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Frieden schaffen | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Frieden schaffen Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit

Michael Müller Peter Brandt Reiner Braun

/ 17 Minuten zu lesen

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht zu rechtfertigen, aber er hat eine komplexe und komplizierte Vorgeschichte sowie weitreichende Folgen für die zusammengewachsene Welt. Gerade Deutschland muss mehr tun für eine gesamteuropäische Friedensarchitektur.

In seinem Werk "Das Jahrhundert der Extreme", einer Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, zeigte sich der britische Universalhistoriker Eric J. Hobsbawm besorgt darüber, dass die historische Erinnerung immer weniger lebendig ist. Die Auflösung der alten Sozialstrukturen gehöre zu den gravierendsten Veränderungen unserer Zeit: "Die Zerstörung der Vergangenheit oder vielmehr des sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit denen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene." Die meisten Menschen wachsen, so Hobsbawm, "in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jegliche Verbindung zur Vergangenheit fehlt".

Wesentliche Ursachen dafür liegen in der fortschreitenden Individualisierung und der einzigartigen Geschwindigkeit des technischen Fortschritts im Kommunikations- und Transportwesen. Ein neues Zeitregime ist entstanden, das alles radikal auf die Gegenwart programmiert. Diese "Diktatur der kurzen Frist" rüttelt an den anthropologischen Konstanten unseres Lebens. Wenn aber Instabilität zur Norm wird, torpediert das die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die für Aufklärung und Vernunft unabdingbar ist.

Gerade am Beginn einer Zeit, die aus gewichtigen Gründen bereits nach zwei Jahren als "Jahrzehnt der Extreme" bewertet werden kann, müssen wir begreifen, wie es zu den Gefahren und Bedrohungen kommen konnte, die auf uns einstürzen. Das Jahrzehnt der Extreme begann 2020 mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie, die den Unterschied zwischen Arm und Reich massiv verschärft hat. Es setzte sich 2022 fort mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der nicht nur gewaltiges menschliches Leid verursacht, sondern erstmals seit der Kuba-Krise von 1962 auch die Gefahr eines Atomschlags eröffnet. Zudem nimmt die Konfrontation zwischen den USA und China besorgniserregend zu.

Die größte globale Gefahr jedoch, die mit großer Wucht auf uns zukommt, ist die globale Klimakrise. Spätestens 2024 wird in der Troposphäre die anthropogene Kohlendioxid-Konzentration den Wert von 420ppm erreicht haben. In der Folge wird es zu einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad Celsius kommen. Dann rücken die gefürchteten Kipppunkte im Erdsystem schnell näher, die den Prozess beschleunigen, Wetterextreme verstärken und menschliches Leben vernichten.

Es drohen erbitterte Verteilungskämpfe – zwischen Arm und Reich, zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Nord und Süd. Die Welt braucht Zusammenarbeit, um die Konflikte, die sich aus den globalen Herausforderungen ergeben, bewältigen zu können.

Vor dem Ende der in Ost und West geteilten Welt hatten in den 1980er Jahren drei unabhängige UN-Kommissionen wichtige Grundlagen für eine derartige "Weltinnenpolitik" geschaffen: Willy Brandt 1980 mit dem Report "Gemeinsames Überleben" für eine faire Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden; Olof Palme 1982 mit "Gemeinsame Sicherheit" für eine friedliche Zukunft der Weltgemeinschaft; und Gro Harlem Brundtland 1987 mit dem Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft", der von der Leitidee der Nachhaltigkeit ausgeht. Diese Berichte stehen in einem gemeinsamen Zusammenhang, gerieten nach 1990 aber in den Hintergrund oder wurden umgedeutet, wie die Idee der Nachhaltigkeit, von der zwar viel die Rede ist, die aber zu einem beliebigen Plastikwort geworden ist. Doch die Berichte sind wichtiger denn je.

Erste Ebene: Der russische Angriffskrieg

Die erste Ebene der Betrachtung des Krieges in der Ukraine ist vergleichsweise einfach: Russland hat am 24. Februar 2022 einen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet, auf ein souveränes Land, das das Recht zur Selbstverteidigung hat. Der Krieg begann mit einer gezielten Täuschung der Öffentlichkeit. Noch Tage vor dem Kriegsbeginn sprach Moskau lediglich von einer "militärischen Übung" im Westen Russlands. Der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, wies jede Kritik zurück. Es gehe allein um eine Übung, zu der über 100.000 Soldaten aus allen Teilen Russlands zusammengezogen worden waren.

