Kluft zwischen den Privatschulen und dem staatlichen Schulwesen sei so breit wie fast nirgendwo sonst in der entwickelten Welt. Warum also bestehen in Großbritannien weiterhin so hartnäckige Bildungsungleichheiten, die Reformen gegenüber immun erscheinen? Zum einen liegt es an der Einstellung: Die Haltung der Oberschicht gegenüber der Arbeiterschicht hat sich zwar gewandelt, ist aber noch immer stark beeinflusst durch ein kulturell bedingtes Verständnis der Gesellschaftsschichten. Die Sicht der Elite auf die Arbeiterschicht hat sich dahingehend verändert, dass sie statt als wilde und undisziplinierte Masse nun als Gruppe von Individuen angesehen wird, die mehr Eigenverantwortung für ihr Leben übernehmen müssten. Sowohl Medien als auch Politiker sind in Bezug auf mangelhafte Bildungsleistungen der Arbeiterschicht ganz auf kulturelle Aspekte fokussiert.

Abgesehen von den politischen und medialen Eliten vertritt auch die Mehrheit der Bevölkerung die Auffassung, dass gesellschaftliche Stellung und Armut auf den Lebensstil zurückzuführen seien: Jeder, der wolle - und sich nur genug darum bemühe -, könne zur Mittelschicht gehören. Ein 2009 veröffentlichter Bericht der Fabian Society belegt, dass wertende Einstellungen in der Mittelschicht noch genauso verbreitet sind wie vor 100 oder gar 200 Jahren. In der Untersuchung stimmten 70 Prozent der Befragten der These zu, dass "es für praktisch jeden reichlich Gelegenheit gibt, etwas aus seinem Leben zu machen, wenn man es denn wirklich will. Es kommt letztlich auf den Einzelnen an und wie motiviert dieser ist." Nur 30 Prozent waren der Ansicht, dass manche Menschen sich unüberwindbaren Hindernissen gegenübersehen. Laut der jüngsten Mori-Umfrage von 2010 glauben nur 38 Prozent der Briten, dass die Regierung eine Umverteilung vornehmen sollte, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. In beiden Erhebungen wurden höchst originelle Erklärungen der ungleichen Ergebnisse mit negativen und ablehnenden Haltungen gegenüber den gesellschaftlich untersten Schichten kombiniert. Durch derartige kulturelle Sichtweisen auf mangelnde Leistungen der Arbeiterschicht werden das Augenmerk und Schuldzuweisungen von Politik und Praktiken der gesellschaftlich Einflussreichen auf die Machtloseren geschoben.

Einen weiteren problematischen Bereich bildet die britische Wirtschaft. Einer verbreiteten Ansicht nach ist die Arbeiterschicht stark geschrumpft. Natürlich verändern sich Gesellschaftsschichten hinsichtlich ihrer Zusammensetzung und Größe im Laufe der Zeit, und die Zahl der Arbeiter in der verarbeitenden Industrie ist im Laufe des 20. Jahrhunderts tatsächlich rapide zurückgegangen. Verstehen wir jedoch die Arbeiterschicht als Kategorie des Arbeitsmarktes - und als solche ist sie von jeher verstanden worden -, dann machen einfache Arbeiter immer noch 38 Prozent der Erwerbstätigen aus. Schließt man zusätzlich Vertriebsmitarbeiter und Beschäftigte im Einzelhandel sowie die Arbeitslosen mit ein, dann beläuft sich die Arbeiterschicht auf etwa 50 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Entgegen der weitläufigen Meinung in Großbritannien ist die verachtete Unterschicht also gar nicht so klein - und somit sind wir längst nicht alle bereits bürgerlich.

Anstelle des Mythos einer endlos expandierenden Mittelschicht sehen wir in Wirklichkeit eine noch immer maßgebliche und große Arbeitergruppe - all die Putzkräfte, Kindermädchen und Beschäftigten im Dienstleistungssektor, auf welche die zunehmend wohlhabende Mittel- und Oberschicht zugunsten ihrer Freizeitgestaltung angewiesen ist. Ein potentieller und damit zusammenhängender Wirtschaftsfaktor ist die wachsende relative Armut der Arbeiterschicht: Die wirtschaftliche Ungleichheit ist in Großbritannien im Laufe der vergangenen 25 Jahre immer weiter gestiegen. So nahm die wirtschaftliche Schieflage beispielsweise zwischen 1986 und 1995, gemessen am Gini-Koeffizienten (statistische Einheit zur Messung gesellschaftlicher Ungleichheit), um 28 Prozent zu - stärker als in den USA und sehr viel stärker als in den nordischen Ländern. Im Jahr 2007 befand sich Großbritannien in Bezug auf die Einkommensungleichheit unter den ersten fünf der 25 EU-Länder. Auch die Vermögensungleichheit stieg unter der Labour-Regierung; diese Entwicklung wird sich unter der liberal-konservativen Koalition beschleunigen. John Hills' Bericht für die London School of Economics zufolge geht es den reichsten zehn Prozent in Großbritannien heute mehr als 100-Mal besser als den untersten zehn Prozent. Zudem deuten Belege aus der Vergangenheit darauf hin, dass Rezession die Arbeiterschicht stärker trifft als die Mittelschicht. Es steht somit zu befürchten, dass sich die Bildungschancen für die Arbeiterschicht bei Zunahme wirtschaftlicher Ungleichheit im nächsten Jahrzehnt entsprechend weiter verringern.

