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Kiezdeutsch - ein neuer Dialekt

Heike Wiese

/ 15 Minuten zu lesen

Kiezdeutsch ist kein "falsches" Deutsch. Es ist ein neuer Dialekt des Deutschen, der sich in Wohngebieten mit hohem Migrantenanteil unter Jugendlichen entwickelt hat und in sich stimmig ist.

Einleitung

Etwa seit Mitte der 1990er Jahre ist mit "Kiezdeutsch" eine Jugendsprache in den Blick der Öffentlichkeit getreten, die sich in Wohngebieten mit hohem Migrantenanteil ausgebildet hat. Hier einige Beispiele aus diesem Sprachgebrauch: "Lassma Viktoriapark gehen, Lan." / "Ich höre Alpa Gun, weil der so aus Schöneberg kommt." / "Ich hab meiner Mutter so Zunge rausgestreckt, so aus Spaß. Wallah." Wie diese Sätze illustrieren, weicht Kiezdeutsch in verschiedenen Bereichen vom Standarddeutschen ab. Entgegen einer verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung ist es jedoch kein gebrochenes Deutsch, sondern begründet einen neuen, urbanen Dialekt des Deutschen, der - ebenso wie andere deutsche Dialekte auch - systematische sprachliche Besonderheiten in Bereichen wie Aussprache, Wortwahl und Grammatik aufweist.


Begriff "Kiezdeutsch"

In der öffentlichen Diskussion werden zum Teil auch andere Bezeichnungen verwendet, etwa "Kanak Sprak", ein Begriff der besonders in den Comedybereich Eingang gefunden hat. "Kiezdeutsch", die Bezeichnung, die hier benutzt wird, ist aus mehreren Gründen besonders passend für diese Jugendsprache. Zum einen macht sie deutlich, dass wir es mit einer Varietät des Deutschen zu tun haben. Zum anderen weist sie darauf hin, dass diese Jugendsprache im Kiez beheimatet ist, der im Berlinerischen ein alltägliches Wohnumfeld identifiziert, dass es sich also um eine informelle, alltagssprachliche Form des Deutschen handelt. Schließlich beinhaltet der Begriff keine ethnische Eingrenzung und kann so erfassen, dass Kiezdeutsch nicht nur von Sprecherinnen und Sprechern einer bestimmten Herkunft gesprochen wird.

Demgegenüber fasst eine Bezeichnung wie "Kanak Sprak" zunächst nur Jugendliche nicht-deutscher Herkunft in den Blick und tut dies auf eine stark herabsetzende Weise. Der Gebrauch des Ausdrucks "Kanak Sprak" war zwar ursprünglich als Rückeroberung eines negativ besetzten Begriffs im Rahmen politischer Migrantenbewegungen motiviert. Wie sprachideologische Untersuchungen betonen, sind die herabsetzenden Assoziationen zu "Kanak" aber erhalten geblieben. Ich verwende daher ausschließlich den Begriff "Kiezdeutsch", der solche negativen Vorabbewertungen vermeidet und mittlerweile auch in der politischen Diskussion gut eingeführt ist.

Wer spricht Kiezdeutsch?

Jugendsprachen hat es schon immer gegeben; das Besondere an Kiezdeutsch ist, dass sich diese Jugendsprache im Kontakt unterschiedlicher Sprachen entwickelt hat. Ähnliche Jugendsprachen gibt es auch in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in den Niederlanden, in Dänemark und in Schweden. Kiezdeutsch ist also kein isoliertes deutsches Phänomen. In den Niederlanden wird die betreffende Jugendsprache Straattaal genannt, wörtlich "Straßensprache"; in Schweden spricht man von Rinkeby-Svenska, benannt nach Rinkeby, einem Stockholmer Vorort mit hohem Migrantenanteil; in Dänemark ist eine solche Jugendsprache als K?benhavnsk Multietnolekt bekannt.

