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Ende der Ostpolitik? | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende"

Franziska Davies

/ 13 Minuten zu lesen

Die Ostpolitik der 1970er und 1980er Jahre hat nicht nur die deutsche Sozialdemokratie, sondern auch die gesamte Außenpolitik über viele Jahre nachhaltig geprägt. Die mit ihr verbundene Russlandfixierung hat sowohl der Ukraine als auch uns selbst geschadet.

Am 27. Februar 2022 hielt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz seine vielbeachtete Rede im Deutschen Bundestag, in der er eine nun schon fast sprichwörtlich gewordene "Zeitenwende" für Deutschland und Europa verkündete. "Der 24. Februar 2022", so Scholz damals, "markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen."

Die Totalinvasion der Ukraine durch Truppen der Russländischen Föderation kann in der Tat als "Zeitenwende" verstanden werden, stellt sie doch den Versuch dar, einen souveränen europäischen Staat im 21. Jahrhundert von der Landkarte zu tilgen. Zugleich zeigt die Rede von Scholz aber auch, dass die Zeithorizonte in Deutschland und in der Ukraine unterschiedliche sind. Zweifelsohne hat dieser Krieg das Leben von Millionen Menschen in der Ukraine auf grausame Art und Weise verwüstet. Millionen sind auf der Flucht, Abertausende sind ermordet worden. Städte wie die Industriemetropole Mariupol am Schwarzen Meer sind von den russischen Truppen zu Geisterstädten gemacht worden. Zugleich aber war dies die Eskalation eines Krieges, der nicht erst 2022, sondern schon 2014 begann. In der deutschen Öffentlichkeit war die russische Besetzung von Teilen des ukrainischen Donbas und der Krim aber in den Hintergrund geraten. Die Totalinvasion hat den Krieg ins Bewusstsein zurückgeholt.

Es ist bemerkenswert, dass Scholz in seiner Rede nicht davon sprach, dass Russland die Ukraine faktisch bereits im Februar 2014 angegriffen hat. Auch dieser Angriff war eindeutig völkerrechtswidrig und menschenverachtend. Auf der Halbinsel Krim waren es besonders die Krimtatar:innen, die unter der russischen Besatzung litten, insgesamt aber waren all diejenigen, die die gewaltsame Einverleibung ihrer Heimat durch Russland abgelehnt hatten, der gezielten Verfolgung ausgesetzt, oder sie entschlossen sich in Anbetracht dessen zur Flucht. Der Regisseur Oleg Senzow, der von Russland verschleppt und zu mehreren Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, ist dafür lediglich das bekannteste Beispiel.

Die Mystifizierung der Ostpolitik und die Radikalisierung des Putin-Regimes

Etwa sechs Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und zwei Jahre vor der Totalinvasion im Februar 2022 veröffentlichte Matthias Platzeck, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und zwischen 2002 und 2013 Ministerpräsident Brandenburgs, ein Buch mit dem Titel "Wir brauchen eine neue Ostpolitik. Russland als Partner". Ausführlich legte Platzeck dar, warum aus seiner Sicht die Notwendigkeit bestehe, an einer deutsch-russischen Partnerschaft festzuhalten. Bemerkenswert an diesem Buch war, dass Platzeck die zahlreichen innen- und außenpolitischen Aggressionen Russlands seit dem Machtantritt Wladimir Putins 1999/2000 praktisch aussparte: die Kriegsverbrechen in Tschetschenien, den Einmarsch in Georgien 2008, die Zerschlagung der russischen Opposition, die systematischen Bombardierungen der syrischen Zivilbevölkerung, um das menschenverachtende Regime Baschar al-Assads zu retten – all das kam in Platzecks Buch kaum vor.

Das Festhalten am "Dialog" und der Glaube, dass enge wirtschaftliche Beziehungen – etwa durch die Lieferung fossiler Energie von Russland nach Deutschland durch die Nord-Stream-Pipelines – wichtig und im deutschen Interesse seien, waren dabei keine eigentümliche Phantasie eines Ex-Politikers, sondern wurden von weiten Teilen der politischen Eliten in den demokratischen Parteien mitgetragen. Unter solchen Vorzeichen stand schon die Russlandpolitik der Bundesregierung unter Gerhard Schröder, der nur wenige Monate vor Putins Ernennung zum russischen Ministerpräsidenten deutscher Bundeskanzler geworden war. Zwar begannen die Planungen für Nord Stream 1 und Nord Stream 2 schon vor dem Regierungsantritt der rot-grünen Regierung, sie wurden unter Schröder und Putin aber formalisiert. Mit der Schaffung des "Petersburger Dialogs" 2001, einem Forum, das die zivilgesellschaftliche Verständigung zwischen Deutschland und Russland fördern sollte, suchte Schröder ebenfalls die Kontinuität mit der Ostpolitik der SPD während der Zeit des Kalten Krieges.