Dann aber erklärte Wladimir Putin, dass Russland auf diplomatischem Wege keine Möglichkeit mehr sehe, sich Respekt für seine "roten Linien" zu verschaffen. Damit waren vor allem die Osterweiterung der Nato und der "Bruderkrieg" im Donbass gemeint. Die beiden "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk wurden von Russland anerkannt. Danach begann der Angriff auf die Ukraine, der mit jedem Tag mehr Leid, Elend, Zerstörung und Tod bringt. Und mit jedem Tag wächst das Risiko, dass sich der Krieg ausweitet.

Nicht nur in unserem Land ist zu beobachten, wie der Ukraine-Krieg "eine Militanz erzeugt und zu einer Polarisierung von Positionen führt, die ein gemeinsames Nachdenken durchkreuzt", wie der Historiker Joachim Radkau jüngst feststellte. In der öffentlichen Debatte geht es fast ausschließlich um den Aggressor und nicht um die Entwicklungsprozesse, die zu dem bewaffneten Konflikt geführt haben. Doch auch sie müssen gesehen werden, um den Konflikt zu verstehen. Hätten nicht auch andere Präsidenten Russlands die zunehmende Ausweitung der Nato nach Osten als ein schwerwiegendes Sicherheitsrisiko für ihr Land angesehen? So sahen es jedenfalls auch Michail Gorbatschow und Boris Jelzin.

Wut über den Krieg darf nicht zu Hass werden, für seine Beendigung und die Zeit danach muss die Politik friedensfähig bleiben. Der Krieg zerreißt einen. Das Verhältnis vieler Deutscher zu Russland lässt sich vermutlich am besten mit "Hassliebe" beschreiben, hin- und hergerissen zwischen der großen Kultur, den historischen Verbindungen und der Rolle der UdSSR bei der Befreiung vom Faschismus einerseits und dem Stalinismus und der Unterdrückung von Demokratie und Freiheit andererseits. Und nun dieser unvorstellbare Krieg zwischen den zwei ungleichen Brüdern, deren gemeinsamer Ursprung in der Region um Kiew lag.

Während die Sprache des Militärs dominiert, belegen Meinungsumfragen gleichzeitig, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Auffassung ist, dass die Diplomatie viel zu kurz kommt. Gerade in Europa heißt die historische Erfahrung doch: Krieg ist nie die Lösung. Auch der Krieg in der Ukraine wird letztlich keinen Sieger finden. Moskau glaubte an einen schnellen Sieg durch die "Enthauptung" der Staatsspitze in Kiew, ohne die Wirkungen zu reflektieren. Aber daraus ist ein Zermürbungskrieg geworden. Das Schlachtfeld mitten in Europa hinterlässt unzählige Tote. Am 300. Tag des Überfalls wurden von ukrainischer Seite rund 100.000 getötete russische Soldaten gezählt. Allein beim Kampf um die ostukrainische Stadt Bachmut sterben täglich bis zu 100 russische Soldaten. Auch US-Generalstabschef Mark Milley schätzt die Zahl der toten oder schwer verwundeten russischen Soldaten auf "deutlich mehr als 100.000". Und fügt hinzu: Das Gleiche gilt für die ukrainische Seite.

Angesichts starker Befestigungsanlagen und Abwehrsysteme steht das blutige Ringen derzeit nahezu still, verläuft ohne deutliche Gewinne für Russen oder Ukrainer. Die russische Armee ist verstärkt zu Drohnenangriffen auf die Infrastruktur übergegangen, um in der Ukraine die Strom-, Wärme- und Wasserversorgung zu zerstören. Von den Folgen ist in erster Linie die Zivilbevölkerung betroffen. In einigen Regionen droht eine humanitäre Katastrophe. Menschen leben in Kellern und verbrennen ihre Möbel, um sich ein wenig zu wärmen.