All diesen Jugendsprachen ist gemeinsam, dass sie nicht auf Jugendliche mit Migrationshintergrund beschränkt und auch nicht für Sprecher einer bestimmten Herkunftssprache typisch sind (etwa Türkisch), sondern sich im gemeinsamen Alltag junger Menschen unterschiedlicher Herkunft entwickelt haben. Man spricht daher auch von "Multiethnolekten", ein Begriff der die ethnische Vielfalt der Sprecher betont. Kiezdeutsch ist somit nicht etwa ein Zeichen fehlender Integration "ausländischer" Jugendlicher, sondern hat sich gerade in gemischten Gruppen Jugendlicher deutscher und nicht-deutscher Herkunft entwickelt. Kiezdeutsch ist damit ein Zeichen für eine besonders gelungene sprachliche Integration: ein Beitrag aus multiethnischen Wohngebieten, an dem Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen beteiligt sind.

Diese Integration macht Kiezdeutsch zu einem besonders interessanten sprachlichen Phänomen. Mit anderen Jugendsprachen teilt es Charakteristika wie etwa die bevorzugte Verwendung innerhalb einer Gruppe Gleichaltriger, die Abgrenzung gegenüber Erwachsenen oder auf sprachlicher Ebene zum Beispiel den Einfluss des US-Amerikanischen. Im Vergleich zu anderen Jugendsprachen finden wir in Kiezdeutsch aber eine besondere grammatische Dynamik, die durch die vielsprachigen Kompetenzen seiner Sprecher gestützt wird.

Viele Sprecher von Kiezdeutsch beherrschen neben dem Deutschen noch eine oder sogar mehrere andere Sprachen fließend. So mag jemand, der Kiezdeutsch mit seinen Freunden spricht, vielleicht kurdisch mit seiner Großmutter sprechen, arabisch mit dem Großvater und der Mutter und deutsch mit dem Vater. Ein anderer Jugendlicher, der Kiezdeutsch spricht, mag deutscher Herkunft sein und zu Hause nur deutsch sprechen, aber von seinen Freunden oder deren Eltern etwas Türkisch gelernt haben. Diese vielsprachigen Kompetenzen erzeugen ein Umfeld, das sprachliche Innovationen besonders begünstigt. Kiezdeutsch konnte sich so zu einem Dialekt des Deutschen entwickeln, der in relativ kurzer Zeit besonders viele sprachliche Neuerungen hervorgebracht hat.

Bedroht Kiezdeutsch das Deutsche?

Die sprachlichen Neuerungen liefern in der öffentlichen Diskussion zu Kiezdeutsch mitunter Anlass für massive Sprachkritik. Kiezdeutsch wird als "gebrochenes Deutsch" angesehen, als aggressives "Gossen-Stakkato", das auf "Spracharmut" und "sprachliches Unvermögen" hinweise, als eine "Verhunzung des Deutschen", die zum "Verfall unserer Sprache" beitrage. Kritik an Jugendsprache hat es selbstverständlich schon immer gegeben - schließlich ist eine der Funktionen von Jugendsprache die Abgrenzung gegenüber den Älteren. Im Fall einer multiethnischen Jugendsprache wie Kiezdeutsch findet sich darüber hinaus aber oft eine deutliche gesellschaftspolitische Komponente, die neben der Sorge um das Deutsche zum Teil in dem Vorwurf gipfelt, wer als Jugendlicher nicht-deutscher Herkunft Kiezdeutsch spreche, zeige damit zumindest einen mangelnden Integrationswillen, wenn nicht gar seine Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Sprache.

Man muss sich hier aber klar machen, dass es nicht das eine Deutsch gibt, sondern dass die deutsche Sprache, wie jede Sprache, ein Spektrum unterschiedlicher Dialekte und Stile umfasst, und die Entwicklung von Jugendsprachen ist ein Aspekt davon. Wir alle beherrschen mehrere Elemente dieses Spektrums und sprechen beispielsweise neben dem Standarddeutschen noch eine regional gefärbte Varietät oder einen Dialekt, und wir sprechen ein stärker umgangssprachliches Deutsch mit der Familie oder mit Freunden als etwa mit Vorgesetzten oder bei einer Prüfung. Ebenso ist Kiezdeutsch nur ein Teil des sprachlichen Repertoires von Jugendlichen: Kiezdeutsch wird unter Freunden gesprochen, aber nicht mit Eltern, Lehrern usw.