Die Regierungszeit von Angela Merkel setzte kaum neue Akzente in der deutschen Russlandpolitik, und sie bedeutete sicher keinen grundsätzlichen Bruch mit der Linie ihrer Vorgänger. Zwar offenbarte sich bei Merkel ein deutlich kritischerer Blick auf Putins Russland als bei Schröder, aber zu einer grundsätzlichen Kursänderung führte das nicht. In ihrer Regierungserklärung am 26. März 2009 im Deutschen Bundestag anlässlich des Nato-Gipfels in Kehl und Straßburg erklärte die Bundeskanzlerin, die Zusammenarbeit mit Russland im wenige Monate zuvor ausgesetzten Nato-Russland-Rat wieder aufnehmen zu wollen, und fügte hinzu: "Wir setzen als atlantische Partner darauf, dass sich Russland kooperativ verhält. Die Nato-Partner und Russland stehen zum großen Teil vor den gleichen sicherheitspolitischen Bedrohungen."

Noch expliziter stellte sich Frank-Walter Steinmeier, Bundesaußenminister im ersten und dritten Kabinett Merkel, in die Tradition der sozialdemokratischen Ostpolitik. So initiierte er 2008 die "Modernisierungspartnerschaft" mit Russland und hielt selbst nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2014 an den Ideen der 1970er und 1980er Jahre fest. In einem Interview mit dem "Spiegel" im Dezember 2014 machte er deutlich, dass er sich auch persönlich der Ostpolitik in "höchstem Maße verbunden" fühle und weiterhin auf "Dialog" setze. Schlüsselbegriff für die Beschreibung der Krise deutsch-russischer Beziehungen war für Steinmeier jener der "Sicherheit": Diese sei "in Europa (…) ohne Russland nicht möglich, Sicherheit für Russland nicht ohne Europa. Deshalb müssen wir die beschädigte europäische Sicherheitsarchitektur wieder in Ordnung bringen."

Der Begriff der "Sicherheitsarchitektur" tauchte Anfang April 2022 wieder auf, als er seine eigene außenpolitische Bilanz angesichts der russischen Totalinvasion der Ukraine nochmals reflektierte: "Wir sind gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden." Dieser Satz, der zeigt, dass Steinmeier seine Zeit als Außenpolitiker durchaus selbstkritisch in den Blick nimmt, offenbart zugleich, dass der ehemalige Außenminister und derzeitige Bundespräsident den Abschied von den Deutungsmustern der Ostpolitik auch nach dem 24. Februar 2022 nicht vollständig vollzogen hat. Immer noch macht er implizit den kollektiven Westen beziehungsweise Deutschland und Europa ("wir") für die Eskalation der russischen Gewalt in der Ukraine mindestens mitverantwortlich, immer noch denkt er in den Kategorien einer "Sicherheitsarchitektur", in die Putins Russland möglicherweise doch hätte eingebunden werden können. Dabei hätte spätestens seit dem Angriff auf die Ukraine 2014 klar sein müssen, dass es dem Putin-Regime gerade um die gezielte Zerstörung jener Sicherheitsarchitektur ging – und um neoimperiale Ambitionen. Steinmeiers politischer Umgang mit Russland und seine Analysen des deutsch-russischen Verhältnisses zeigen eindrücklich, dass das Festhalten an Deutungsmustern und politischen Ansätzen der deutschen Ostpolitik der 1970er und 1980er Jahre mitursächlich für das Festhalten Deutschlands an einer politischen Strategie gegenüber Russland war, die zunehmend von der Realität überholt worden war.

Blinde Flecken: Die Grenzen der Ostpolitik im Kalten Krieg

Die eindeutig positive Konnotation sozialdemokratischer Ostpolitik ist für die SPD eng verbunden mit der Person Willy Brandt. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler ist bis heute eine Konsens- und Integrationsfigur für die Partei, und bekanntermaßen war er es, der schon früh für eine Neugestaltung der Beziehungen zu den Staaten des Ostblocks eintrat. Die zweite Person, mit der in öffentlichen Debatten bis heute die Schlagworte "Wandel durch Annäherung" und "Entspannungspolitik" verbunden sind, ist Egon Bahr, der unter anderem außenpolitischer Berater Brandts war und der die Formel erstmals 1963 in einer Rede vor der Akademie in Tutzing formulierte.