Ist es angesichts dessen wirklich vertretbar, wenn von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Medien, aber auch von namhaften Politikern, die Lieferung schwerer Waffen, vor allem von Kampfpanzern, unterstützt wird, während von diplomatischen Initiativen kaum etwas zu vernehmen ist? Müsste es nicht Aufgabe der Politik sein, schnellstmöglich Frieden zu schaffen, statt den Krieg zu verlängern?

Die Konsequenz aus dem Krieg darf auch nicht eine Spirale der Erhöhung der Militärausgaben und eine milliardenschwere Aufrüstung der Bundeswehr sein. Der Ukraine-Krieg hat der Aufrüstung zweifellos einen starken Schub gegeben, doch die Folgen der Militarisierung der internationalen Politik blockieren die Diplomatie, verschwenden wertvolle Finanzmittel und verhindern notwendige globale Kooperationen. Dabei entfallen nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri bereits 75 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben auf nur zehn Länder, an der Spitze stehen die USA, China und Indien. Deutschland steht derzeit auf Platz 7 und kann mit der beschlossenen Erhöhung der Rüstungsmittel auf Platz 4 vorrücken.

Willy Brandt forderte bei der Verleihung des Friedensnobelpreises im Dezember 1971: "Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen." Vom Krieg kann man nur eines lernen: Frieden schaffen.

Zweite Ebene: Die Vorgeschichte

Der osteuropäisch-slawische Bereich Europas war lange Zeit unter Russland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich aufgeteilt. Die Nationsbildung vollzog sich hier erheblich komplizierter als anderswo, besonders in der Ukraine. Für Russland war die Ukraine immer etwas Besonderes: Russland, Belarus und die Ukraine haben einen gemeinsamen Ursprung; die Geschichte dieser drei Brüder begann in der gemeinsamen Wiege der mittelalterlichen Kiewer Rus. Von dort breitete sich das ostslawische orthodoxe Christentum und die damit verbundene Kultur aus.

Der größte Teil der Ukraine war jahrhundertelang ein Teil Russlands. Einen selbstständigen Staat gab es vor 1991 zweimal für eine kurze Zeit: 1648 mit dem Hetmanat von Chmelnyzkyi und 1917 nach der Februarrevolution. Im Jahr 1920 setzten sich die Bolschewiki durch, und die Ukraine wurde Teil der UdSSR. Auch die Westukraine, die zum österreichischen Teil der Donaumonarchie gehörte, fiel nach dem russisch-polnischen Krieg 1920 an Polen und kam 1939 zur Sowjetunion, als Hitler und Stalin die Grenzen neu zogen.

Dieser kursorische Rückblick zeigt, dass die Ukraine bis 1991 keine einheitliche Identität hatte, aber eng mit der Geschichte Russlands verbunden war. Die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine vom 28. August 1991 war die Folge des Zerfalls der Sowjetunion. Der Prozess der Identitätsbildung verlief schleppend, die Macht der Oligarchen wurde etabliert und konsolidierte sich. Korruption und Vetternwirtschaft waren weit verbreitet und sind es noch immer. Im "Korruptionswahrnehmungsindex" von Transparency International lag die Ukraine im Jahr 2021 zusammen mit dem südafrikanischen Königreich Eswatini auf Platz 122.

Auch nach 1991 blieb das Land politisch und kulturell gespalten. Bei der Stichwahl zur Präsidentschaft im November 2004 erreichte der "prowestliche" Kandidat Wiktor Juschtschenko im Westen und Zentrum des Landes bis zu 91 Prozent der Stimmen, der "prorussische" Wiktor Janukowytsch kam im Osten und Süden auf bis zu 96 Prozent. Vor diesem Hintergrund musste ein geplanter wirtschaftlicher Zusammenschluss mit Russland ebenso zurückgezogen werden wie eine Assoziierung mit der EU. Die Spaltung deckte sich weitgehend mit der konfessionellen Trennungslinie im Land.

Für die Konfrontation mit Russland sind vor allem sechs Ereignisse zu nennen:

  • Der Nato-Gipfel 2008 in Bukarest setzte auf Druck des US-Präsidenten George W. Bush gegen die Warnung Russlands und trotz der Bedenken Frankreichs und Deutschlands den Beschluss durch, der Ukraine, Moldau und Georgien eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Heraus kam ein explosiver Kompromiss. Die Nato war 1949 in der Absicht gegründet worden, die Elbe zur westlichen Grenze des sowjetischen Machtbereichs zu machen, heute steht sie auf der Türschwelle Russlands.