Kiezdeutsch stellt somit grundsätzlich keine Bedrohung für das Deutsche dar: Auf der Ebene seiner Sprecher ist es Teil eines größeren sprachlichen Repertoires, auf der Ebene des Sprachsystems einer von vielen Dialekten des Deutschen - lediglich mit der Besonderheit, dass es sich hier um einen Dialekt handelt, der überregional im multiethnischen urbanen Raum beheimatet ist. Daher ist es auch nicht überraschend, dass wir ganz ähnlichen Vorurteilen und Befürchtungen gegenüber Kiezdeutsch begegnen, wie sie auch gegenüber traditionellen Dialekten verbreitet waren und zum Teil noch sind. Ebenso wie das Hessische oder das Bayerische jedoch nicht eine Bedrohung des Deutschen, sondern eine Bereicherung des deutschen Varietätenspektrums darstellen, beeinträchtigt auch Kiezdeutsch die deutsche Sprache nicht in ihrer grammatischen Integrität, sondern fügt ihrem Spektrum ein neues Element hinzu. Und ebenso wie der Gebrauch des Hessischen oder des Bayerischen nicht einen gescheiterten Versuch darstellt, Standarddeutsch zu sprechen, so weist auch die Verwendung von Kiezdeutsch nicht auf mangelnde Sprachkompetenzen hin.

Kiezdeutsch ist somit keine formelhafte, grammatisch reduzierte Sprache, die sich in ritualisierten Drohgebärden erschöpft, wie sie oft karikaturhaft zitiert werden ("Was guckst du? Bin ich Kino?" "Ich mach dich Messer!"). Wie jeder andere Dialekt unterscheidet sich auch Kiezdeutsch von der deutschen Standardsprache. Diese Unterschiede weisen jedoch nicht auf "gebrochenes Deutsch", sondern bilden ein eigenständiges System und sind Bestandteil einer eigenen Varietätengrammatik: Wir finden in Kiezdeutsch nicht bloß sprachliche Vereinfachung, sondern eine systematische, produktive Erweiterung des Standarddeutschen.

Was ist typisch für Kiezdeutsch?

Wie die Beispiele vom Anfang zeigen, finden sich in Kiezdeutsch unter anderem Neuerungen in zwei Bereichen: Erstens werden neue Wörter verwendet, die etwa aus dem Türkischen oder Arabischen stammen, wie "Lan" (wörtlich "Mann/Typ") oder "wallah" (wörtlich "und Allah"). Diese Ausdrücke machen Kiezdeutsch nicht zu einer türkisch-deutschen oder deutsch-arabischen Mischsprache, wie manchmal angenommen wird, sondern werden als neue Fremdwörter integriert: Sie werden nach den Regeln der deutschen Grammatik verwendet ("Lan" zum Beispiel so ähnlich wie "Alter" in der Jugendsprache, "wallah" so ähnlich wie "echt"), und ihre Aussprache wird eingedeutscht. Als Fremdwörter werden sie von Sprechern unterschiedlicher Herkunft gleichermaßen benutzt, auch von solchen, die neben Deutsch keine weitere Familiensprache haben und zum Beispiel kein Arabisch oder Türkisch beherrschen: Genauso, wie zum Beispiel keine Englischkenntnisse dafür nötig sind, das Wort "Computer" im Deutschen zu gebrauchen, kann man "Lan" auch verwenden, ohne fließend türkisch zu sprechen.

Ein zweiter Bereich sprachlicher Neuerungen zeigt sich auf grammatischer Ebene, im Entstehen neuer Konstruktionen. Wie bei anderen Dialekten auch folgen diese Konstruktionen bestimmten Regeln und sind nicht darauf zurückzuführen, dass Sprecher nicht "richtig deutsch" sprechen könnten. Einige der grammatischen Neuerungen könnten auf den ersten Blick wie bloße Vereinfachungen wirken, etwa in den Beispielen "Das ist mein Schule" und "Hast du Handy?" Im ersten Satz hätte das Possessivpronomen "mein" im Standarddeutschen eine Flexionsendung ("meine Schule"), im zweiten Satz stünde im Standarddeutschen ein Artikel ("ein Handy"). Diese Unterschiede könnten zwar nahelegen, dass Kiezdeutsch so etwas wie eine grammatisch reduzierte Form des Standarddeutschen ist. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist.