Konkret schlugen sich die Ideen Brandts und Bahrs 1972 zunächst in den sogenannten Ostverträgen mit der Sowjetunion und Polen nieder, die vor allem darauf abzielten, den Status quo erst einmal anzuerkennen. Nur so bestehe die Chance, ihn langfristig zu überwinden, und nur durch eine Entspannung zwischen den Blöcken, einem Ende der direkten Systemkonfrontation, könne die Spaltung des Kontinents überwunden werden. Tatsächlich setzte damit ein allmählicher Wandel ein, nicht nur in den deutsch-sowjetischen und deutsch-polnischen Beziehungen, sondern auch zwischen den beiden deutschen Staaten. Verbunden ist die Ostpolitik bis heute mit einer berühmten Geste Brandts, als er bei seinem Besuch in Warszawa 1971 vor dem Denkmal der Kämpfer des jüdischen Ghettos auf die Knie sank. Inzwischen ist diese Geste – auch wenn Brandt vor den Opfern des Holocausts kniete – zu einem Symbol der deutsch-polnischen Versöhnung geworden. Auch auf dieser symbolischen Ebene ist die Ostpolitik mithin mit Werten verbunden, die bis heute als Teil des sozialdemokratischen Selbstverständnisses gelten: die Überwindung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands und der Erhalt des europäischen Friedens.

Zugleich beansprucht die SPD bis heute für sich, mit der Ostpolitik wesentlich zur Überwindung der Spaltung der Welt in "Ost" und "West" beigetragen zu haben – eine Überzeugung, die auch Steinmeier im Dezember 2014 äußerte: "Ohne [die Ostpolitik] hätte die Mauer keine Risse bekommen." Freilich ist der Einfluss der sozialdemokratischen Ostpolitik auf den Fall der Mauer schwer zu bemessen. Wesentlich war sie wohl nicht, denn die Sowjetunion brach vor allem an ihren inneren Widersprüchen zusammen. In einem Essay über das Jahr 1989 verwies der polnische Intellektuelle Adam Michnik darauf, dass man im heutigen Europa ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage hören könne, durch wen der Kommunismus zu Fall gebracht wurde: Die Deutschen würden auf ihre "vernünftige 'Ostpolitik'" verweisen, die Polen auf die Solidarność, der Vatikan auf die katholische Kirche. Bei der bis heute überwiegend in Deutschland und insbesondere in der Nachkriegsgeneration positiv erinnerten Ostpolitik gerät allzu schnell in den Hintergrund, dass diese bereits in den 1980er Jahren in Selbstwidersprüche geriet, als 1980 in Gdańsk mit der Solidarność die erste freie Gewerkschaft in einem staatssozialistischen Land entstand. Hatte Bahr in seiner Rede in Tutzing noch den Gedanken formuliert, dass gerade die Akzeptanz des Status quo langfristig zu dessen Überwindung führen könne, tat er sich 1981 schwer mit der Solidarność. Kurz nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 nahm Bahr General Wojciech Jaruzelski mit den Worten in Schutz, dass es sich keineswegs um den "Putsch" einer "Junta" handele, sondern die Verhängung des Kriegsrechts "das äußerste Mittel im Rahmen seiner Allianz-Souveränität" sei. Auf einer rhetorischen Ebene solidarisierte sich Bahr zwar mit der polnischen Freiheitsbewegung und sprach davon, dass "unsere Wünsche bei den Arbeitern" seien. Diese hätten sich einen "historischen Platz in der Geschichte der Arbeiterbewegung" erkämpft. Seine politische Präferenz aber war eindeutig: Die "Erhaltung des Weltfriedens durch Beherrschung der interkontinentalen Raketen" sei "noch wichtiger als Polen", und Politik müsse "mit und nicht gegen die Führungsmächte" gemacht werden.