  • Die Maidan-Bewegung begann mit dem 21. November 2013. Vor allem Studenten und Studentinnen demonstrierten, weil Präsident Janukowytsch unter russischem Druck seine Unterschrift unter das EU-Assoziierungsabkommen verweigert hatte. Im Januar 2014 flammten die Proteste auf dem Platz der Unabhängigkeit erneut auf und schlugen in Gewalt um, als Spezialeinheiten der Polizei und bewaffnete Rechtsradikale auf Demonstranten schossen. Rund 100 Ukrainer wurden getötet, nahezu 1.000 verletzt. Bis heute überwiegt die Einschätzung, dass der Euro-Maidan von weiten Teilen der Bevölkerung nicht getragen wurde, Ablehnung und Kritik kamen vor allem aus dem Osten und Süden des Landes.

  • Russland reagierte auf die Konflikte mit der Annexion der Krim. Am 27. April 2014 umstellten bewaffnete Männer das Regionalparlament, eine international nicht anerkannte "Volksabstimmung" fiel zugunsten Russlands aus.

  • Bereits am 12. April 2014 begann der Krieg an der Ostgrenze der Ukraine. Russland stationierte rund 40.000 Soldaten vor dem Donbass, dem "Ruhrgebiet der Ukraine", zu dem die beiden überwiegend russisch ausgerichteten Regionen Donezk und Luhansk gehören. Die Konflikte eskalierten, nach kurzer Zeit waren 1.000 Ukrainer getötet und fast eine Million vertrieben worden.

  • Nach einem Waffenstillstand und Gefangenenaustausch nahmen 2021 die Spannungen wieder zu. Dazu trugen neben gewaltsamen Auseinandersetzungen auch die Ausgabe von russischen Pässen in der Ostukraine einerseits und das Verbot von prorussischen Sendern andererseits bei.

  • Auf der Basis von Verhandlungen zwischen Putin, dem damaligen Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko, und der OSZE wurde am 5. September 2014 das Minsker Abkommen unterzeichnet, das am 17. Februar 2015 vom UN-Sicherheitsrat als völkerrechtlich verbindlicher Vertrag anerkannt wurde. Dennoch flammten am 28. September 2015 die Kämpfe wieder auf. Unter der Moderation von Angela Merkel und François Hollande kam es zu "Minsk II", um die Konflikte zu deeskalieren. In großen Teilen der Ukraine wurden die Minsker Abkommen abgelehnt, weil sie vermeintlich zulasten der Ukraine gingen. National und international wurde wenig getan, um die Abkommen umzusetzen.

US-Präsident Barack Obama begann 2014 mit Waffenlieferungen an die Ukraine, anfangs handelte es sich vor allem um Panzerabwehrraketen und Drohnen. Die Grundlage der Zusammenarbeit zwischen Washington und Kiew sind nicht nur direkte Hilfen, sondern auch der "Lend and Lease Act 2022". Demnach werden Kriegsgerät und Ausrüstung verliehen oder verpachtet und müssen nach dem Krieg zurückgeführt werden. Ähnliche Vereinbarungen gab es schon früher. Die USA haben ein Interesse daran, dass diese Leasing-Verträge pünktlich erfüllt werden – weshalb US-Regierungsvertreter ihren Unmut über schleppende EU-Zahlungen an Kiew geäußert haben.

Schon seit 2008 wurden in der Ukraine Nato-Übungen abgehalten. Der Graben zu den nach Russland orientierten Teilen der Ukraine wurde tiefer, die Fronten verhärteten sich. In osteuropäische Nato-Staaten wurden Einsatztruppen verlegt. Vor allem die USA, aber auch andere westliche Länder sehen offenkundig in der Ukraine einen militärischen und politischen "Puffer" gegen Russland. Ideen wie die des ehemaligen EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen, die Ukraine als Bindeglied zwischen Ost und West zu betrachten, fanden keine Unterstützung.