Grundsätzlich können wir in der Entwicklung des Deutschen (und nicht nur dort) die Tendenz beobachten, dass Flexionsendungen und funktionale Elemente wie der Artikel "ein" verkürzt werden oder entfallen. So heißt es im heutigen Deutsch nicht mehr "dem Manne", sondern "dem Mann", ohne nominale Kasusendung; im gesprochenen Deutsch entfallen Personalendungen von Verben häufig in der ersten Person Singular, etwa "ich sag" statt "ich sage", und der indefinite Artikel "ein" wird oft stark reduziert und an das vorhergehende Wort gehängt: "Hast du'n Handy?"

Diese Tendenz des Deutschen spiegelt sich auch in Kiezdeutsch wider: Die Verkürzungen, die wir dort finden, sind im System des Deutschen bereits angelegt; sie bringen kein fremdes Element der grammatischen Reduktion von außen hinein, sondern führen eine bereits vorhandene sprachliche Entwicklung des Deutschen weiter. Eine solche Weiterführung ist charakteristisch für Dialekte, die oft dynamischer und innovativer sind als die Standardsprache, da sie keiner so starken schriftsprachlichen Normierung unterworfen sind.

Verkürzungen sind zudem nur die eine Seite der Medaille: Ergänzend zu grammatischen Vereinfachungen und oft im Zusammenspiel mit diesen entstehen in Kiezdeutsch auch neue sprachliche Formen und Konstruktionsmuster. Wenn wir einen Ausdruck wie "lassma" aus dem ersten Beispielsatz ganz am Anfang im sprachlichen System von Kiezdeutsch untersuchen, dann finden wir einen zweiten Ausdruck, "musstu", der sich ganz ähnlich wie "lassma" verhält. Beide Wörter, entstanden aus "lass uns mal" bzw. "musst du", leiten Aufforderungen ein, wie der Satz vom Anfang und das folgende Parallelbeispiel mit "musstu" illustrieren: "Lassma Viktoriapark gehen!" / "Musstu hier anhalten!"

Wir können hier die Entstehung von zwei neuen Aufforderungpartikeln beobachten, also festen, unflektierten Ausdrücken, die signalisieren, dass der Satz, in dem sie auftreten, als Vorschlag oder Aufforderung zu verstehen ist. Die Entwicklung solcher Partikeln ist ein Phänomen, für das es auch andere Beispiele aus der Geschichte des Deutschen gibt: So ist im Standarddeutschen die Partikel "bitte" auf ganz ähnliche Weise aus der ursprünglich komplexen, flektierten Form "(ich) bitte" entstanden.

In standarddeutschen Konstruktionen wie "Dann musst du hier anhalten" ist "musst" eine Singularform, kann sich also nur an einen einzelnen Hörer richten. In Kiezdeutsch ist die Entwicklung von "musstu" zu einer festen Partikel schon so weit fortgeschritten, dass "musstu" auch gegenüber mehreren Hörern gebraucht werden kann, also in Kontexten, in denen im Standarddeutschen "müsst ihr" verwendet würde. Interessanterweise ist in Kiezdeutsch nicht nur ein einzelner neuer Ausdruck entstanden, sondern es bildet sich bereits ein neues grammatisches Subsystem, in denen die beiden Aufforderungspartikeln unterschiedliche, sich ergänzende Funktionen erfüllen: "lassma" leitet Aufforderungen ein, die den Sprecher selbst einbeziehen (Wir-Vorschläge), "musstu" leitet dagegen Aufforderungen ein, die nur dem Hörer bzw. den Hörern gelten (Du/Ihr-Vorschläge).

"Musstu" und "lassma" gehen auf zwei Verben zurück, die mit Infinitiven kombiniert werden, nämlich "müssen" und "lassen". Durch die Entwicklung von "musstu" und "lassma" zu festen Wörtern erhalten wir in Kiezdeutsch Sätze, in denen diese Partikeln nun von Infinitiven gefolgt werden ("Viktoriaplatz gehen", "hier anhalten"). Dieses Schema passt ebenfalls gut in das grammatische System des Deutschen: Aufforderungen können typischerweise durch Infinitivkonstruktionen ausgedrückt werden, zum Beispiel "Bei Rot hier anhalten". Ein kiezdeutscher Satz wie "Musstu anhalten" ist damit in seinem Aufbau parallel zu einem standarddeutschen Satz wie "Bitte anhalten", in dem ebenfalls eine Partikel mit einer Infinitivkonstruktion kombiniert wird. Wir haben es hier also mit einer Entwicklung in Kiezdeutsch zu tun, die sich in das grammatische System des Deutschen einpasst.