Einstellungen und wirtschaftliche Faktoren werden durch eine stark individualistische Wettbewerbskultur sowie den Einfluss neoliberaler Werte auf die Bildungspolitik verstärkt. In einer wettbewerbs- und marktorientierten Gesellschaft wie der britischen herrscht mehr Territorialismus - Individuen kämpfen um ihren sozialen Raum und verteidigen diesen gleichzeitig. Soziale Mobilität ist in erster Linie relational. Wir können nicht alle zur Mittel- oder gar Oberschicht gehören, und in der britischen Gesellschaft, in der es mehr Hochschulabsolventen als entsprechende Stellenangebote gibt, ist sozialer Aufstieg nur bei gleichzeitigem Abstieg anderer möglich. Gegenwärtige Initiativen zur Förderung sozialer Mobilität richten sich ausschließlich auf die Arbeiterschicht und vernachlässigen dabei den relationalen Aspekt sozialer Mobilität; außerdem übersehen sie die Tatsache, dass die Mittelschicht verbissen an der Verteidigung ihrer sozialen Reproduktion arbeitet. Wann immer sich also die Leistung der Arbeiterschicht verbessert - und das tut sie beständig schon seit langer Zeit -, schreitet auch die Mittelschicht voran, und relative Errungenschaften bleiben unverändert. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz geht Anthony Giddens sogar so weit zu behaupten, dass "die soziale Mobilität der Arbeiterschicht davon abhängen wird, die bürgerlichen Bildungsfortschritte nach oben hin zu begrenzen". Mit anderen Worten: Die schulischen Leistungen der Arbeiterkinder zu verbessern führt nicht automatisch zu sozialem Aufstieg, solange die Mittelschicht weiterhin ihren Vorsprung hält. Wenn sich die Politik nur auf die Arbeiterschicht konzentriert, sind ihre Erfolgsaussichten äußerst gering, da die Mittel- und die Oberschicht immer Wege finden werden, ihren Vorsprung zu verteidigen.

Eine Vorgehensweise, welche die Mittelschicht sehr erfolgreich bei ihrer Strategie der Positionsverteidigung anwendet, ist die freie Schulwahl durch die Eltern. Deren zunehmende Bedeutung hat fatale Wirkung auf die Bildungssituation: Obgleich Wahlfreiheit zu einem beliebten Schlagwort im Bildungswesen geworden ist, setzt sich die Arbeiterschicht überwiegend aus jenen zusammen, die eben keine "Wahl" treffen können. Das mag daran liegen, dass sie aus den besten Schuleinzugsgebieten verdrängt werden (weil sie sich kein Haus in einem "guten" Einzugsgebiet leisten können) oder weil sie nicht über die nötige Einsicht verfügen, um Informationen zu den verschiedenen Schulen im Detail zu erfassen und zu ihrem Vorteil zu nutzen. Eine Folge des auf freier Wahl basierenden Systems ist, dass für die Arbeiterschicht weitgehend die Schulen übrig bleiben, an denen die Mittelschicht kein Interesse hat.

Ein höheres Bewusstsein für den gesellschaftlichen Wettbewerb, die Wirtschaft und eine höchst individualisierte, konkurrenzorientierte neoliberale Kultur bilden mächtige und tief verwurzelte Barrieren zu größerer Bildungsgleichheit. Das Ergebnis ist ein polarisiertes Bildungswesen, das noch immer von einer klassenmäßig stark gespaltenen Gesellschaft gezeichnet ist, auf welche die endlosen Initiativen der Politik mit ihren Versprechungen, größere soziale Mobilität und soziale Gerechtigkeit zu fördern, bisher kaum Einfluss nehmen konnten. Ende August 2010 startete Vize-Premierminister Nick Clegg eine weitere Initiative zur Verbesserung der sozialen Mobilität und räumte dabei ein, dass "Geburt und Schicksal für zu viele eng miteinander verknüpft" seien, wodurch Ungleichheit zu "sozialer Segregation" werde. Es scheint so, als ob sich die Dinge in Bezug auf Gesellschaftsschichten im britischen Bildungswesen umso weniger ändern, je mehr sie sich wandeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Roald Dahl, Boy. Tales of Childhood, London 1984, S. 17.

  2. Vgl. Diane Reay/Gill Crozier/David James, White Middle Class Identities and Urban Schooling, London 2011 (i.E.).

  3. George Monbiot, Plan after plan fails to make Oxbridge access fair, in: The Guardian vom 24.5.2010, online: www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/
    may/24/oxbridge-access-fair-top-
    universities (2.11.2010).

  4. Vgl. The Sutton Trust, The Educational Backgrounds of Leading Lawyers, Journalists, Vice Chancellors, Politicians, Medics and Chief Executives, London 2009.

  5. Vgl. Louise Bamfield/Tim Horton, Understanding Attitudes to Tackling Economic Inequality, London 2009.

  6. Vgl. John Hills, An Anatomy of Economic Inequality in the UK - Report of the National Equality Panel. London School of Economics, The Centre for the Analysis of Social Exclusion, London 2010.

  7. Anthony Giddens, You need greater equality to achieve more social mobility, in: The Guardian vom 24.5.2007, online: www.guardian.co.uk/commentisfree/2007/
    may/24/comment.politics (2.11.2010).

Professorin für Erziehungswissenschaft, Faculty of Education, University of Cambridge, 184 Hills Road, Cambridge CB2 8PQ, England/UK. E-Mail Link: dr311@cam.ac.uk