Nach der Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum Präsidenten der Ukraine 2019 kam es zu neuen Verhandlungen mit Russland, um den Krieg in der Ostukraine beizulegen. Im Herbst 2020 stockte dieser Prozess, 2021 verschärften sich die Spannungen. Kiew sah die anvisierten Abkommen als zu einseitig zugunsten Russlands an, auch Selenskyjs Amtsführung wurde zunehmend kritisch bewertet. Sein Versprechen, eine Befriedung des Landes mit Russland aktiv zu betreiben, konnte er nicht erfüllen.

In Russland und in Teilen Europas wiederum waren die Hoffnungen mit dem Amtsantritt Putins im Jahr 2000 groß gewesen. So hielt der neu gewählte Präsident der Russischen Föderation am 25. September 2001 eine Rede vor dem Deutschen Bundestag, auf die die Abgeordneten aller Fraktionen mit Standing Ovations reagierten. "Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima, und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Gesamteuropa möglich", so Putin damals. Doch die Chancen und Angebote für eine neue gesamteuropäische Ordnung wurden nicht genutzt, vor allem von den USA vielleicht auch nie gewollt.

Im zurückliegenden Jahrzehnt sind dann die Hoffnungen auf eine gesamteuropäische Friedensordnung verflogen. In Russland kam es zu einem gravierenden Autokratisierungsschub; von Glasnost und Perestroika war nichts mehr zu sehen, Oppositionelle wurden zunehmend unterdrückt, Reformen abgelehnt. Putin wandelte sich zu einem Autokraten. Zugleich gewann ein Konglomerat aus antiwestlichen, nationalistischen und militaristischen Ideologien großen Einfluss, auch auf die russische Führung. Seine Grundlage ist die Sehnsucht nach früherer Größe und Bedeutung des Großrussischen Reiches, was so auch in Artikel 67 der russischen Verfassung verankert wurde. Die heutige Ukraine wird dagegen als eine Art "Anti-Russland" angesehen.

Dritte Ebene: internationale Einordnung

Nach den großen Hoffnungen auf ein friedliches Europa ist es in den vergangenen drei Jahrzehnten versäumt worden, auf eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur hinzuarbeiten. Im "Zwei-plus-vier-Vertrag" vom 12. September 1990, der von den beiden damaligen deutschen Staaten sowie Frankreich, dem Vereinigten Königreich, der Sowjetunion und den USA unterzeichnet wurde, verständigten sich die beteiligten Staaten darauf, die "Sicherheit zu stärken, insbesondere durch Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung, und sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten". Als Reaktion auf Michail Gorbatschows "Politik der ausgestreckten Hand" versprachen Bundeskanzler Helmut Kohl, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und US-Außenminister James Baker, dass es keine Osterweiterung der Nato gegen den Willen Moskaus geben würde. Einen Vertrag gab es dafür freilich nicht.

Der Geist der Zusammenarbeit wurde auch zur Grundlage der "Charta von Paris für ein neues Europa", die 1990 von 34 Regierungschefs auf einer Sonderkonferenz der OSZE in Paris unterzeichnet wurde. Allerdings war es die große Sorge der USA, dass es durch eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung zu einer Schwächung der Nato kommen könnte. Washington sah die Nato nicht nur als Gegenmacht zum "Ostblock", sondern auch als Instrument amerikanischer Hegemonie. Die Charta hingegen zielte auf eine Stärkung Europas. Zu einem echten Dialog und einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland kam es jedoch nicht. Gorbatschow war bis zuletzt verbittert darüber, wie hochmütig der Westen mit Russland umging.