Die Verwendung von "Viktoriapark" als bloßes Nomen ohne Artikel und Präposition im Satz "Lassma Viktoriapark gehen" verweist auf ein weiteres Phänomen, das diese Einpassung von Kiezdeutsch verdeutlicht. Auf den ersten Blick mag die Konstruktion wie eine willkürliche Vereinfachung wirken. Zum einen treten solche bloßen Nomen jedoch systematisch als Orts- und Zeitangaben auf. Zum anderen findet man ähnliche Wendungen auch in der gesprochenen Sprache außerhalb von Kiezdeutsch, ein Hinweis auf die Verankerung dieser Option im System des Deutschen. Im informellen gesprochenen Deutsch werden solche Konstruktionen zum Beispiel im Berliner Raum regelmäßig bei der Bezeichnung von Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel verwendet. Hier zwei Antworten, die Studierende eines Grammatikseminars erhielten, als sie an unterschiedlichen Orten Berlins nach dem Weg fragten: "Dann steigen Sie Mollstraße aus." (statt "an der Mollstraße") / "Sind wir schon Zoo?" (statt "am Zoo").

Äußerungen wie diese sind keine Ausnahmen, sondern illustrieren ein gut etabliertes Phänomen: Fast zwei Drittel der Antworten in dieser Studie hatten diese Form. Das bedeutet, dass es in der gesprochenen Sprache fast schon ungrammatisch ist, hier Artikel und Präposition zu benutzen! Im informellen Standarddeutsch scheint diese Art von Ortsangabe auf Haltestellen beschränkt zu sein, während es in Kiezdeutsch diese Einschränkung nicht gibt. Wir finden hier also eine Neuerung in Kiezdeutsch, die entsteht, indem eine grammatische Möglichkeit des Deutschen in ihrem Anwendungsbereich erweitert wird.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal von Kiezdeutsch ist die Verwendung von "so" an Stellen, an denen man es im Standarddeutschen nicht erwarten würde. Hier zur Verdeutlichung noch einmal zwei der Beispielsätze aus der Einleitung: "Ich höre Alpa Gun, weil der so aus Schöneberg kommt." / "Ich hab meiner Mutter so Zunge rausgestreckt, so aus Spaß."

Im Standarddeutschen hat die Partikel "so" mehrere Funktionen, insbesondere kann sie Vergleichsrelationen ausdrücken ("So schnell wie Anja") und Intensität markieren ("So hoch!"). In der gesprochenen Sprache wird "so" darüber hinaus als sogenannter Quotativmarker verwendet, zur Einleitung von Zitaten ("Ich dann so: ,Was ist denn hier los?"). Gemeinsam ist diesen Funktionen, dass "so" einen Bedeutungsbeitrag leistet, der auf "Wie?" antwortet und umschrieben werden kann mit "auf diese Art".

In Kiezdeutsch kommt noch eine neue Funktion hinzu, bei der dieser Bedeutungsbeitrag dann entfällt: In den Beispielen steht "So" jeweils vor dem sogenannten Fokus des Satzes, jenem Teil, der die neue, besonders hervorzuhebende Information liefert. Im ersten Beispiel ist dies "aus Schöneberg": Diese Ortsangabe liefert die besonders hervorgehobene Information, sie gibt den Grund an, aus dem die Sprecherin den Rap-Sänger Alpa Gun besonders mag. Im zweiten Beispiel ist die wichtige Information im ersten Teil die Handlung "Zunge rausgestreckt", im zweiten Teil die Information, dass dies "aus Spaß" geschah. In allen Fällen markiert "so" den jeweiligen Fokusausdruck.