Ostpolitik heute

In Variationen war diese Formel in Bezug auf Russland auch noch zu hören, als die Radikalisierung der Innen- und Außenpolitik des Putin-Regimes kaum mehr zu übersehen war. Auch Angela Merkel, immerhin bekannt für ihre Aussage im Zuge der Annexion der Krim, dass Putin "in einer anderen Welt" lebe und offenbar keinen "Kontakt zur Realität" mehr habe, stellte sie letztlich nicht infrage. Ende 2014 wurde sie mit den Worten zitiert, dass das "Ziel" eine "europäische Sicherheitsstruktur mit Russland und nicht gegen Russland" sei. Zugleich betonte Merkel, dass der Erhalt der Souveränität der Ukraine ebenfalls Ziel ihrer Politik sei. Damit war die Sackgasse dieser Form der Ostpolitik offenkundig. Institutionalisiert wurde sie in den Vereinbarungen von Minsk, in denen die russische Lüge akzeptiert wurde, in der Ukraine keine Kriegspartei zu sein, sondern lediglich als Vermittler zwischen den "Separatisten" und der Regierung in Kyjiw zu fungieren. Dass Minsk II umgesetzt werden müsse, war die hilflose Antwort der deutschen Politik darauf, dass Russland sich im Donbas mit den selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk ein Einfallstor in die Ukraine geschaffen hatte, durch welches Putin den Konflikt bei Bedarf eskalieren konnte. Genau das tat er dann auch, als er sie am 21. Februar 2022 als souveräne Staaten anerkannte, wenige Tage später die gesamte Ukraine angriff und versuchte, Kyjiw einzunehmen.

Der Angriff von 2022 war mithin die Fortsetzung des Krieges von 2014, und bereits zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Strategie im Umgang mit Russland gescheitert. Der Historiker Jan C. Behrends brachte es im September 2014 auf den Punkt: "Der russische Einmarsch in die Ukraine hat die Ära der Ostpolitik beendet." Behrends verwies auf die bequeme Illusion, der sich Deutschland in der Mythenpflege der Ostpolitik hingegeben hatte: Der Öffentlichkeit bot sie "die Illusion von Sicherheit, Frieden und Stabilität. (…) Das Label 'Friedenspolitik' überhöhte sie moralisch." Faktisch aber konnte diese Ostpolitik weder Einfluss auf die systematische Zerstörung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen in Russland seit Putins Machtantritt nehmen noch seine außenpolitische Aggression gegen Georgien oder die Ukraine verhindern.

Sehr wohl aber richtete die deutsche Russlandpolitik mit ihren Schlagworten des "Dialogs" und der "Partnerschaft" immensen Schaden im Verhältnis zu den ostmitteleuropäischen Partnern innerhalb der Europäischen Union und zur Ukraine an. Besonders in den baltischen Staaten und in Polen war die Irritation über die Beschwichtigungen aus Berlin gegenüber Moskau groß. Zum Symbol dafür wurde die Pipeline Nord Stream 2, an der trotz kontinuierlicher Warnungen aus der EU und der Ukraine bis zur russischen Totalinvasion festgehalten wurde. Dabei wurde unter anderem im russischen Staatsfernsehen offen darüber gesprochen, dass das Ziel von Nord Stream 2 eine Schwächung der Ukraine sei. Dass deutsche Spitzenpolitiker die eindeutige Radikalisierung Russlands nach innen und nach außen lange nicht zur Kenntnis nehmen wollten, löst noch heute Irritation aus.

Dabei steht außer Frage, dass die deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte von großen Teilen der Gesellschaft mitgetragen wurde. Selbst als der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Oktober 2015 dem russischen Diktator dafür dankte, dass er sich "trotz des Konflikts in Syrien" Zeit für ihn nehme, gab es keinen großen Aufschrei. Freilich lässt sich die Frage nicht beantworten, ob Teile der Öffentlichkeit auch schon vor Februar 2022 für ein entschiedeneres Vorgehen gegen Russland zu gewinnen gewesen wären, wenn die verantwortlichen Politiker:innen die Bedrohung, die von Russland für Europa ausgeht, präzise formuliert hätten. Schließlich war es bis zur Totalinvasion Russlands in die Ukraine auch politischer Konsens, dass Deutschland keine Waffen an die Ukraine liefert. Als sich der damalige Parteivorsitzende der Grünen, Robert Habeck, im Mai 2021 für eine militärische Unterstützung der Ukraine mit "Defensivwaffen" aussprach, zog er Kritik aus allen politischen Lagern auf sich, nicht zuletzt aus seiner eigenen Partei.