Gorbatschow wurde 1991 gestürzt, Boris Jelzin der neue starke Mann im Kreml. Am 26. Dezember 1991 endete die Existenz der UdSSR. Der Westen nutzte in der Folgezeit die Schwäche Russlands, um seinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss nach Osten zu erweitern. Russland und die Ukraine, beide damals in guter Beziehung zueinander, schlossen am 7. März 1994 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU ab. Wladimir Putin justierte nach seinem Amtsantritt 2000 die russische Außen- und Sicherheitspolitik neu und suchte anfangs enge Beziehungen zur EU und den USA. In Moskau gab es sogar Überlegungen, Mitglied der EU zu werden. Putins Ziel war es, mit pragmatischer Politik wieder zu einem vollwertigen Mitspieler in der Weltpolitik zu werden. Besonders deutlich wurde dies 2001 in seiner Rede vor dem Bundestag: "Europa [wird] seinen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik nur festigen (…), wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird." Der russische Präsident setzte seine Hoffnung damals auf ein "gesamteuropäisches Haus" und besonders auf ein Deutschland, das in der EU eine Führungsrolle einnimmt. Die "Europäisierung" der Politik widersprach vor allem den Interessen der USA, aber auch die deutsche Politik war kein Motor für die Weiterentwicklung der europäischen Friedens- und Entspannungspolitik. Im Gegenteil: Aus "Wandel durch Annäherung" wurde "Wandel durch Handel", was eine grobe und falsche Vereinfachung ist.

Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich in den westlichen Ländern ein Bellizismus ausgebreitet, vor dem nicht nur die "New York Times" nachdrücklich warnt. Russland wird mit harten Sanktionen belegt, Waffenlieferungen in die Ukraine werden massiv ausgeweitet. Die Forderung nach einer Friedens- und Entspannungspolitik und nach einer kooperativen Weltinnenpolitik klingt seitdem wie die Melodie aus einer anderen Welt. Dieser Kurs der Nato-Staaten wird vor allem in den bevölkerungsreichen Schwellenländern – insbesondere in den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), in denen deutlich mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung leben, aber auch in der Shanghai-Gruppe (China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan) – überaus kritisch gesehen. Sanktionen gegen Russland lehnen diese Länder ab. Aus dem Krieg in Europa droht ein Weltordnungskrieg zu werden.

Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, wie in einer Welt, die wegen der globalen Herausforderungen auf Zusammenarbeit angewiesen ist, eine "Weltinnenpolitik" möglich werden kann. Denn auch die Klimakrise kann nur durch internationale Zusammenarbeit abgewendet werden: Die absehbaren Verteilungskämpfe um Rohstoffe brauchen eine weltweit solidarische Verteilung ihrer begrenzten Vorräte, zumal die Welt zeitlich, regional und sozial höchst unterschiedlich von den Folgen der Klimakrise und der Rohstoffverknappung betroffen sein wird. Es wächst die Gefahr, dass sich grüne Oasen des Wohlstands von einer zunehmend unwirtlichen Welt abzuschotten versuchen.

Die doppelte Gefahr eines Selbstmordes der Menschheit ist durchaus real: einerseits durch die atomare Rüstung, andererseits durch die globale Erderwärmung. Die Zeit, Katastrophen zu verhindern, wird knapp – und sie wird nicht gegen Russland, dem größten und ressourcenreichsten Land der Erde, zu verhindern sein, sondern nur mit ihm. Das Schlüsselwort unserer Zeit heißt "Zusammenarbeit".

Plan für den Frieden

Überlegungen für eine gemeinsame Sicherheit sind unverändert aktuell. Ihre Grundlagen und Strukturmerkmale haben Egon Bahr und Dieter S. Lutz ausführlich beschrieben. Eine Weiterentwicklung dieser Leitidee hat es zuletzt mit dem Konzept "Gemeinsame Sicherheit 2022" gegeben. Doch der aktuelle Krieg beschleunigt die Aufrüstung. Nicht zuletzt die Nato treibt sie mit der Vorgabe voran, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär bereitzustellen. Mit dem Konzept "Nato 2030", das im Juli 2022 in Madrid beschlossen wurde, sind die Weichen für eine globale Nato gestellt.

Nach der kurzen Phase der Entspannung ist es mit dem Ukraine-Krieg zu einer neuen Phase der Konfrontation gekommen. Die Welt steht am "Rande des Friedens", wie Siegfried Lenz bereits 1988 feststellte. Daran ändert auch das unbedarfte Argument nichts, wir lebten in einer neuen Zeit, die neue Antworten erfordere. Diese neuen Antworten dürfen nicht der Rückfall in das alte Freund-Feind-Denken sein, sondern sie erfordern eine Weiterentwicklung der UN-Konzepte der 1980er Jahre, vor allem der Ideen der gemeinsamen Sicherheit, der Verständigung und der Nachhaltigkeit. Die damaligen Ideen waren nicht rückblickend gemeint, sondern auf die Herausforderungen einer globalen Welt ausgerichtet, ihrer Zeit also voraus.