Grundsätzlich wird der Fokus eines Satzes im Deutschen zum einen durch die Intonation markiert: Der Fokusausdruck wird am stärksten betont, er erhält den Satzakzent. Zum anderen wird Fokus durch die Wortstellung unterstützt: Fokusausdrücke stehen oft in hervorgehobener Position am Ende des Satzes. In Kiezdeutsch entwickelt sich mit "so" eine weitere Option, die das Standarddeutsche nicht hat, nämlich die Verwendung eines Fokusmarkers. Als solcher liefert "so" keine zusätzliche Bedeutung für den Satz. Man spricht in einem solchen Fall daher von "Grammatikalisierung": ein Verlust von Bedeutung zu Gunsten einer rein grammatischen oder pragmatischen Funktion.

Ein Beispiel für Grammatikalisierung im Standarddeutschen ist die Verwendung der Partikel "zu". In Konstruktionen wie "Sie liest Krimis zur Entspannung" begründet "zu" eine Finalangabe, die das Ziel oder den Zweck einer Handlung angibt, liefert also Bedeutungsanteile für den Satz. In Infinitivkonstruktionen wie "Sie glaubt zu träumen" ist "zu" demgegenüber grammatikalisiert: "zu" trägt nicht mehr zur Bedeutung bei, sondern ist hier ein reiner Infinitivmarker.

Die Verwendung von "so" als Fokusmarker scheint nicht auf Kiezdeutsch beschränkt zu sein, sondern auch in anderen umgangssprachlichen Varianten des Deutschen vorzukommen, wenn auch möglicherweise nicht so häufig. Hier ein Beispiel aus einem Internetchat: G.: "was suchst du im chat?" - L.: "so coole leute zum kennenlernen". Ein weiteres Beispiel kommt aus einer Talkshow, in der der Moderator Johannes B. Kerner die Autorin Charlotte Roche fragt, von wem sie auf ihr neues Buch angesprochen wird: "So auch auf der Straße kommen die Leute, oder sind das hauptsächlich Journalisten?"

In beiden Fällen wird "so" als Fokusmarker verwendet: Es trägt keine inhaltliche Bedeutung, sondern markiert jeweils die Ausdrücke, die die wichtige, besonders hervorzuhebende Information liefern, nämlich "coole Leute" im ersten und "auch auf der Straße" im zweiten Beispiel. Die Entwicklung, die wir für "so" in Kiezdeutsch beobachten, ist somit kein isoliertes Phänomen, sondern hier nur besonders augenfällig: Kiezdeutsch baut eine Option systematisch aus, die auch in anderen Varianten des Deutschen genutzt wird.

Ein ganz ähnliches Phänomen wie im Fall von "so" ist übrigens für eine verwandte germanische Sprache, nämlich das Englische, beobachtet worden, und zwar für den Ausdruck "like", der ja teilweise eine ähnliche Bedeutung wie "so" hat und interessanterweise ebenfalls als Quotativmarker benutzt werden kann ("I was like, What's going on here?"). Im nordamerikanischen Englisch wird "like" - ganz ähnlich wie "so" in Kiezdeutsch - als Fokusmarker verwendet und kann - wie "so" - in dieser Funktion an Stellen auftreten, an denen es im Standardenglischen nicht erwartet würde, zum Beispiel in "She's like really smart."

Das bedeutet nicht, dass die Verwendung von "so" als Fokusmarker eine Entlehnung aus dem Englischen ist. Der Fall von "like" zeigt, dass die Entwicklung von Fokusmarkern in germanischen Sprachen möglich ist und dass mit der Verwendung von "so" in Kiezdeutsch eine Option realisiert wird, die keinen Einzelfall darstellt, aber das bedeutet nicht, dass für diese Entwicklung ein Einfluss des Englischen nötig war.

Ebenso sind auch die anderen grammatischen Neuerungen in Kiezdeutsch, wie wir gesehen haben, im System des Deutschen verankert und nicht etwa auf Einflüsse aus dem Türkischen oder Arabischen zurückzuführen: Kiezdeutsch ist ein Dialekt des Deutschen, der - wie andere Dialekte auch - die grammatischen Möglichkeiten unserer Sprache weiterentwickelt.

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Kiezdeutsch ist kein "falsches" oder "schlechtes" Deutsch. Kiezdeutsch ist eine sprachliche Varietät, die in sich stimmig ist. Wie jeder Dialekt ist es durch Abweichungen vom Standarddeutschen gekennzeichnet, diese sind aber systematisch und nicht bloße Fehler.