Ob eine frühzeitige und entschiedenere Aufrüstung der Ukraine durch die Europäische Union und die Vereinigten Staaten Putin von seinem Totalangriff auf die Ukraine hätten abhalten können, lässt sich schwer beantworten. Fest steht aber, dass die Russlandpolitik Deutschlands auf Fehlwahrnehmungen und Falschannahmen beruhte – und dass an ihnen selbst nach dem eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands auf europäischem Boden 2014 festgehalten wurde. Die Abhängigkeit von russischen fossilen Energieträgern wuchs in den Jahren danach sogar noch und wurde nicht geringer. Und selbst als Putin russische Truppen an den Grenzen der Ukraine konzentrierte, er dem Land offen sein Existenzrecht absprach, seine Staatlichkeit als "historischen Fehler" bezeichnete und die amerikanischen und britischen Geheimdienste vor einem unmittelbar bevorstehenden Einmarsch warnten, nahm kaum jemand die Bedrohung ernst. Dies schloss den amtierenden Bundeskanzler ein: Noch im Dezember 2021 weigerte er sich, vom "rein privatwirtschaftlichen Projekt" Nord Stream 2 abzurücken.

Historische Blindstellen

Die Russlandfixiertheit der deutschen Außenpolitik hatte auch zur Folge, dass die Ukraine als eigenständiges Subjekt lange Zeit kaum ernst genommen wurde. Vom deutschen Außenministerium wurde sie eher als Störfaktor der deutsch-russischen Beziehungen wahrgenommen: Im erwähnten Interview im Dezember 2014 beispielsweise sprach der damalige Außenminister Steinmeier nicht nur von der Notwendigkeit, an den Traditionen der Ostpolitik festzuhalten, sondern auch von seinem unbedingten Wunsch, zu guten Beziehungen zwischen Russland und Deutschland zurückzukehren. Die Ukraine taucht hier lediglich als Ort der "Ukraine-Krise" auf – und letztlich auch als Auslöser von Russlands Krieg, den Steinmeier aber nicht beim Namen nannte. Bei den Protesten auf dem Maidan sei es zur "Eskalation" gekommen, nun gehe es darum, die "Spirale der Gewalt" zu stoppen. Dabei nannte er den russischen Angriff keinen Angriff und den Krieg keinen Krieg, und zudem suggerierte er eine beidseitige Verantwortung für die "Ukraine-Krise", die mit der Realität wenig zu tun hatte. Trotzdem nahm er für sich in Anspruch, eine "ehrliche Analyse der Realität" zu leisten. Dass in den Folgejahren die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas noch weiter erhöht, 2015 der Verkauf deutscher Gasspeicher an das russische Staatsunternehmen Gazprom abgesegnet und parallel für eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland geworben wurde, vervollständigt dieses Bild.

Es ist gut möglich, dass auch eine andere deutsche Russlandpolitik, die sich stärker an Realitäten und nicht an Wunschbildern orientiert hätte, den Einmarsch Russlands in die gesamte Ukraine nicht hätte verhindern können. Die deutsche Blindheit hat aber höchstwahrscheinlich dazu beigetragen, Putins Bild vom schwachen Westen zu bestärken – und dürfte ihm die Entscheidung zur Totalinvasion zumindest leichter gemacht haben. Aber es geht eben nicht nur um Russland. Es geht um die Menschen in Polen, in den baltischen Staaten und vor allem in der Ukraine. Die Ukraine ist zum zweiten Mal Schauplatz eines genozidalen Krieges, das letzte Mal war das nationalsozialistische Deutschland der Angreifer. Die Moskau-Fixierung deutscher Politik und das Ignorieren der Warnungen aus Ostmitteleuropa in den vergangenen Jahren haben die Menschen dort – gerade in Anbetracht der Gewaltgeschichte Deutschlands in Osteuropa und der starken Erinnerung an einen gemeinsamen deutsch-russischen Imperialismus – enttäuscht und große Zweifel an der Zuverlässigkeit Deutschlands gesät. Die zögerliche Politik der Bundesregierung im Hinblick auf schnelle Waffenlieferungen an die Ukraine und die unklare Kommunikation von Deutschlands Position gegenüber Russland haben auch nach der "Zeitenwende" dazu beigetragen, den Ruf Deutschlands in Ostmitteleuropa zu schädigen. Vor allem aber wurden der Ukraine so Waffen vorenthalten, die sie zur Selbstverteidigung dringend benötigte. Es hätte Alternativen zu dieser Entwicklung gegeben.

ist promovierte Historikerin und Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas und Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München.
E-Mail Link: franziska.davies@lrz.uni-muenchen.de