Die Frage ist, wer heute diese neuen Brücken bauen soll, solange die Kriegsparteien dazu nicht fähig erscheinen. Aus den ersten Versuchen, zu einem Frieden zu kommen, wurde bekanntlich nichts. Der mit den Minsker Abkommen angestoßene Prozess scheiterte, war aber auch unzureichend. Gleichwohl mangelt es nicht an Vorschlägen: Bei Verhandlungen in Istanbul zum Beispiel legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 einen 10-Punkte-Plan für neue Sicherheitsgarantien vor, der eine Einigung mit Russland möglich zu machen schien. Doch die Verhandlungen wurden abgebrochen, begründet durch den unsicheren Kriegsverlauf, verstärkte westliche Waffenlieferungen und laut ukrainischen Medienberichten auch durch Interventionen verschiedener Regierungschefs. Im Mai 2022 legte UN-Generalsekretär António Guterres einen Friedensplan vor, der in enger Abstimmung mit EU und OSZE ein vierstufiges Konzept für die Verhandlungen mit Russland und der Ukraine vorsah: Waffenstillstand, kein Nato-Beitritt der Ukraine, Selbstbestimmung in territorialen Fragen und eine internationale Sicherheitsgarantie unter der Aufsicht der OSZE. Im Kern ging es darum, die Ukraine zu einem Brückenstaat zwischen West- und Osteuropa zu machen statt zu einem Prellbock gegen Russland. Und auf Initiative des Vatikans erarbeitete im Juni 2022 eine internationale Expertengruppe unter der Leitung des US-amerikanischen Ökonomen Jeffrey Sachs einen Acht-Punkte-Vorschlag für einen dauerhaften und gerechten Frieden in der Ukraine. Dazu gehörten neben einer militärischen Neutralität der Ukraine und internationalen Sicherheitsgarantien ein schrittweises Ende der Sanktionen, ein multilateraler Wiederaufbaufonds und ein internationaler Überwachungsmodus unter dem Dach der Vereinten Nationen. Zuletzt hat Brasiliens Präsident Lula da Silva angeboten, zusammen mit den G-20-Staaten China, Indien und Indonesien eine Vermittlerrolle zu übernehmen.

Es ist kein Merkmal einer liberalen Demokratie, dass diejenigen, die eine solche Friedenslogik fordern, heftiger öffentlicher Kritik ausgesetzt sind. Die Lage ist zu ernst, um sie den Bellizisten zu überlassen. Die Frage ist: Wie kann mithilfe der Vermittler aus den G-20-Staaten ein Waffenstillstand möglich werden – und welchen Friedensplan haben die Regierungen "Kerneuropas", der eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur Europas aufzeigt?

Im Ukraine-Krieg geht es nicht zuletzt um die Selbstbehauptung Europas. Wenn die EU nicht dazu in der Lage ist, müssen europäische Regierungen zeigen, dass sie eine gewichtige friedenspolitische Rolle einnehmen wollen. Die EU-Mitglieder bekennen sich in der Präambel des EU-Vertrags ausdrücklich dazu, den "Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas (…) weiterzuführen". Diese Idee der gemeinsamen Sicherheit ist eine europäische Idee, die sich neu bewähren muss. Deutschland kann hier – wie bei der Friedens- und Entspannungspolitik der 1970er Jahre – eine Schlüsselrolle einnehmen. Das verlangt ein historisches Bewusstsein für eine historische Verantwortung.

ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands. Er war von 1983 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium.
E-Mail Link: mueller@naturfreunde.de

ist Publizist, Historiker und Professor im Ruhestand für Neuere und Neuste Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Er gehört der Initiative "Entspannungspolitik jetzt!" an und ist Mitautor von "Gemeinsame Sicherheit 2022".
E-Mail Link: peter.brandt@fernuni-hagen.de

war Geschäftsführer verschiedener nationaler und internationaler Friedensorganisationen. Zuletzt war er Executive Director des Internationalen Friedensbüros (IPB), stellvertretender Vorsitzender der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative sowie Mitglied der "Kooperation für den Frieden".
E-Mail Link: hr.braun@gmx.net