Die Abgrenzung zu Fehlern zeigte sich auch in einer Studie, in der wir Jugendlichen in Berlin-Kreuzberg unterschiedliche Sätze vorspielten, die entweder standarddeutsch waren oder typische Kiezdeutsch-Merkmale zeigten oder aber willkürliche grammatische Fehler enthielten. Kiezdeutsch wurde hier klar als eigene Varietät abgegrenzt: Die Jugendlichen akzeptierten die Standardsätze problemlos, erkannten die Kiezdeutschsätze und beschrieben sie als Teil ihres Sprachgebrauchs mit Freunden ("Ja, so sprechen wir manchmal.") und lehnten dagegen die Fehlersätze durchgehend als falsch ab ("Nein! Also ganz ehrlich, woher haben Sie das denn?").

Kiezdeutsch lässt sich somit auch auf der Ebene der Sprecherinnen und Sprecher klar von sprachlichen Fehlern abgrenzen und stellt als eigenständiger Dialekt kein Problem für das Standarddeutsche dar. Ein Problem ist es allerdings für die Jugendlichen, wenn sie neben dieser Jugendsprache nicht auch das Standarddeutsche beherrschen, das für ihre gesellschaftliche Teilhabe und ihr berufliches Fortkommen ja wesentlich ist.

Die Landessprache erwerben Kinder gleich welcher Herkunft normalerweise in den ersten Lebensjahren, also lange vor Eintritt in die Schule; eine wichtige Fördermöglichkeit ist daher die frühkindliche Bildung in Krippen und Kindergärten. Bei Jugendlichen, die mit Kiezdeutsch vertraut sind, kann sich Sprachförderung, die später an der Schule noch geleistet wird, die grammatische Innovativität dieses Dialekts zu Nutze machen, um über den Vergleich mit Kiezdeutsch Kompetenzen im Standarddeutschen zu fördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Feridun Zaimo?lu, Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Berlin 1995.

  2. Vgl. Jannis Androutsopoulos, Ethnolekte in der Mediengesellschaft, in: Christian Fandrych/Reinier Salverda (Hrsg.), Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen, Tübingen 2007.

  3. Vgl. z.B. Peter Auer, "Türkenslang": Ein jugendsprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen, in: Annelies Häcki Buhofer (Hrsg.), Spracherwerb und Lebensalter, Tübingen 2003; Werner Kallmeyer/Inken Keim, Linguistic variation and the construction of social identity in a German-Turkish setting, in: Jannis Androutsopoulos/Alexandra Georgakopoulou (eds.), Discourse Constructions of Youth Identities, Amsterdam 2003; Heike Wiese, Kiezdeutsch, Publikation vorgesehen für 2010, C. H. Beck-Verlag.

  4. Vgl. Heike Wiese, Grammatical innovation in multiethnic urban Europe: New linguistic practices among adolescents, in: Lingua, 119 (2009), S. 782 - 806; weitere Literaturangaben dort.

  5. Vgl. etwa P. Auer (Anm. 3); Pia Quist, Sociolinguistic approaches to multiethnolect, in: International Journal of Bilingualism, 12 (2008), S. 43 - 61; Heike Wiese/Ulrike Freywald/Katharina Mayr, Kiezdeutsch as a test case for the interaction between grammar and information structure, Potsdam 2009.

  6. Vgl. Inci Dirim/Peter Auer, Türkisch sprechen nicht nur die Türken, Berlin 2004.

  7. Zitate aus Medien und Zuschriften in Reaktion auf Medienberichte zu sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnissen.

  8. Vgl. Heike Wiese, "Ich mach dich Messer": Grammatische Produktivität in Kiez-Sprache, in: Linguistische Berichte, 207 (2006), S. 245 - 273.

  9. Robert Underhill, Like is, like, focus, in: American Speech, 63 (1988), S. 234 - 246.

  10. Vgl. Wiese et al. (Anm. 5).

  11. In dem Infoportal www.kiezdeutsch.de sind einige Vorschläge für Schülerprojekte, in denen dies realisiert wird, zusammengefasst.

Dr. phil., geb. 1966; Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart und Sprecherin des Zentrums "Sprache, Variation und Migration" an der Universität Potsdam, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam.
E-Mail: E-Mail Link: heike.wiese@uni-potsdam.de